»Wartet, gleich habe ich es, hier muss es sein.« Friedrich fährt mit den Fingern einen Stapel Bücher entlang, dann den nächsten, ab und zu dreht er sich zu uns um, dabei lächelt er. Er achtet darauf zu lächeln.

Wir alle haben uns in seinem Hangar versammelt. Alexander und Else haben darauf bestanden. Seit der Ankunft des Kindes verschanzt Friedrich sich hier. Das hat er zwar auch schon letzten Winter gemacht, aber diesmal ist es ernst, meint Else, und natürlich hat sie recht. Auch ich mache mir Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen, sogar Wilhelm.

Friedrich jedoch empfängt und bewirtet uns heiter. Zumindest sieht es so aus. Er hat uns Kekse hingestellt, Feuer gemacht, Tee gekocht, und nun sucht er nach einem Buch, um es dem Kind vorzulesen. Während wir darauf warten, dass er es findet, schaukeln wir abwechselnd den kleinen Friedrich. Gerade sitzt er auf Wilhelms Knien. Wilhelm wippt und summt, das Kind lacht.

»Ja, ja, gleich, ich hab’s doch gleich.«

Obwohl Friedrich unbedingt wegwill, hält er sich an den Dingen fest. Er ist ein Sammler. Auf den ersten Blick ist das nicht zu erkennen, aber alles hier hat seinen festen Platz, und fehlt etwas, bemerkt er es. Wie soll er das einmal zurücklassen?

Ich kann ihn das jetzt nicht fragen, ich darf seine Pläne nicht verraten. Unsere Pläne. Seit der Ankunft des Kindes haben wir nicht mehr darüber gesprochen.

»Ah, da ist es ja!« Friedrich dreht sich zu uns um, lächelt noch breiter und hält ein Buch in die Höhe. Dunkelblaue Buchdeckel aus Pappe, vergrauter Leinenrücken, nicht sehr dick. »Natürlich ist das wichtig«, sagt er, »der Kleine muss doch die Sprache lernen!«

Der alte Friedrich beugt sich vor und streicht dem jungen Friedrich über die Wange. Das Kind gluckst. Der alte Friedrich lässt sich auf seinen Stuhl fallen, schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen. »Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr er sich’s auch wünschte« – ich erinnere mich, wir alle erinnern uns, uns allen

Das letzte Mal, denke ich, das ist das letzte Mal, dass er uns vorliest. Ich bin nicht die Einzige, die weint, auch die anderen blinzeln. Das Kind blickt ratlos und stumm zwischen unseren Gesichtern hin und her, Friedrich aber liest weiter, ganz ruhig, wie er es immer getan hat, für uns alle.

Als das Märchen zu Ende ist, klappt er das Buch zu und sieht in unsere feuchten Augen. »Das Buch könnt ihr dann mitnehmen«, sagt er, »diesem Friedrich müsst ihr jetzt alles beibringen. Ihr macht das schon. Ihr werdet das schon alles gut machen.«

»Ach, Fritz«, Else ist aufgestanden, sie hält es nicht aus. Niemand von uns hält das aus. Sie umarmt ihn. »Ach, Fritz, wir haben doch noch Zeit!«

Einen knappen Winter noch, mehr nicht. Das Entschwinden passiert fast immer kurz vor Saisonbeginn. Ich weiß das nur aus den Schriften und den Erzählungen der anderen. Seit ich in den Mauern bin, ist noch niemand entschwunden. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Natürlich stimmt das nicht. Natürlich kann ich mir alles vorstellen. Nur wissen kann ich es nicht.

Friedrich wird nicht entschwinden, beruhige ich mich, Friedrich wird abhauen. Und ich werde ihm helfen.

»Ich bleibe noch«, sage ich, als Else zum Aufbruch mahnt, das Kind quengelt und muss bald schlafen, niemand widerspricht mir, Friedrich nicht, Wilhelm nicht und Else nicht, im Gegenteil, sie scheint beruhigt. Sie umarmt mich zum Abschied und flüstert mir ins Ohr: »Versuch, ihn morgen mitzubringen, ja? Es ist nicht gut, wenn er so einsam ist.« Ich nicke.

Sobald wir allein sind, hört Friedrich mit dem Gelächle auf. Er lässt das Lächeln fallen wie einen Mantel, nimmt meine Hände und sieht mich an.

