In der Alten Zeit, der Betonmauerzeit, die Grenzen eng, der Himmel weit, da sind an der Innengrenze Kinder gestorben. Im Archiv gibt es Fotografien. Schwarz-weiß. Hier leben die Kinder noch, aber die Todesursache steht schon darunter.
Holger, 15 Monate alt. Erstickt.
Die Alten haben ihre Kinder, wie gesagt, üblicherweise sexuell gezeugt. Üblicherweise hatte ein Kind eine Mutter und einen Vater. Die Kinder sind im Körper ihrer Mutter herangewachsen, zehn Monde lang, bis sie selbstständig atmen konnten. Dann hat die Mutter sie geboren. Aber auch nach der Geburt konnten diese Kinder noch nicht allein überleben. Nicht essen, nicht laufen, nicht sprechen. Nur atmen konnten sie selbst.
Holgers Vater hatte schon als Siebzehnjähriger zu fliehen versucht, übers Meer. Zur Alten Zeit gab es keine Mauer am Meer. Es gab Sandstrände. Die Menschen durften da sitzen, spazieren und sogar im Wasser schwimmen.
Nur zu weit hinausschwimmen durftest du nicht. Wie weit zu weit war, konntest du nicht eindeutig erkennen. Es gab keine Markierung. Es gab Patrouillenboote. Es gab bewaffnete Soldaten. An klaren Tagen konnte man wohl bis zum nächsten Festland sehen.
Der Versuch des Vaters misslang. Damals war er noch kein Vater.
Klaus. Er hieß Klaus.
Der nächste Versuch dann, mit Kind und Mutter, steht als geglückt im Archiv vermerkt. Sie sind angekommen auf der anderen Seite. Mutter und Vater haben überlebt. Ingrid und Klaus.
Waren sie noch Mutter und Vater? Oder endet das mit dem Tod des Kindes?
Friedrich hat mir von Dädalus erzählt: Er ruft noch den Namen seines Sohnes, da ist er schon kein Vater mehr. Aber diese Geschichte ist nur ausgedacht, daraus lässt sich nichts ableiten für Holgers Eltern.
In der Staatsbibliothek gibt es Zeitungen, Papier, ein Vermächtnis der Alten: Wir würden das nie wieder tun.
Sie haben es bereut.
»Mein Kind!«, soll Ingrid gerufen haben. »Mein Kind!« Da war es zu spät.
Friedrich erzählt es trotzdem als Heldengeschichte: Sie wollten, dass ihr Kind in Freiheit aufwächst. Sie haben etwas gewagt, und sie hatten einen guten Plan. Es war nicht ihre Schuld. Sie hätten es auch bereut, wenn sie das Kind zurückgelassen hätten. Sie hätten es auch bereut, wenn sie es gar nicht erst versucht hätten. Wenigstens haben sie es versucht, sagt er. Es hätte auch gut gehen können, sagt er. Ob etwas eine Heldentat sei, hänge nicht vom Gelingen ab, es dürfe gar nicht davon abhängen.
Es hätte auch gut gehen können.
Ein Freund wollte sie nachts, in Kisten versteckt, mit einem Lastwagen über die Grenze bringen. Der Vater in einer Kiste, die Mutter und das Kind in einer anderen.
Es war Winter. Es war kalt. Das Kind war krank. Bronchitis. Ein griechisches Wort.
An der Grenze gab es Kontrollen. Das war der gefährlichste Teil. Bewaffnete Soldaten. Nur keinen Laut. Das Kind durfte nicht weinen jetzt. Nicht husten und nicht weinen.
Die Kontrolle dauerte länger, als sie erwartet hatten. Nur keinen Laut. Die Mutter hielt dem Kind den Mund zu. Fest, mit der Hand.
Die Kontrolle dauerte. Sie hielt ihm den Mund zu. Sie wurden nicht entdeckt.
Geglückt, steht im Archiv.
Die Mutter hatte nicht bedacht, dass ihr krankes Kind durch die Nase nicht atmen konnte. Als sie ankamen, rührte es sich nicht mehr.
Mein Kind!
Sie hätten auch bereut, es nicht versucht zu haben. – Ja. Aber wie sehr? Wie sehr hätten sie es bereut?
Es hätte auch gut gehen können. – Ja. Aber muss man es nicht vom Scheitern her betrachten? Von der Möglichkeit des Scheiterns ausgehen?
Wir würden das nie wieder tun.
Else erzählt die Geschichte anders: »Weißt du, Lola, es war ja nicht so, als hätten ihnen Tod, Hunger, Gefängnis, Krieg oder so etwas gedroht. Man hätte dort schon leben können. Nicht glücklich vielleicht in ihrem Fall, aber auch nicht miserabel. Sie hatten Verantwortung. Sie hätten das nicht riskieren dürfen. Für sich selbst, ja. Aber nicht für das Kind.«
Es gebe schon Situationen, in denen man keine Wahl habe, findet Else. Als Beispiel nennt sie eine andere Flucht, ein anderes Kind, eine andere Zeit: Alte Zeit, verwebte Zeit, die Fäden so dicht, der Himmel so weit und unten im Meer die Außengrenze. Auch davon gibt es ein Foto im Archiv. Die Alten haben das Bild in ihre Zeitungen gedruckt, in Farbe. Es war ihnen wichtig. Rot und blau. Hier steht die Todesursache nicht darunter, denn es ist offensichtlich: Das Kind auf dem Bild ist ertrunken. Es ist nass und liegt auf dem Bauch. Die Kleidung rot und blau. Der Körper so klein. Der Kopf so groß. Die Hände. Der Strand. Die Schuhe.
Die Mutter dieses Kindes und ihr anderes Kind sind auch ertrunken, aber davon gibt es kein Bild.
Ich weiß nicht, wie ich diese Geschichten erzählen soll. Jede Saison versuche ich es aufs Neue, es glückt mir nie.
»Du musst es versuchen, Lola«, sagt Friedrich, »diese Geschichten sind wichtig. Deswegen kommen die Fremden, damit wir ihnen das erklären. Wer diese Geschichten nicht versteht, kann diesen Ort nicht verstehen.«
»Es ändert nichts, egal, wie du das erzählst«, sagt Wilhelm, »es ist vergangen, du kannst nicht wissen, worum es den Alten ging, das musst du auch gar nicht, dass du überhaupt hier bist, ist entscheidend, das reicht. Den Rest machen die Übersetzer.« Und wahrscheinlich hat er recht, denn die Fremden sehen mich jedes Mal auf die gleiche Weise an. Mitleid und Schrecken, und zum Glück ist das alles vorbei.
Mit den Schiffen kommen keine Kinder.