Wir reiten mit Fackeln durch die Nacht nach Westen.
Die Nächte des Sommers gehören uns.
Normalerweise bleiben wir auf der Kerninsel, bringen die Pferde im Marstall unter und versammeln uns dann gegenüber im Schloss. Heute aber haben Else und Alexander darauf bestanden, dass wir alle nach Charlottenburg kommen. Sie wollen nach ihren Pflanzungen sehen und uns zeigen, was sie alles geschaffen haben im Winter.
Die Pferde schnauben schwer, neben uns haben sie noch an den Opfergaben zu tragen, Früchte, Brot und Wein, Wein vor allem, es soll ein Fest werden.
Den ersten Teil des Ritts verbringen wir schweigend. Den ganzen Tag haben wir für die Fremden gesprochen und gesungen, nun hören wir der Nacht zu, und alle paar Meter nehmen wir einen Schluck vom Opferwein.
Hinter dem sechssäuligen Tor erstreckt sich der große Garten. Die Alten haben dort gejagt. Zwischen den Bäumen raschelt es. Die wilden Tiere der Stadt bevorzugen das ungesicherte Gebiet, manche leben hier im Garten, instand gehalten sind nur die zwei Achsen, die das Dickicht spalten, Ost-West und Nord-Süd. Ein Fuchs kreuzt unseren Weg, blickt mit weiten Augen in die Flammen unserer Fackeln, verharrt so, mitten auf der Achse, und verschwindet dann zwischen den Schatten der Bäume. Ich murmle ihm einen Gruß hinterher. Über den Baumwipfeln das Flügelschlagen der Krähen, links im Gehölz die Geräusche von etwas Großem, Wildschweine vielleicht.
Manchmal stelle ich mir bei solchen Geräuschen vor, das sei die alte Lola, Friedrichs Lola, die durchs ungesicherte Gebiet streift. Vielleicht stellt Friedrich sich das auch vor, er blickt sich um, ängstlich sieht er aus, als vermute er im Dickicht ein Gespenst.
Ich verlangsame den Lauf meines Pferdes, lasse die anderen an mir vorbeiziehen und werfe eines der Opferbrote ins Gebüsch, in Richtung des großen Geräuschs.
An der Säule in der Mitte des Gartens drehen wir eine Ehrenrunde für Else, der Wein wirkt schon, wir lachen und grüßen Elses große goldene Schwester an der Spitze, Gold’ne Schwester, sei gegrüßt, gold’ne Schwester, wache über uns, dann führt unser Weg aus dem Garten hinaus, durchs Charlottenburger Tor, und ein paar Hundert Meter weiter biegen wir schon ab, auf die letzte große Gerade.
Je näher wir dem Schloss kommen, desto energischer treibt Else ihr Pferd an. Sie ist es auch, die als Erste zu sprechen beginnt.
»Das machen wir viel zu selten. Ihr solltet wirklich viel öfter zu uns kommen, auch im Winter mal! Den ganzen Winter sind wir kein einziges Mal bei uns zusammengekommen«, und so weiter, und dann sind wir da.
Die Pflastersteine auf dem Vorhof glänzen, die Kuppel des Schlosses hebt sich wie ein Schatten in die Luft, im Hintergrund können wir die Mauer erahnen. Else und Alexander springen vom Pferd, geschmeidig, ihre Bewegungen sind aufeinander abgestimmt, Lasten abladen, Pferde abreiben, in die Koppel führen, füttern, tränken, sie wissen genau, was zu tun ist, Gepäck schultern.
»Hier, Friedrich, das passt noch unter deinen Arm, Lola, du hast noch eine Hand frei, so, und jetzt willkommen und alle hoch in den Festsaal!«
Und dann sitzen wir da, Kerzen, Parkett, Seidenkissen, Früchte, Brot und Wein. Ich lehne mich zurück und höre, was die anderen von ihrem Tag erzählen.
Friedrich war mit seinen Fremden im Spreebogen unterwegs. »Ich hasse das«, sagt er. Er ist aufgestanden, wir anderen lagern in den Kissen und hängen an seinen Lippen. »Die haben nur Augen für die Große Halle, für nichts sonst. Dann stehen sie da und kommen aus dem Staunen nicht mehr raus, dabei ist sie einfach nur groß.«
Dreihundertfünfzehn mal dreihundertfünfzehn Meter in der Grundfläche, dreihundertzwanzig Meter hoch und innen Platz für einhundertachtzigtausend Menschen. Die Kuppel hängt über der Stadt wie eine Glucke über dem Nest. Die Alten hatten Bedenken, dass es in dieser Halle regnen könnte, wenn sie voll besetzt ist. Wenn einhundertachtzigtausend Menschen atmen, dann kondensiert das an der Decke und kommt als Regen wieder runter. Die Halle war nie voll besetzt. Die Halle wird nie voll besetzt sein. Es kommen immer nur hundert auf einmal, und in Friedrichs Gruppe waren es nur zwanzig. Und natürlich wollten sie, dass er sich in die Führerloge stellt. Das wollen sie immer, von uns allen.
