Am Tag erwähnen weder Martin noch ich, worüber wir in der Nacht gesprochen haben. Vielleicht ist alles, was ich nachts höre, ein Traum.
Am Tag übersetzt Martin, was ich sage.
»In der Alten Zeit, der Dampfmaschinenzeit, die Schornsteine hoch, der Himmel weit«, wir stehen auf dem Kreuzberg, und ich erzähle den Fremden, wie die Stadt einst ruckartig über ihre alten Grenzen hinausgewachsen ist. Sie haben sich im Halbkreis um mich herum gruppiert, ein leichter Wind bewegt ihre Gewänder und ihr Haar. Die Morgensonne beleuchtet weich ihre viel zu symmetrischen Züge.
»Industrialisierung«, sage ich, »Arbeiter«, »Mietskasernen«, »Typhus«, »Stuck«.
Von hier oben kann man rundherum über die Dächer sehen, das macht die Mauer in jeder Blickrichtung noch gegenwärtiger. Ihre Höhe ist kaum fassbar, an manchen Stellen verschwindet sie in den Wolken, vor allem morgens, wenn sie noch tief hängen. Ich erwähne die Mauer mit keinem Wort. Die Fremden wissen mehr über diese Mauer als ich.
Es ist der siebte Tag der Fremden. Halbzeit. Sie haben Zutrauen gefasst. Martin übersetzt, was sie fragen.
»Heilige Lola, gestatte die Frage, wurdest du mit deinem Wissen geboren?«
Das kam von einem Mann, der mich schon den ganzen Tag anstarrt. Natürlich starren sie mich alle die ganze Zeit an, deshalb sind sie ja hier, er aber schaut, als wisse er etwas über mich, was die anderen nicht wissen, und als dürfe er sich deshalb etwas herausnehmen. Ich kenne das schon. Hin und wieder ist so einer dabei. Sie meinen das nicht böse, sie glauben das wirklich. Unser Gesang berührt etwas in ihnen, dass sie denken, sie kennen uns. Wir müssen gnädig sein mit ihnen. Sein Kopf ist geneigt, so gelingt es ihm, mich von unten anzusehen, obwohl er etwas größer ist als ich. Auch wenn er schweigt, steht sein Mund leicht offen. Ich nicke ihm zu, zum Zeichen, dass Martin seine Frage übersetzt hat und ich sie verstanden habe. Für meine Antwort blicke ich dann in der gesamten Runde umher. Alle sollen sich gemeint fühlen und geliebt.
»Ich weiß nicht, mit welchem Wissen ich geboren wurde. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt geboren wurde. Alles, was ich heute weiß, habe ich in den Mauern gelernt.« Ich könnte noch etwas hinzufügen, ich könnte fragen, ob sie denn wissen, ob ich geboren wurde, ob sie selbst geboren wurden, ob sie eine Mutter haben, ob sie einen Vater haben, aber natürlich ist das aussichtslos, und da kommt auch schon die nächste Frage.
»Gesegnete Lola, erlaube mir, wieso dieses Kreuz auf der Spitze des Denkmals?«
»An diesem Ort zu dieser Zeit hatten die Alten einen dreigeteilten Gott. Der sterbliche Teil des Gottes ist an einem Kreuz auf einem Berg gestorben. Das Kreuz war ein Hinrichtungsgerät. Es mussten Jahrhunderte vergehen, bevor das Kreuz seinen Schrecken verlor. Die späteren Gläubigen machten es dann zu ihrem Symbol. Manche trugen es als Schmuck um den Hals, manche als Abzeichen auf der Brust. Und sie stellten solche Monumente auf, um an ihre Siege und Kriege zu erinnern, so wie hier. Das Kreuz war für sie das Zeichen, dass ihr Gott mit ihnen war, mit ihren Kämpfen und mit ihren Toten. Es war ihnen Trost und Rechtfertigung.«
Ich erzähle von den großen Kriegen der Alten, von ihren Verbrechen, von ihrer Unbegreiflichkeit, Jubel, Massenmord, Völkermord, von der Alten Zeit, der Blutbodenzeit, die Reihen geschlossen, der Himmel weit.
