»Ich habe Schüsse gehört.«

Wilhelm und ich haben die anderen mit dem Echo zur Kerninsel gerufen. Sie sind alle gekommen, mit besorgten Gesichtern.

Die Fremden und die Übersetzer sind wieder auf dem Schiff, unsere Ohrstücke haben wir abgelegt. Was mit den Dienstfertigen und der Nackten ist, wissen wir nicht. »Sorge dich nicht«, mehr hat Martin nicht gesagt.

Wir haben ein Feuer im Lustgarten gemacht und sitzen drum herum. Über uns Vollmond und über den Büschen Glühwürmchen. Es ist ein bisschen wie früher.

»Ich habe Schüsse gehört«, Friedrich beharrt darauf.

Erwähnt hat er das allerdings erst, nachdem Wilhelm und ich erzählt hatten, was passiert ist. Und wir wissen alle, wie Friedrich ist. Er dramatisiert. Er sucht Beweise für seine Theorien. Kassandra und so weiter.

Else ist ganz meiner Meinung. »Ich glaube nicht, dass die Dienstfertigen bewaffnet sind. Und überhaupt, warum sollten sie denn eine nackte, unbewaffnete Frau erschießen? Noch dazu, wenn sie dreißig oder vierzig Leute dahatten. Sie werden sie beruhigt und aufs Schiff eskortiert haben.«

Else nickt Friedrich zu, aber er hört nicht auf. »Es ist doch ganz offensichtlich, dass sie uns warnen wollte! Sie wurde verfolgt. Und ich weiß, was ich gehört habe. Das können nur Schüsse gewesen sein. Das müssen wir doch ernst nehmen. Was braucht es denn noch, damit ihr das endlich ernst nehmt, sie wollte uns warnen, es war eine Nachricht an uns, sie hat Lola gerufen.«

»Ja«, sage ich, »die Silben kamen vor. Aber ob das eine Warnung sein sollte, können wir nicht wissen.«

Alexander nickt. »Es muss ja auch nicht alles immer etwas bedeuten. Vielleicht ist sie durchgedreht. Und natürlich haben sie dafür zu sorgen, dass sie die Stadt verlässt bei Sonnenuntergang, wie alle anderen auch. Wenn man es so sieht, ist nichts

Er lacht, Else stimmt ein. »Was immer Lola will, Lola kriegt’s«, singt sie, der Rest geht in ihrem Gelächter unter.

»Vielleicht haben sie die Nackte auch gar nicht gefunden«, sage ich. »Sie könnte sich im Dickicht verborgen haben. Vielleicht ist sie nicht auf dem Schiff, vielleicht ist sie noch im großen Garten.«

Vielleicht sucht sie die alte Lola, denke ich. Vielleicht ging es um sie. Oder um uns beide. Vielleicht hat Friedrich recht. Vielleicht weiß Wilhelm mehr als wir anderen, sein Gesicht leuchtet vom Feuer.

»Warum hast du mich zurückgerufen, als ich in den Garten gegangen bin?«

»Du bist in den Garten gegangen?« Else reißt die Augen auf. »Du bist vor den Fremden und Übersetzern ins ungesicherte Gebiet gegangen?«

»Nur ein paar Meter«, sage ich, »dann hat Wilhelm gerufen. Warum hast du mich gerufen?«

Wilhelm stochert mit einem Stock im Feuer herum. Er zuckt mit den Schultern, dann blickt er auf, sein Gesicht flackert, er sieht Friedrich an, dann mich. »Ich hatte Angst um dich.«

»Nichts ist passiert. Sie ist mitgelaufen, hat zugehört, wie alle anderen auch, und dann hat sie auf einmal angefangen zu schreien.«

Else seufzt. »Uns kannst du es doch sagen. Hast du ihr schöne Augen gemacht? Hast du sie geküsst? Oder mehr? Vielleicht hat sie das aufgewühlt?«

Wilhelm wirft den Stock ins Feuer. »Nein.«

Den Fremden ist es nicht erlaubt, uns zu berühren. Wilhelm lädt trotzdem manchmal dazu ein. Während der Rest seiner Gruppe sich etwas anschaut, wirft er einem schönen Mann oder einer schönen Frau seinen Blick zu, und dann verschwinden sie unbemerkt im Schatten einer Nische oder hinter einer Tür. Für den Rest ihrer Zeit in den Mauern haben diese Fremden dann ein Leuchten im Blick, wenn sie ihn ansehen. Die Übersetzer schweigen dazu.

