Ich lasse sieben Steinchen von einer Tasche meines Anzugs in die andere wandern. Jeden Tag einen, dann von vorn.
Sonnenaufgang. Sonnenuntergang. Die Tage im Winter sind kurz. Die Tage verschwimmen. Die Nächte verschwimmen. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Das stimmt nicht. Die Nächte im Winter sind länger. Viel Zeit zum Arbeiten in dieser Dunkelheit. Wir hobeln, nähen, teeren, testen, verbessern, rechnen, testen erneut, wieder und wieder, wir bauen um, bauen neu, hämmern und sägen, es nimmt kein Ende, nicht einmal im Schlaf, ich träume von Ballonseide, Zahlen und Teer.
Ab und zu gehe ich für ein oder zwei Stunden weg, im Tageslicht. Dann zieht es mich zur Mauer. An manchen Tagen verschwindet der obere Teil nach ein paar Dutzend Metern im Nebel. An anderen liegt nur der Rand in den Wolken. Ist das Wetter klar, kann ich die Mauerkrone erkennen, selbst bei allerblauestem Himmel sieht sie ein wenig unscharf aus. So hoch.
Als ich vielleicht zwölf Sommer zählte, hielt ich es nicht mehr aus. Ich bettelte, quengelte und zeterte und überredete Friedrich schließlich, mit mir auf die Kuppel der Großen Halle zu klettern.
»Nur, damit du siehst, dass es nichts nützt«, sagte er, »du wirst merken, auch von dort oben kannst du nicht hinübersehen.«
Trotzdem packte er Seile und Karabiner und Helme ein und ritt mit mir hin. Er sicherte uns, mahnte mich, vorsichtig zu sein, sehr streng, wieder und wieder, und kletterte mit mir ganz nach oben.
Die Große Halle steht mitten in der Stadt, nicht einmal zweitausend Meter von der Kerninsel entfernt, und sie ist das höchste Gebäude in den Mauern. In der Alten Zeit gab es einen Turm, der noch höher war, aber der steht nicht mehr. Vielleicht hätte man von seiner Spitze aus den Ozean gesehen. Von der Kuppel aus jedenfalls geht es nicht. Du siehst die ganze Stadt, das gesicherte Gebiet und das ungesicherte, den Fluss, die Türme und Dächer, den großen Garten, die Brücken, die Achsen. Dahinter die graue Grundierung, im Norden hell, im Süden dunkel.
Es gibt Gemälde, die das Meer zeigen. Auf manchen türmen sich Wellen mit Schaumkronen, auf anderen ist der Horizont eine Linie in der Ferne, manchmal verwischt sich das Wasser mit dem Himmel. Hier ist das anders, hier gibt es keinen Horizont. Die innere Mauer ist der Hintergrund jedes Bildes, jeder Blickrichtung. Nur wenn du weit genug von ihr entfernt bist und direkt nach oben siehst, in die Wolken oder das Blau oder den Nachthimmel, lässt sie sich ausblenden.
Natürlich wusste ich auch mit zwölf schon, dass es unmöglich ist, hinter die Mauern zu blicken. Trotzdem musste ich es sehen. Friedrich hat das verstanden. Ich liebe ihn noch heute dafür.
Jetzt gehe ich Etappen der inneren Mauer ab. Ich lehne mich mit der Brust an den Beton und schaue nach oben, bis mir schwindlig wird. Ich glaube, den Ozean in meinem Brustkorb zu spüren, die Brandung, aber das ist unmöglich. Was ich manchmal spüren kann, ist der Wasserfall, dort, wo der Fluss in die Stadt hereinströmt.
Die Stelle heißt Elsenpforte, auf etwa zwanzig Metern Höhe gibt es hier eine Öffnung in der inneren Mauer, aus der der Fluss herabstürzt. Als ich klein war, dachte ich, der Name komme daher, dass der Wasserfall so schön ist wie Else, er donnert, rauscht und glitzert, die Luft ist voller Wassertröpfchen, auch in einiger Entfernung zum Ufer noch, und wenn die Sonne scheint, bilden sich Regenbogen. Aber das mit dem Namen stimmt nicht. Die Pforte heißt so nach der Brücke, die zur Alten Zeit hier stand. Elsenbrücke. Und nicht einmal die Benennung der Brücke geht auf eine echte Frau zurück. Bei den Alten gab es Bäume, die so hießen, schöne, aber schwierig zu züchtende Bäume, die waren etwas Besonderes und wuchsen in der Nähe, daher der Name.
Wir sind nur ausgedachte Figuren, Else und ich. Jemand hat sich uns ausgedacht und zu den Männern dazugetan, um zu sehen, was passiert. Schon greift Bruder Bruders Schopf. Natürlich denke ich mir auch das nur aus.