»Bist du weitergekommen«, frage ich, »mit dem Boot?« Er nickt.

»Weißt du«, sagt er, während wir auf dem Weg durch die Keller sind, »weißt du, eigentlich ist es ganz gut, dass der neue Friedrich jetzt da ist, wer weiß, ob ich sonst jemals damit fertig werden würde. Aber unter Druck, glaube ich, bekommen wir das alles hin. Es wird gut, du wirst sehen.«

»Danke«, sagt Friedrich, »dass du mitkommst.«

Später liegen wir auf dem Bett im Hangar, Friedrich auf dem Rücken, ich halb auf ihm, mein Kopf auf seiner Brust, ich halte ihn fest, oder ich halte mich an ihm fest, ich weiß es nicht, sein Herz schlägt wie immer, auf seinem Hals der Mond.

Ich trauere um das Buch, das die anderen mitgenommen haben, ich hätte Friedrich jetzt gern etwas daraus vorgelesen.

»Friedrich?«

»Ja.«

»Wie ging dieses Märchen mit den Tieren? Diese Tiere, die sich zusammentun und abhauen, vier oder fünf, ein Esel ist dabei und ein Hahn, glaube ich.«

»Ja, genau.«

»Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn. Die Menschen, denen sie gedient haben, wollen sie umbringen, also schließen sie sich zusammen und gehen fort.«

»Etwas Besseres als den Tod findest du überall.«

»Ja.«

»Wenn es den Ozean gibt, gibt es Bremen nicht mehr.«

»Aber die Alpen, Lola, erinnere dich. Erinnere dich an die Gemälde. Die Alpen gibt es noch.«

Die Alpen sind Friedrichs Hoffnung. Er geht davon aus, dass das Gebirge als Inselgruppe aus dem Ozean ragt und unbewohnt ist. Keine Fremden, nur wir beide. Er geht davon aus, dass die Fremden ausschließlich auf den von ihnen trockengelegten Kontinenten siedeln. Er geht davon aus, dass die Angaben aus den Atlanten stimmen. Er geht davon aus, dass seine Berechnungen stimmen.

Am nächsten Morgen kocht Friedrich Tee, während ich das Paket suche. Es blinkt am nordöstlichen Ende des Flughafengebäudes beim Radarturm neben dem Rübenacker. Der Boden ist schon von Raureif überzogen, bald kommt der Frost, bald kommt der Schnee, in den nächsten Tagen werden wir ernten müssen.

Einmal habe ich versucht, ein Paket auseinanderzunehmen. Da muss ich zehn oder elf Sommer alt gewesen sein. Ich wollte die Technik begreifen, ich wollte sehen, wie der Mechanismus funktioniert, ich wollte verstehen, wie dieses Ding gebaut ist. Wahrscheinlich hoffte ich, so auch etwas über diejenigen zu verstehen, die es gebaut hatten. Else erwischte mich, sie rief Friedrich herbei, und der schimpf‌te. Schimpf‌te und schimpf‌te, so laut und so lange, dass auch Wilhelm und Alexander angelaufen kamen. »Sei dir der Gefahren bewusst, Lola! Sei vorsichtiger!« Wilhelm stellte sich zwischen uns, eine Hand auf meiner Schulter, die andere mit erhobenem Finger in Friedrichs Gesicht: »Hör auf, Friedrich. Du musst Lola Lola sein lassen.« – »Erklär du mir nichts über Lola!« Friedrichs Blick. Alexander musste dazwischengehen.

Als ich zurückkomme, sitzt Friedrich am Tisch und zeichnet und radiert an seinen Plänen herum, er murmelt und rechnet und fährt sich durchs Haar.

Nach dem Frühstück beginnen wir mit der Arbeit. Wir müssen die Belüftung überprüfen, müssen

In der Kapsel ist es eng. Zwei Menschen können ausgestreckt nebeneinander liegen, sitzen ist auch möglich. Aber aufstehen können wir nicht. Wenn das Ganze noch mit Proviant beladen ist, wird man sich kaum umdrehen können. Das Segel muss von innen bedient werden.

»Wir müssen das testen«, sage ich. »Sobald das Boot fertig ist, müssen wir das testen, und zwar alle beide. Und wir müssen üben. Ich muss das auch können, wenn ich mitkommen soll.«

»Natürlich«, sagt Friedrich, »und natürlich kommst du mit!«