»Lola, ich verstehe das. Wirklich. Ich verstehe, dass das in deiner Natur liegt und du Zeit und Raum für dich brauchst. Aber das geht jetzt nicht mehr. Nicht mehr so wie früher! Du kannst nicht den ganzen Winter im ungesicherten Gebiet herumwandern. Wir haben jetzt ein Kind. Wir haben Verantwortung. Wir alle, auch du. Du bist jetzt nicht mehr die Jüngste, die sich alles erlauben kann.«
Else läuft vor der Fensterfront auf und ab und schaukelt das Kind, während sie spricht.
Schlimm genug, dass ich daran gescheitert bin, Friedrich in den Hort der Gemeinschaft zurückzubringen, ich bin auch selbst nicht erschienen. Anderthalb Wochen lang! Das geht so nicht weiter! Und deshalb haben sie mich mit dem Echo gerufen, als wäre es ein Notfall. Sie haben sich im Schloss auf der Kerninsel versammelt und mich hierherzitiert, damit wir endlich mal besprechen, wie wir uns organisieren wollen. Das sind Alexanders Worte.
Friedrich, der alte Friedrich, ist in Tempelhof geblieben, den haben sie in Ruhe gelassen.
Wir tagen im Neubau im Ostflügel, draußen im Fluss schwimmen Eisschollen, drinnen setzt sich Else nun endlich, das Kind hält sie auf dem Schoß. Es strampelt und stößt sich von ihr ab, wieder und wieder, schließlich lässt sie es los, und der kleine Friedrich springt herunter und läuft auf Wilhelm zu, der auf dem Boden sitzt. Wilhelm breitet die Arme aus, das Kind gibt einen hellen Laut von sich und wirft sich in die Umarmung. »I-Em!« Wilhelm steht auf, wirbelt das Kind herum, wirft es hoch und fängt es wieder auf. »Ja, genau, das ist mein Name: Wil-helm.« – »I-Em!« Else und Alexander tauschen einen Blick.
Else hat keine Ahnung. Ich komme kaum noch ins ungesicherte Gebiet. Wenn ich nicht hier bin, bin ich bei Friedrich. Unter meinen Fingernägeln hängt immer noch Erde von der Rübenernte. Rübe um Rübe haben wir ausgegraben, in Kisten verladen, in den Hangar geschleppt und eingelagert. Wir haben die Büffelkühe gemolken, Käse gemacht und ebenfalls eingelagert. Vorräte. Nachts haben wir am Boot gearbeitet. Ich bin müde, mein Rücken tut weh, und meine Hände sind voller Schwielen. Aber das kann ich Else nicht erzählen, also nicke ich.
»Else hat recht«, sagt Alexander.
»Aber nun ist Lola ja hier«, wirft Wilhelm vom Teppich aus ein, das Kind klettert auf ihm herum, wühlt in seinen Haaren, hängt an seinen Schultern, »und außerdem haben wir es bis jetzt ganz gut hingekriegt, finde ich. Dem Kleinen geht’s doch bestens.«
»I-Em, I-Em«, gluckst das Kind.
»Das Kind braucht eine Struktur«, sagt Alexander, »wir alle. Wir alle brauchen eine Struktur.«
Sie wollen, dass der junge Friedrich mit ihnen nach Charlottenburg kommt. Darum geht es. Wilhelm und ich sollen dann abwechselnd zur Unterstützung dazustoßen, und einmal in der Woche sollen wir alle gemeinsam essen, am besten auch mit dem alten Friedrich, solange er noch da ist. Struktur. Verlässlichkeit.
Ausgeschlossen. Ich kann das nicht. Ich muss Friedrich mit dem Boot helfen. Wenn ich ihm nicht helfe, wird er nicht rechtzeitig fertig. Gestern ist die Nähmaschine kaputtgegangen, jetzt müssen wir den Rest des Ballons und das Segel mit der Hand nähen. Friedrich hat also auch keine Zeit, sonntags oder sonst wann in Charlottenburg anzutanzen. Wir müssen bauen. Wir müssen Vorräte anlegen. Und vielleicht muss ich ja auch wirklich mit ihm mitgehen. Vielleicht schafft er es sonst nicht. – Und vielleicht, Lola, vielleicht willst du ja sogar mit ihm mitgehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß das alles nicht.
Das Kind sieht jetzt zu mir her, es hat etwas an mir entdeckt, und nun lässt es Wilhelm los und läuft auf mich zu. Es bleibt vor mir stehen, hält sich an meinen Knien fest und legt den Kopf in meinen Schoß, lässt ihn da liegen, das ist kein Test, kein Antasten, das ist das ganze Gewicht dieses Kinderkopfes. Es verharrt einfach so, mit seinem Kopf in meinem Schoß und den Füßen auf dem Boden. Ich halte es fest, ich streichle seinen Kopf, was soll ich sonst machen? Die Haare sind viel zu weich. Alle sehen mich an.
