Der Rave ist nur ein Ersatz. Ein Ersatzrausch. Wir können nicht jede Gruppe mit einem Blutfest verabschieden. Aber den letzten Abschied vor dem Winter begehen wir, wie die Alten ihn besungen haben.
Die Nacht davor verbringen wir bei den Büffeln auf der Freiheit. Das ist kein geschriebenes Gesetz, das machen wir einfach, jedes Jahr. Wir haben sie mit den Pferden vor dem östlichen Hangar zusammengetrieben. Es sind acht Kühe, fünf Bullen und sechs Kälber. Morgen wird es ein Bulle weniger sein. Else hat Blumen gesammelt, damit schmücken wir seine Hörner, wir streicheln ihn und singen für ihn.
Später legen wir uns zu den Tieren ins Stroh, auch die Büffel und die Pferde legen sich nach und nach hin, sie vertrauen uns, nur Alexanders Stute bleibt stehen und hält Wache über uns alle.
Kurz nach Sonnenaufgang beginnen alle Kirchenglocken im instand gehaltenen Gebiet zu läuten, das soll uns wecken und in den letzten Sommertag geleiten, aber wir sind schon vorher wach, niemand schläft so richtig in der Nacht vor dem Blutfest.
Drei Stunden lang läuten die Glocken, das machen die Dienstfertigen, sie sind also schon in den Mauern, die Fremden sind schon auf dem Weg.
Wenn das Geläut verklungen ist, strömen die Fremden von Norden her auf die Freiheit, hundert leuchtende Gesichter, hundert weiße Gewänder im Wind.
Heute Nachmittag werden die Gewänder rot sein.
Da, wo die Fremden leben, wo immer das ist, essen sie kein Fleisch. Fleisch ist tabu. Fleisch ist heilig. Fleisch gibt es nur bei uns und auch hier nur einmal im Jahr, zum Saisonende.
Die Dienstfertigen haben sich mit dem Rücken zu uns in weitem Abstand in einer Reihe aufgestellt und halten ein rotes Band vor sich im Wind, das ist die Markierung, die Fremden müssen dahinter bleiben, auf dem Asphalt, sie sehen zu, wie wir uns mit den Tieren auf dem Gras bewegen. Auch die Übersetzer halten Abstand, nichts soll die Tiere beunruhigen.
Es beginnt damit, dass wir den Opferbullen von der Herde trennen. Ich lege ihm den Strick um, ruhig, so wie wir ihn gestern Abend mit Blumen geschmückt haben, er schnaubt leise und freundlich, er kennt uns ja, heute Nacht lagen wir dicht an dicht. Ich bleibe an seinem Kopf stehen, das war mein Sommer, also ist das meine Aufgabe, ich füttere den Büffel mit Blumen und Klee, ich rede mit ihm, »sei ruhig, mein Freund, es gibt keine Vergangenheit, es gibt keine Zukunft, es gibt nur diesen Moment, sei ruhig, du lebst, dir schmeckt der Klee, es gibt keine Vergangenheit, es gibt keine Zukunft«, der Büffel kaut und blinzelt, während Friedrich das Ende des Stricks nimmt und ihn an den Pflock bindet.
Der Bulle lässt sich von mir zwischen den Hörnern streicheln, sein Fell ist schwarz und dicht, ich bin da, die Herde ist da, meine Stimme ist sanft, unsere Bewegungen sind ruhig, alles ist gut, den Strick beachtet er gar nicht.
Ist das Anbinden geschafft, folgt die Trennung. Der Trick ist, nicht den Opferbullen von der Herde wegzuführen, sondern die Herde von ihm.
Ich bleibe bei ihm, ich streichle seinen Kopf, ich rede mit ihm, es gibt nur diesen Moment, nur diesen Moment, auch mein Pferd bleibt bei uns, ein ähnlich großes Tier, das hilft, wir bleiben stehen in diesem Moment und im nächsten Moment, immer nur jetzt, und es ist gut, und ich streichle und rede, Klee und Blumen, während die anderen sich auf ihre Pferde schwingen und die Büffelherde auf die Rückseite des Flughafengebäudes treiben.