»Es ist nun mal auf‌fällig, dass das ausgerechnet bei dir passiert ist«, sagt Else, »das musst du doch zugeben.«

Zugeben, denke ich, meine Güte, nur weil Wilhelm etwas macht, was ihr euch nicht traut. Gleich fängt Friedrich noch mit seiner Spitzeltheorie an.

Ich nehme Wilhelms Hand, Friedrich sieht das und nickt.

»Das Allermerkwürdigste war, wie sich die Dienstfertigen bewegt haben«, sage ich. »Das sah aus wie eine tausendmal geübte Choreografie, als ob sie einem festen Protokoll folgen. Und wo sind die auf einmal alle hergekommen?«

»Vielleicht war das auch eine Inszenierung.« Friedrich spricht langsam, es ist ein neuer Gedanke, er muss ihn sich erst zurechtlegen. »Das alles, die Nackte, die Rufe, die Dienstfertigen, die Schüsse, vielleicht haben sie das, na ja, aufgeführt, um ihre Macht zu demonstrieren. Um zu zeigen, dass sie reagieren können, wenn etwas passiert, dass sie uns in den Griff kriegen, falls wir auf dumme Gedanken kommen.«

Wir schweigen. Nicken. Wiegen die Köpfe. Warum sollten wir auf dumme Gedanken kommen? Das ergibt keinen Sinn. Und überhaupt, dann könnten sie uns ja auch einfach fluten. Wir stochern im Feuer herum, Funken fliegen. Wenn sie uns behalten wollen, können sie uns nicht fluten. Wenn sie den Ort behalten wollen, können sie uns nicht fluten.

Später liegen wir alle zusammen unter der

Wir schweigen. Unsere Atemzüge gleichen sich einander an, wir sind ein einziges großes Tier.

Ich wache davon auf, dass sich etwas Dunkles über mich beugt. Es ist Friedrich, hinter ihm, über dem Fenster der Kuppel, der Mond.

»Komm«, flüstert Friedrich.

Wir setzen uns draußen zwischen zwei der Säulen. Die Luft ist warm.

»Du hast mich erschreckt«, sage ich.

»Ich bin nicht der, vor dem du Angst haben solltest, Lola.« Friedrichs Blick lässt mich nicht los.

Wir schweigen und sehen uns an, bis ich es nicht mehr aushalte. »Dann mach mir eben keine Angst«, sage ich.

Friedrich nickt. Ich rücke zu ihm hinüber, lehne meinen Kopf an seinen Hals. Ich küsse die Mondnarbe. Friedrich umarmt mich, seufzt und küsst meinen Scheitel.

Am nächsten Tag sind es wieder einhundert Fremde, aber die Frau ist nicht mehr dabei. Sie müssen sie ersetzt haben.

Das Programm geht weiter. Die Fremden nicken mit ihren schönen Gesichtern. Haben sie

Wir suchen die Gesichter ab. Sie sehen sich so ähnlich. Vielleicht kann Wilhelm erkennen, wer die Neue ist? Sie war in seiner Gruppe. Wilhelm schüttelt den Kopf.

»Was habt ihr mit der Frau gemacht?«

»Sorge dich nicht«, sagt Martin, »alles ist gut. Du darfst Vertrauen haben, schöne Heilige. Vertraue in die Ordnung, denn du selbst bist die Ordnung. Du trägst alle Ordnung und alles Wissen in dir.«