»Könnt ihr euch noch an eure eigenen Älteren erinnern?«, frage ich. Die anderen schweigen lange. Dann antwortet Wilhelm: »Ich kann mich erinnern, wie der alte Wilhelm mir auf den Bauch gepustet hat. Und wie er mir einmal etwas Süßes, Klebriges gegeben hat. Er war lustig, glaube ich.«
Else schüttelt den Kopf. »Ich kann mich nur an die alte Lola erinnern.«
Die anderen nicken, Alexander lächelt dabei. Die alte Lola hat sie mit großgezogen, sie alle.
Das Kind hat den Kopf gedreht und sieht zu mir auf. Na gut. Ich fasse es unter den Armen und hebe es auf meinen Schoß. Es gluckst und schmiegt seinen Kopf an, fest, beinahe tut es weh.
Sie haben mir nie viel erzählt von meiner Vorgängerin. Zum Leben in den Mauern gehört eigentlich, die eigene Vorgängerperson kennenzulernen. Von ihr im Arm gehalten zu werden. Ihren Geruch zu atmen. Sich daran zu erinnern, später, wenn sie entschwunden ist. Ich hätte einen Winter haben sollen mit meiner Lola.
»Wie war sie denn?«
Die anderen schweigen, sehen einander an, niemand will antworten. Nie wollen sie antworten.
Es muss doch Geschichten geben über sie.
Sie haben ihr nicht verziehen, denke ich. Sie hat sie verlassen, als sie sie gebraucht hätten. Der Einzige, der manchmal mit mir über sie redet, ist Friedrich. Aber der behauptet ja auch, sie habe ihn nicht verlassen.
Als sie plötzlich weg war, muss sie ungefähr so alt gewesen sein wie Else heute. Achtunddreißig oder neununddreißig oder vierzig Sommer. Auf den Gemälden bilde ich mir ein, in diesem Alter einen verwegenen Zug in unserem Lächeln zu erkennen, der auf den Bildern der jüngeren Lola noch nicht da ist. Aber vielleicht interpretiere ich das auch nur hinein.
»Glaubt ihr, sie ist abgehauen?«
Wieder dieses Schweigen. Dann antwortet Alexander, er spricht viel vorsichtiger, als ich das von ihm kenne: »Also, ich sage mal, Friedrich ist da ja ganz klar, er ist sich ganz sicher, dass sie das niemals gemacht hätte.«
»Lo-La«, sagt das Kind. Es lacht mir ins Gesicht. Lass das, denke ich. Wenn ich wegwill, darf ich mich nicht an dich binden.
»Ja«, sage ich, »ich weiß, was Friedrich sagt, sie wäre nicht abgehauen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Ich frage aber euch. Was glaubt ihr?«
Schulterzucken.
»Friedrich kannte sie am besten«, sagt Alexander, »also weiß er es auch am besten.«
Wilhelm sieht mich an. »Sie war wie du.« Das Zucken eines Lächelns. »Und du bist wie sie. Wenn jemand wissen kann, was sie gemacht hat, dann bist du das.«
»Danke«, sage ich. Ich denke: Das ist nicht wahr. Was ich mich frage, worauf ich die Antwort nicht weiß: Gehört es dazu, dass jede Lola irgendwann abhaut? Ist das vorgegeben wie unser Aussehen? Als Teil des Systems? Vielleicht wollen die Fremden, dass ich abhaue. Vielleicht warten sie auf der anderen Seite auf mich. Ich weiß nicht, wie ich diese Vorstellung finde.
Das Kind greift nach meinen Haaren und lacht.
»Einmal in der Woche zum Essen kommen schaffe ich, aber ansonsten bin ich raus«, sage ich.
»Aber Lola –«, beginnt Else.
Ich setze das Kind ab und stehe auf, kurz denke ich, es wird weinen, aber es schaut nur verwirrt zwischen uns hin und her.
»Aber Else!« (Ich weiß, es ist gemein, sie so nachzuäffen.) »Aber Else! Du hast doch selbst gesagt, es ist nicht gut, wenn Friedrich jetzt einsam ist.«
»Bist du bei ihm?« Wilhelm sieht nicht unglücklich aus, eher erleichtert.
Ich nicke.
»Mensch, Lola, dass du auch nie was sagst«, das ist Alexander, »dass du nie was sagst! Wir alle machen uns Sorgen um Friedrich, vor allem Else, Else hat sich solche Sorgen gemacht, oder?« Else nickt, Alexander spricht weiter: »Aber du, du machst einfach dein eigenes Ding, wie immer. Wilhelm hat recht. Du bist ganz genau wie die alte Lola! Wie es uns dabei geht, ist dir völlig egal. Und vielleicht wollen wir ja auch etwas von Friedrich haben, solange er noch da ist. Er ist auch unser Friedrich. Hast du da vielleicht mal drüber nachgedacht? Verschanzt dich einfach mit ihm.«
»Kümmert ihr euch um diesen Friedrich hier«, sage ich und zeige auf das Kind, das immer noch auf dem Boden sitzt und nicht weiß, was eigentlich mit uns allen los ist, »kümmert euch um den hier, dann übernehme ich den anderen.«
Alexander schnaubt, Else seufzt, nimmt das Kind hoch und seufzt dann noch einmal, mit Blick auf mich, Wilhelm sieht aus dem Fenster und schweigt, das Kind schaut mich an und weint nun doch.
Am Ende sind sie einverstanden.