Als sie zurückkommen, haben sie das Messer und die silbernen Schüsseln dabei.
Es ist wichtig, meinen Puls ruhig zu halten. Mein Puls überträgt sich auf den Büffel. Mein letzter Sommer ist fünf Jahre her, es ist nicht so, dass ich das hätte üben können, nicht richtig, in der Theorie ist es nicht dasselbe. Ich muss ruhig bleiben.
»Martin?«
»Ja. Ich bin da. Ich bin bei dir, schöne Heilige.«
»Martin.«
»Es gibt nur diesen Moment. Hier und jetzt. Ich bin bei dir.«
Die Dienstfertigen werfen das rote Band in den Wind, sie übernehmen die Pferde und führen sie auf die weiten Wiesen im Südosten der Freiheit.
»Du machst das gut, Lola. Hier. Und jetzt.«
»Du machst das gut, mein Büffel. Hier und jetzt.«
Der Bulle blinzelt und atmet immer noch ganz ruhig. Friedrich hat mir erklärt, Tiere hätten kein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß nicht, wie sie das herausgefunden haben wollen.
Ein paar Hundert Meter weiter galoppieren frei die Pferde. Sie blicken nicht zu uns zurück.
»Das Messer ist scharf. Es wird nicht wehtun.« Meine Gedanken haben Martins Stimme. Woher wollen meine Gedanken wissen, ob das wehtut? Martin kann das nicht wissen. Ich kann das nicht wissen.
Else, Alexander, Friedrich und Wilhelm treten zu mir, zum Büffel, sie summen die alte Sommermelodie, auch ich summe mit, das Tier tänzelt etwas, lässt sich aber weiterstreicheln und reißt nicht am Strick.
Die Fremden haben sich an den Händen gefasst und kommen näher, langsam, nur keine Unruhe, sie machen das gut, wahrscheinlich dirigieren die Übersetzer sie über die Ohrstücke, wir alle machen das gut, ihr macht das gut, ihr Fremden, du machst das gut, mein Büffel, du machst das gut, Lola. Die Fremden halten sich immer noch an den Händen, sie formen einen Kreis um uns, etwa fünfzig Meter Durchmesser. Sobald sie alle an der richtigen Stelle stehen, lassen sie einander los.
Der Büffel bewegt die Ohren. Else reicht mir das Messer, ich nehme es mit rechts, mit links kraule ich weiter den Kopf, wir summen, wir alle fünf berühren den Körper des Büffels, wir summen, wir streicheln ihn, hier und jetzt, die Fremden schweigen, die Übersetzer schweigen.
Es muss schnell gehen jetzt. Zögern bedeutet Unruhe. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Friedrich und Wilhelm fassen den Büffel bei den Hörnern, ganz leicht nur, aber sie können auch fester zupacken, wenn es nötig wird, ich lege das Messer an die Kehle des Tieres, ich schließe die Augen und ziehe durch, so fest, so tief ich kann, mit links fasse ich ins Fell, dann lasse ich los.
Noch sind meine Augen geschlossen, noch steht der Büffel, ich weiß nicht, ob ich es richtig gemacht habe, aber da ist auch schon Martin, in meinem Kopf, der sagt: »Es ist gut, es ist vollbracht, schöne Heilige, du darfst nun ruhn.« Und dann fühle ich das Blut auf mir, es sickert warm durch mein Gewand, fließt über meine Hände, der Büffel sackt zusammen, die anderen fangen ihn auf, er ist zu schwer, sie gehen in die Knie, die Fremden jubeln, hundert Kehlen.
Kehle.
Ich öffne die Augen, Else hält den Kopf des Tieres in ihrem Schoß, Alexander, Wilhelm und Friedrich fangen mit den Silberschüsseln Blut auf. Blutströme. Kurz zuckt der Büffel noch, dann ist er still.
Die Fremden jubeln.
Ich atme ein. Ich lege das Messer ab. Ich stehe auf, ich hebe meine Hände und zeige den Fremden das Blut darauf, das Blut auf meinem Gewand, auf meinem Gesicht, mit erhobenen Händen gehe ich, ihnen zugewandt, im Kreis. Sie jubeln.
