Zuerst höre ich es gar nicht selbst. Ich merke nur, dass etwas nicht stimmt, weil Martin so verzögert reagiert.
Wir stehen vor der instand gehaltenen Ruine im Westen. Ich erzähle, wie die Menschen, die hier wohnten, gegen den Bau dieser Kirche protestierten und dann, sechsundsechzig Jahre später, als sie abgerissen werden sollte, für ihren Erhalt.
»Denkmal«, sage ich, »Krieg«, sage ich, »Frieden«. Die Fremden nicken nicht.
Ich erzähle, dass die Alten die Glocken aus Kriegswaffen gemacht haben, eingeschmolzen, umgegossen, erzähle, wie die Wölfe im Zoo heulten, als diese Glocken zum ersten Mal läuteten. Dass beim übernächsten Krieg die Glocken wieder zu Waffen geschmiedet wurden. Die Fremden nicken nicht, und sie lächeln nicht. Manche murmeln etwas, ihre Blicke streifen herum.
»Martin?«
»Ja. Ich bin da.«
»Martin, was ist los?«
»Es ist nichts, es ist gut.«
»Übersetzt du?«
»Ja. Ich übersetze.«
Jetzt scheint er tatsächlich zu den Fremden zu sprechen, sie bringen ihre Gesichter unter Kontrolle, sie sehen mich an und nicken.
Ich pausiere meine Erzählung, damit Martin Zeit hat, seine Übersetzung nachzuholen, und da höre ich es, entfernt, aber deutlich: Rufe in der Sprache der Fremden, sie werden lauter, nähern sich aus östlicher Richtung, vom Generalszug her. Dort ist Wilhelm mit seiner Gruppe unterwegs. Geschrei, die Stimme einer Frau, schnelle Schritte, dann Rufe aus vielen Kehlen.
»Martin, was ist das?« Martin schweigt.
Die Fremden reißen die Augen auf, manche auch die Münder, ich drehe mich um und sehe, was sie sehen.
Eine der Fremden rennt auf uns zu, ihr Haar gelöst und wirr im Wind, im Laufen reißt sie sich das Gewand vom Leib, nackt läuft sie weiter, auf der Innenseite des Stoffes wird eine Schrift sichtbar, ich kann nicht lesen, was da steht. Die Frau ruft etwas, hinter ihr der Rest der Gruppe und Wilhelm, der auch ruft: »Halt!«
Die Fremden murmeln, Martin schweigt.
Die Frau läuft weiter, direkt auf mich zu, sie muss ungefähr in meinem Alter sein, sie ist ein wenig größer als ich, sie sucht meinen Blick, ihre Augen sind fast schwarz, weit aufgerissen, sie breitet ihr Gewand vor ihrem Körper aus, mit der Schrift nach außen.
Ich kann diese Schrift nicht lesen, nicht einmal Buchstaben identifizieren, es sind andere Zeichen als die, die uns die Alten überliefert haben. Schön sieht die Schrift aus, die Schwünge umschlingen sich. Zwei große Ausrufezeichen kann ich erkennen, sonst nichts.
Die Fremde sieht mir direkt in die Augen, sie hält weiter ihr Gewand mit der Schrift und ruft. Es sind immer wieder dieselben Worte, ich kann sie nicht verstehen. Ich glaube, meinen Namen herauszuhören. Aber vielleicht sind es nur die Silben, Lo-La, das ist eine ganz einfache Kombination, die es sicher auch in der Sprache der Fremden gibt. Was sagt sie?
»Martin, was sagt sie?« Martin schweigt.
Die Fremde steht jetzt direkt vor mir, eine Sekunde, zwei, dann umringen sie die anderen, meine Fremden und Wilhelms, weiße Gewänder. Sie schirmen die Nackte vor mir ab, aber sie berühren sie nicht, die Nacktheit lässt sie Abstand halten. Jemand entreißt ihr den Stoff, sie ruft weiter, immer weiter, immer lauter, schreit. Lo. La.
Wilhelm hat sich neben mich gestellt, er legt seinen Arm um mich. »Alles klar?« Ich nicke. Ich schüttle den Kopf.
Die Nackte schreit noch einmal die Worte, dann einen langen, wütenden Laut, heiser schon, dann verstummt sie und wirft sich gegen den Ring aus Körpern und Gewändern, sie stößt und tritt, stöhnt dabei, und tatsächlich, die anderen Fremden weichen zurück, und die Nackte rennt los, über den Platz.
Ihr Kopf dreht sich fast unmöglich weit, hin und her, von drei Seiten kommen Dienstfertige herbei, sie bewegen sich beinahe lautlos, zügig, aber ohne Hast. Die Nackte rennt. Einmal noch blickt sie sich um, sie sieht Wilhelm an, dann mich, auch ihren Blick kann ich nicht lesen, dann rennt sie weiter, die Dienstfertigen folgen ihr. Es sind viele, vielleicht dreißig oder vierzig, niemand spricht.
Die Fremden sammeln sich um Wilhelm und mich, sie sehen uns an, murmeln, schweigen, sie erwarten, dass wir etwas sagen, auch Martin ist nun wieder in meinem Ohr.
»Es ist gut«, sagt er, »es ist gut, schöne Heilige. Bitte verzeih diese Lästerung. Du wirst nun nicht mehr gestört werden. Erzähle. Erzähle von den Glocken, erzähle von den Wölfen, vom Frieden.«
Alle Blicke auf mir. Ich löse mich aus Wilhelms Arm und nehme seine Hand. »Komm«, sage ich. Wilhelm senkt den Kopf und kommt.
Wir laufen den Dienstfertigen hinterher. Sie verfolgen die Flüchtige, geben sich aber keine Mühe, sie einzuholen. Sie haben die Frau im Blick, wie sie Richtung Kanal rennt, wie sie die Brücke überquert.
Die Fremden folgen Wilhelm und mir, auch wir überqueren die Brücke, laufen weiter, und gemeinsam beobachten wir, wie erst die Nackte, dann die Dienstfertigen im großen Garten verschwinden.
Als wir den Rand des Gartens erreichen, sind sie im Unterholz nicht zu entdecken. Ein paar Meter wage ich mich ins Gehölz, die anderen warten auf dem gesicherten Weg, Martin schweigt, ich sehe mich um, aber das Dickicht verbirgt alles. Wind in den Blättern. Die Baumwipfel rauschen. Hier und da höre ich ein Knacken, doch das könnte auch von Tieren kommen. Irgendwo links flattert ein Vogel auf, ich höre das Flügelschlagen. Meine eigenen Schritte rascheln und knacken. Entfernt ein Specht. Zweige streifen mein Gesicht. Wir sollen das ungesicherte Gebiet meiden. Und anders als im Winter sind die Regeln zu beachten.
»Lola«, ruft Wilhelm, ich habe noch nie Angst in seiner Stimme gehört, »Lola, bitte!« Ich kehre um.
Am Abend wird Friedrich behaupten, Schüsse gehört zu haben.