»Wie ich das hasse«, sagt er. »Ich versuche dann zu erklären, dass das alles eine Fehlkonstruktion ist, ich erkläre ihnen, dass sie mal darauf achten sollen, wie klein und unwichtig ich in dieser riesigen Loge aussehe«, beim Reden deutet er mit seinen Fingern in der Luft herum, vielleicht auf unsichtbare Feinde, sein Gesicht rötet sich, »aber sie winken nur und jubeln. Ich hasse das«, sagt er und lässt Arme und Kopf hängen.
Du liebst das, denke ich, deswegen erzählst du uns davon. Ich juble ihm zu, wie die Fremden es tun, und er lacht und lässt sich neben mich aufs Kissen fallen und lässt zu, dass ich ihm nachschenke, und wo ich schon dabei bin, schenke ich allen nach. Der Wein ist schwer und schmeckt nach Gewürzen.
»Weißt du, Friedrich«, Alexander beugt sich zu ihm und fasst ihn an der Schulter, »weißt du, du musst deine Rolle einfach genießen. Du bist dafür gemacht. Wir alle sind dafür gemacht! Kommt, meine ewigen Geschwister«, ruft er, »kommt, singt mit mir, singt das Märchen von der Brüderstraße!«
»Ach, nein, nicht das«, ruft Else, aber da fängt er schon an, er ist aufgestanden, hat Else zu sich hochgezogen, umfasst ihre Taille mit links, mit rechts hebt er sein Glas und singt:
In der Alten Zeit, der goldenen Zeit,
die Witterung mild und der Himmel noch weit, und ohne Namen war die Straße hier,
und es lebten da der Brüder vier.
Ein Versprechen hatten sie einander gegeben:
in Frieden und in Ruhe zusammenzuleben.
Doch Frieden und Ruhe, bedenkst du’s genau,
fordern ein Leben ganz ohne Frau.
Zwietracht und Neid rühr’n her vom Weibe,
und hältst du es dir nicht vom Leibe,
den Keil wird’s in die Freundschaft treiben.
So schworen sie treu sich, stets ledig zu bleiben.
Doch was geschehen musste, ihr ahnt es, geschah.
Ist Tugend fern, ist der Teufel schon nah.
Ein Mädchen wie der junge Tag,
Bruder um Bruder ihr erlag.
In Liebe entbrannt,
verwirrt und verrannt,
verloren das Herz, verloren der Kopf.
Schon greift Bruder Bruders Schopf,
schon drückt einer den ander’n zur Wand,
schon blitzt das Messer in der Hand,
schon schäumt der Hass, schon schäumt die Wut,
gleich fließen Tränen, gleich fließt Blut,
gleich ist’s nicht mehr gutzumachen,
da hat der Jüngste ein Erwachen.
Brüder, ruft er, besinnt euch doch nur,
erinnert, bedenkt, befolgt unser’n Schwur!
Da drehn sich die Sinne, da blüht das Erbarmen,
da liegen vier Brüder sich in den Armen.
Das Weib, es war fortan verbannt,
die Straße Brüderstraße genannt.
Natürlich singen wir am Ende alle mit, auch wenn Else eine Grimasse schneidet und ich die Reime lächerlich betone und Wilhelm pantomimisch illustrativ das Erzählte mittanzt.
»Seht ihr«, sagt Alexander, »seht ihr, es geht doch auch lustig, ihr seid viel zu verkopft, kommt, wir gehen in den Garten!«
Wir leuchten den Weg mit Fackeln. Else und Alexander haben Blumenbeete angelegt, Rosen, Lavendel, drum herum Hecken, dahinter Gemüsebeete, Kartoffeln, Radieschen, Salat, außerdem drei Bienenstöcke. Es duftet und summt, die Nacht ist warm, vom Ententeich her quakt es. Wir wanken Arm in Arm dem Quaken entgegen und füttern die Enten mit dem heiligen Opferbrot der Fremden. Else kichert: »Sakrileg, Sakrileg!«
Am Belvedere machen wir Rast, Alexander öffnet die Tür und zeigt uns das Innere. Else und er haben dort eine Werkstatt eingerichtet, in der sie den Winter über an kleinen Gaben für die Fremden arbeiten, Erinnerungen an die Zeit in den Mauern, Schnitzereien, gepresste Blumen, duftende Bienenwachskerzen, kleine Schmuckstücke. Alles liegt sorgfältig ausgebreitet auf einem weißen Weihtuch. Während ich die Sachen betrachte, spüre ich Elses Blick in meinem Nacken.