Ich sehe in ihre Gesichter. Ich schweige. Martin schweigt.
Mein Teil ist getan. Ich bleibe in der Mitte stehen, mit erhobenen Händen. Ich sehe mir den Büffel nicht an. Ich sehe mir den Kreis aus Fremden an, Gesicht für Gesicht.
Morgen vergesse ich euch.
Friedrich, Wilhelm, Alexander und Else schreiten mit den Silberschüsseln voll Blut die Runde entlang, die Fremden tauchen ihre Hände hinein und färben sich ihre Gesichter und Kleider. Manche reiben sich das Blut ins Haar.
Morgen habe ich euch vergessen.
Später sitzen wir alle um das große Feuer, die Dienstfertigen haben das Tier gehäutet und zerteilt, das Fleisch gewürzt und gegrillt. Das Blut auf unseren Gesichtern ist getrocknet. Das Fleisch schmeckt nach Eisen und Sommer, innen ist es noch blutig, die Fremden lecken sich Lippen und Finger.
Morgen habe ich euch alle vergessen. Morgen seid ihr alle weg.
Am frühen Nachmittag ist das Feuer heruntergebrannt, die Dienstfertigen löschen die letzten Glutnester mit Sand, auch die Blutlachen verschwinden unter Sand, wir rufen die Pferde herbei, sie kommen sofort, sie erkennen uns wieder unter all dem Blut, vielleicht stören sie sich nicht daran, vielleicht verzeihen sie uns.
Wir satteln auf und reiten ein letztes Mal den Fremden voran nach Norden. Wir reiten langsam, damit sie Schritt halten können, wir schweigen, die Übersetzer schweigen, es ist alles gesagt.
Am Schloss machen wir halt, steigen von den Pferden, ziehen unsere Sandalen aus und gehen die Treppe zum Wasser hinab. Die Fremden nehmen auf den oberen Stufen Platz und sehen uns zu. Währenddessen bauen die Dienstfertigen auf dem Platz zwei Zelte auf.
Das Wasser ist klar und kühl. Ich steige zügig hinein und tauche ganz unter, über meinem Kopf schließt sich die Wasserdecke, ich lasse mich zum Grund sinken, lasse den Fluss das Opferblut mit sich nehmen, dann stoße ich mich ab, zur Oberfläche zurück.
Ich tauche unter, tauche auf, unter, wieder und wieder, in meinem Gewand sammelt sich Luft, das Blut fließt fort, in Charlottenburg wird es unter der Mauer hindurchfließen, ich weiß nicht, ob es in den Ozean fließt. Ich weiß nichts über dieses Wasser, ich öffne den Mund und trinke.
Alexander hat sich auf den Rücken gelegt und lässt sich ein Stück von der Strömung tragen, dann schwimmt er mit langen Zügen zu uns zurück.
Else legt den Kopf in den Nacken, wäscht sich ihr Haar, wringt es seitlich aus, die Augen geschlossen.
Friedrich schöpft sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, es spritzt, er schnaubt und prustet. Er merkt nicht, dass ich ihn ansehe. Alt sieht er aus und müde.
Wilhelms Gesicht ist schon sauber, sein Haar liegt nun glatt wie ein Helm. Unsere Blicke treffen sich, er lächelt.
Als wir aus dem Wasser steigen, jubeln die Fremden. Sie weichen zur Seite, lassen uns passieren, küssen unsere nassen Fußspuren auf den Treppenstufen, sie jubeln, bis wir im Zelt verschwunden sind, dann können wir hören, wie sie sich ins Wasser stürzen.
Im Zelt legen wir die nassen, blutigen Sachen ab und die trockenen Abschiedsgewänder an. Wir kämmen uns, und bis die Fremden aus dem Fluss gestiegen und neu angekleidet sind, sind unsere Haare schon im letzten Sommerwind getrocknet.
Noch einmal steigen wir auf die Pferde, wir führen die Fremden zur Schleuse.
Nur noch einmal durch die Prozessionsstraße, dann vergesse ich euch. Die Löwen werden euch nicht zurückkehren lassen. Ihr werdet niemals zurückkehren.
Morgen vergesse ich euch.