Unsere Heiligkeit geht mit Wissen einher. Nur wir haben Zutritt zur Staatsbibliothek. Wir bemühen uns zu behalten, was in den Schriften steht.
Auswendiglernen. Auswendig kommt nicht von Wand, sondern von wenden.
Du sollst wendig sein.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit’ und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Ein Nachen ist ein Boot. Ein kleines Boot, poetisch. In der Bibliothek gibt es Lexika. Goethe war Poet. Der Poet war nur einmal in dieser Stadt.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Brecht war Dramatiker. Der Dramatiker lebte in der Stadt. Sein Grab ist instand gehalten.
Der Fluss strömt an beiden Seiten durch die Mauer hindurch. Inwändig/auswändig. Auswändig liegt der Ozean. Das Wasser des Ozeans ist salzig, sagen sie. Das Wasser des Flusses können wir trinken. Wie das möglich ist, weiß ich nicht.
Unsere Heiligkeit geht mit Unwissenheit einher. »Im Paradies ist das so«, sagt Martin, »sonst ist es nicht das Paradies. Du gehörst zu den Glücklichen, Lola. Vergiss das nicht.«
Ich vergesse das nicht. Inwändig nicht und auswändig nicht.
Ich versuche, gar nichts zu vergessen. Ich versuche, das heilige Gefäß zu sein, das ich sein soll. Liebe und Wissen halte ich in mir. Ihr dürft glauben, ihr dürft hoffen, denn ich bin hier.
Ich habe den großen Globus im Zeughaus gesehen. Der Globus hat ein Einschussloch, wo einst Europa gewesen sein muss.
Wir wissen nicht, was geschehen ist zwischen der Alten Zeit und uns. Die Aufzeichnungen im Archiv reichen nicht bis zum Bau der doppelt beringten Festung. Wir singen vage von der großen Flut. Es bersten die Straßen. Aber wir wissen nichts Genaues. So seht dort die fünf, denen Rettung gewährt. Die fünf, das sind wir. Aber wer hat uns Rettung gewährt? Wir selbst? Die Fremden? Wir wissen so wenig.
Die Fremden könnten auf ihren Schiffen leben. Auf Raumschiffen. Auf fernen Planeten. Schon die Alten haben darüber nachgedacht, den Mars zu besiedeln. Ich stelle mir den Mars vor, roter Sand. Ich stelle mir prächtige Wüstenstädte vor, Türme mit goldenen Kuppeln. Ich stelle mir Dörfer vor, weiß gekalkte Häuser, würfelförmig, um einen kleinen Platz gruppiert. Gibt es Kalk auf dem Mars? Gibt es Gold?
Ich kann mir vorstellen, was ich will.
Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass die Fremden auf dem Mars leben. Glaubhafter ist, dass sie auf der Erde Kontinente vor der Flut bewahrt oder nachträglich trockengelegt haben. Friedrich hat es mir vorgerechnet. Er hat mir die Weltkarten im Archiv gezeigt, hat mir die Höhenlinien gezeigt, zehn Meter über null, dreißig, sechzig, achtzig, hundert. Friedrich hat mir die Antarktis auf den Karten gezeigt. Eisschilde. Schmelzwasser. Er hat das Volumen ausgerechnet.
Friedrich, wie er auf der Weltkarte herumtippt. Wie er auf Afrika zeigt: »Die Wiege der Menschheit, Lola.« Er geht davon aus, dass die Fremden Afrika trockengelegt haben. Vielleicht auch noch Ostasien. Durch die Trockenlegung dieser Gebiete sei der Wasserspiegel auf dem Rest der Erde noch weiter angestiegen. Friedrich glaubt, dass die Fremden diese Maßnahmen schon vor der großen Flut ergriffen haben, in Erwartung der Katastrophe. Er glaubt, dass die Fremden die Doppelmauer um die Stadt errichtet haben. Vielleicht gibt es noch andere bewahrte Orte, denke ich. Rom. Paris. Venedig. New York. Ich habe Bilder gesehen.
Friedrich glaubt, dass die Fremden uns gerettet haben. Dass sie uns zu ihren Heiligen gemacht haben, um uns zu kontrollieren und anzubeten. »Die Fremden entscheiden selbst, wen sie anbeten, Lola. Sie entscheiden, wen sie versorgen und wen sie fluten.«
Der Ort und seine Zeremonien lassen die Vermutung zu, wir seien die direkten Nachkommen der Alten. Sie lassen die Vermutung zu, die Fremden seien die Nachkommen derer, denen kein Zugang zu den Festungen der Alten gestattet war.
Friedrich glaubt daran. Er glaubt, die Fremden haben diesen Ort bewahrt und kommen, um die Wunden ihrer Ahnen zu verstehen und zu heilen. Sie reinszenieren die Geschichte als Fest, reisen an, reisen ab.
Mir leuchtet das nicht ein. Mir leuchtet nicht ein, warum sie uns anbeten sollten, wenn es so ist.
Sie geben uns ihre Anbetung, weil sie glauben, wir bräuchten das, meint Friedrich. So wie sie uns Essen geben. »Sie glauben, so unserem Naturell gerecht zu werden. Und du musst bedenken, dass sie das jederzeit sein lassen können. Und dann kippt das ganze System. Dann fluten sie uns. Aus Rache.«
Ich weiß nicht. Friedrichs Behauptungen sind nichts als Mutmaßungen. Die Fremden könnten genauso gut die Nachkommen der Alten sein. Sie könnten uns bewahrt haben und diesen Ort, um sich an ihre Herkunft zu erinnern. Das würde die Sehnsucht erklären und die Verherrlichung.
Wilhelm sagt: »Du kannst dir vorstellen, was du willst.« Vielleicht haben sie uns erfunden, denke ich.