Ich nehme Else das alles hier nicht ab. Das ist das Problem zwischen uns.
Else ist so schön. Wir alle sind schön. Wir sind natürlich. Wir sind perfekt. Und Else ist so schön, dass es wehtut. Alles an ihr sieht metallisch aus. Das Haar aus Platin, der Körper aus Gold und der Blick, ach, aus Stahl.
Sie wünscht sich wahrscheinlich, dass ich etwas sage, etwas Freundliches. Ich nehme ihre Hand und führe sie wieder hinaus, in den Schlossgarten, die anderen folgen uns.
Wir setzen uns ins Gras. Ich gähne. »Komm, Lola«, sagt Else und öffnet ihre Arme für mich. Ich lehne mich an sie, an ihrer anderen Seite lehnt Alexander. Else küsst mich aufs Haar. Ich drücke meine Nase gegen ihren Hals und schließe die Augen.
Hinter den Bäumen fließt die Spree. Im Norden grenzt der Garten an die Mauer, dort fließt der Fluss aus der Stadt hinaus. Er strömt im Osten herein und im Westen hinaus. Süßwasser. Rundherum der Ozean. Ich verstehe nicht, wie das gehen kann. Vielleicht gibt es den Ozean gar nicht, denke ich, aber das ist natürlich Unsinn, ich kann den Ozean rauschen hören, ich kann das Salz riechen, ich kann die Pumpen hören und die Möwen.
»Wenn sie uns fluten, geht das hier als Erstes unter«, das ist Friedrichs Stimme, ich weiß, was jetzt kommt, ich lasse die Augen geschlossen. »Das ist nicht sicher hier, und das wisst ihr. Ihr müsst höhergelegene Gebiete aufsuchen im Winter.«
»Ach, der Friedrich«, das ist Alexander, meine Augen sind immer noch geschlossen, »der Frie-de-rich, der Frie-de-rich, das ist ein arger Theoreterich.«
»Alexander, ich meine es gut mit euch, bei Kassandra haben auch erst alle gelacht, aber dann –«
Du bist nicht Kassandra, denke ich, du bist, ach, keine Ahnung, was du bist, und Kassandra ist nur ausgedacht. Dädalus und Ikarus sind nur ausgedacht. Odysseus, ach, was weiß ich, vielleicht gab es Odysseus.
»Sie fluten uns nicht«, sagt Wilhelm, »wenn sie uns fluten wollten, hätten sie das längst gemacht. Wenn sie uns fluten wollten, wozu dann der ganze Aufwand?«
»Genau darum geht es ja«, das ist wieder Friedrich, »genau darum geht es, irgendwann haben sie genug davon. Und dann werden sie Rache wollen. Ja, ich bin betrunken, aber ich habe recht.«
Ich kann Else seufzen hören. Ich muss etwas Gutes für sie tun. Es ist so schön hier, und all das hat sie gemacht. Ich muss etwas sagen.
»Das alles ist bezaubernd«, flüstere ich an ihren Hals, »und jetzt ist Sommer.«
»Sag das noch mal laut«, ruft Alexander.
Ich lasse Else los und setze mich gerade hin. »Das alles hier ist bezaubernd, und jetzt ist Sommer.«
»Ja«, auch Alexander hat sich aufgesetzt, »und weißt du, warum das so bezaubernd ist? Weil wir etwas tun! Wenn man den Winter nicht damit zubringt, im ungesicherten Gebiet herumzustreunen, dann kann man auch etwas Sinnvolles anfangen mit seiner Zeit, nicht wahr, Lola?«
Else boxt ihn in die Seite. Er seufzt und setzt hinzu: »Aber eine wie dich brauchen wir ja auch.«
»Ja«, sagt Else, »genau so eine brauchen wir auch.«
Sie küsst noch mal mein Haar, Wilhelm nickt mir zu, Else hebt ihr Glas, auch Friedrich lächelt jetzt, und wir stoßen an.