Ich wandere lange Wege mit meinen Fremden, den Berg hinunter, zur Luftgrenze, heute will ich mich bewegen, ich erzähle von der Alten Zeit, der Betonmauerzeit, die Grenzen eng, der Himmel weit, ich erzähle von den Panzern auf dieser Straße, sechzehn Stunden laufende Motoren, Ost und West, Nord und Süd, ich wandere mit ihnen die Luftgrenze entlang bis zum sechssäuligen Tor, ich erzähle von der Verzweiflung und Hoffnung der Alten, von ihrer übergroßen Freude, von der Alten Zeit, der Abrüstungszeit, die Hände leer, der Himmel weit, ich erzähle, soweit die Aufzeichnungen reichen, erzähle von der Alten Zeit, der verwebten Zeit, die Fäden so dicht, der Himmel so weit, ich erzähle und erzähle, der Himmel weit, der Himmel weit, der Himmel weit. Ich will gehen und erzählen, immer weitergehen und erzählen. Ich führe sie, sie folgen mir, und wenn ich ehrlich bin, sinkt auch bei mir die Furcht, auch ich fühle mich ihnen nahe, auch ich will sie berühren, ihre strahlende Haut.
Manchmal kreuzen unsere Wege die einer anderen Gruppe. Heute sehe ich Wilhelm, er steht zwischen den Domen am Gendarmenmarkt und erzählt etwas über Migration und wie die Stadt nicht überlebt hätte ohne Einwanderer. Hugenotten. Während sein Übersetzer übersetzt, hat er einen Augenblick, um mir zuzugrinsen.
Mittags lassen wir uns nieder für ein Picknick. Fünf Dienstfertige erwarten mich und meine Gruppe auf der Fischerinsel. Sie haben bunte Tücher auf dem Gras ausgebreitet und allerlei darauf angerichtet, silberne Schüsseln mit Früchten, Nüssen, Gebäck. Sie haben Wasser aus dem Fluss geschöpft und füllen unsere Becher, während wir essen. Die Übersetzer essen nicht.
Die Fremden scheuen vor den Übersetzern zurück. Ich weiß nicht, ob aus Ekel, Angst oder Höflichkeit. Sie weichen ihnen aus, ohne hinzusehen, und sie vermeiden den Blick ins Visier.
Aus technischer Sicht müsste sich das Übersetzen auch anders lösen lassen. Sogar vom Schiff aus. Wir hören die Stimmen der Übersetzer ja über das Ohrstück. Die Fremden tragen ebenfalls Ohrstücke. Wenn es nur um die Kommunikation ginge, wäre es nicht nötig, dass die ganze Zeit ein Übersetzer dabeisteht. Es muss also um Kontrolle gehen, sagt Friedrich. Wahrscheinlich sind sie bewaffnet, sagt Friedrich.
Vielleicht, denke ich. Vielleicht sind sie bewaffnet. Vielleicht zu unserem Schutz, denke ich. Die Fremden können manchmal zudringlich werden, manchmal sind sie so bewegt, dass sie den Abstand vergessen.
Ich kann mich an meine Ankunft nicht erinnern. Meine Erinnerungen setzen erst in der Festung ein. Vielleicht kannte ich die Übersetzer ja auch schon früher. – Aber wäre ich dann so erschrocken? Vielleicht. Vielleicht hat mich nur die Unsichtbarkeit erschreckt. Vielleicht kannte ich sie einmal ohne Visier.
»Ich will auch so einen Metaanzug«, sage ich. Martin übersetzt, die Fremden lächeln und nicken. »Dann könnte ich mich unsichtbar machen und mit euch gehen«, sage ich. Die Fremden warten auf die Übersetzung, dann lächeln sie und nicken. »Du übersetzt nicht, was ich sage, oder?«, frage ich. »Ich übersetze, was du meinst«, sagt Martin, »sodass sich der Sinn mitteilt, nicht jeder Witz ist wörtlich übertragbar.«
»Ich mache keine Witze«, sage ich. Martin lacht.