Sieben Steine von einer Tasche meines Anzugs in die andere.
Sind alle Steine gewandert, ist Sonntag. Dann sattle ich das Pferd und reite nach Charlottenburg. Manchmal bitte ich Friedrich mitzukommen, aber er lehnt jedes Mal ab. Er will das Kind nicht sehen.
Ich weiß nicht, ob ich das Kind sehen will. Aber ich reite hin, jeden Sonntag. Hört das Kind den Hufschlag meines Pferdes, stürmt es ans Fenster, ich sehe es schon von Weitem. Drinnen rutscht es mir dann mit seinen Filzschuhen über das Parkett entgegen und strahlt: »Lo-La! Lo-La!«
Mein Name ist nur am leichtesten auszusprechen für ein Kleinkind, sage ich mir, ich sollte mir nichts darauf einbilden. Ich nehme das Kind hoch und trage es in den Festsaal, es quiekt vor Freude. Das Kind ist warm, wärmer als ich, es hält sich an meinem Nacken fest, und manchmal drücke ich meine Nase in sein Haar und sauge den Geruch ein.
In der Tür wartet dann Alexander, er trägt eine Schürze und über der Schulter ein Tuch. Seine Haare sahen schon mal besser aus. »Ach, Lola, welch seltene Ehre!« Er klopft mir auf die Schulter. »Komm, du kannst dich gleich nützlich machen.«
Else verdreht die Augen, dann zwinkert sie mir zu und reicht mir irgendetwas zum Umrühren. Der Duft, der aus den Töpfen steigt, lässt mich fast weinen. Getrocknete Tomaten, Kräuter und Kartoffeln, die Else und Alexander im Sommer in ihrem Garten gezogen haben, dazu Oliven, Hummus und Gewürze aus den Paketen. Bei Friedrich gibt es nur noch Rüben. Rübenmus, Rübensuppe, gebratene Rüben, Rübensalat. Den Inhalt der Pakete, den Käse, im Grunde alles, was gut schmeckt, bewahren wir auf, als Vorrat für die Flucht.
Das Kind will neben mir sitzen. Es zieht mich am Arm hinter sich her bis zum gewünschten Stuhl: »Lo-La da«! Ich stelle fest, wie mich das freut. Das sollte mich nicht dermaßen freuen. Ich darf mich nicht an dieses Kind binden. Ich darf mich hier an gar nichts mehr binden. Wir fassen uns an den Händen. Die Hände des Kindes sind warm und klebrig.
Nach dem Essen nehmen Wilhelm und ich das Kind und gehen mit ihm raus, damit es an die frische Luft kommt und damit Else und Alexander auch mal ihre Ruhe haben, als Paar. Das sind Alexanders Worte. Manchmal bekommen wir noch einen Auftrag dazu, dann hacken wir Holz oder holen Wasser. Eigentlich reicht es, Schnee zu sammeln und zu schmelzen, aber ab und zu wünscht Else sich Wasser aus dem Fluss, das schmeckt ihr besser, und sie glaubt, es sei gesünder. Mineralien. Wilhelm und ich wandern mit dem Kind durch den Schnee, formen Schneebälle, Schneemenschen, Schneetiere. Wir rutschen Hügel hinunter. Wenn das Kind nicht hinsieht, küssen wir uns. Natürlich sieht es dann doch hin und freut sich.
Ich könnte auch bleiben, denke ich.
Manchmal nehmen wir das Kind mit aufs Pferd und reiten durchs instand gehaltene Gebiet.
Wilhelm hat ihm schon fast alles gezeigt und erklärt. Stundenlang, jeden Tag. »Ich kann den Kleinen doch nicht ganz am Rand versauern lassen. Struktur hin oder her, er muss doch sehen, was es hier alles gibt. Und außerdem habe ich ja sonst nichts zu tun. Du lässt dich ja kaum noch blicken.«
Als wir selbst noch Kinder waren, ich ein kleines, er ein größeres, sind wir auch gemeinsam durchs instand gehaltene Gebiet gestreift. Wilhelm kannte die besten Orte. Geheimräume unter dem Denkmal auf dem Kreuzberg oder oben im sechssäuligen Tor. Wir versteckten uns, bis die anderen uns mit dem Echo zu sich zurückriefen.
Wilhelm zieht eine Grimasse, Mundwinkel nach unten, Unterlippe nach vorn. »Was machst du denn die ganze Zeit mit Friedrich? Wird dir nicht langweilig?«
Ich schüttle den Kopf. Mit niemandem darüber reden. Vor allem mit Wilhelm nicht. Seit ich denken kann, seit ich sprechen kann, hat Friedrich mich das schwören lassen.
»Frag nicht so viel«, sage ich, und Wilhelm fragt nicht mehr.
Wir reiten schweigend nebeneinander her. Der Kleine sitzt mit auf meinem Pferd, vor mir, Wilhelm hat mir gezeigt, wie ich ein Tuch so um uns beide wickeln kann, dass es das Kind hält und ich die Hände frei habe. Wenn ich es lange so trage, stelle ich mir vor, das Kind wäre in mir herangewachsen, wie bei den Alten. Ich will mir das nicht vorstellen, der Gedanke schleicht sich von selbst ein, immer wieder. Vielleicht ist das einprogrammiert, denke ich.
Wir folgen dem Flussufer nach Osten. Ich muss mir alles merken, was vorbeizieht, denke ich, ich muss mir die ganze Stadt merken. Brücken, Bäume, Schnee. Den Geruch des vereisten Flusses. Ich muss Abschied nehmen.
Das Kind wackelt ein bisschen, ich kann sein Gesicht nicht sehen. »Geht es ihm gut?«, frage ich. Wilhelm sieht zu uns herüber und grinst. »Dem geht es bestens. Der wackelt vor Glück. Der liebt dich.«
Ich schüttle den Kopf. »Dafür sieht er mich nicht oft genug.«
»Glaub mir, das kann jeder sehen, sogar ich. Das ist ein echter Friedrich, und du bist ihm die Liebste von uns allen.«
»Lo-La!«, schreit der Kleine.
Wilhelm lacht: »Siehst du!«
»Ihr spinnt doch, alle beide«, knurre ich.
»Lo-La!«
Wir reiten bis zur Kerninsel. Wir wollen dem kleinen Friedrich die große Orgel im Dom zeigen.
Siebentausendzweihundertneunundsechzig Orgelpfeifen. Wir können das Ding nicht richtig spielen. Unter den Alten gab es einige wenige mit diesem Können, aber es hat sich nicht überliefert. Immerhin sind wir in der Lage, der Orgel ein paar dröhnende Töne zu entlocken, und das reicht schon, das Kind zum Staunen zu bringen. Es lauscht dem Hall, es lacht, und es singt mit, lange Vokale, O und A. Wir heben den Kleinen hoch und setzen ihn zwischen uns, er drückt Tasten, mit Fingern, Fäusten, Handballen, er klettert, zieht Register und jauchzt, tosender, herrlicher Lärm.
Aus den Augenwinkeln sehe ich Wilhelms Blick.
Später spielen wir Fangen und Verstecken, wir hüpfen durch die Predigtkirche, die Sakristei, der kleine Friedrich schreit und jubelt.
Auf dem Rückweg nach Charlottenburg ist es schon dunkel. Wilhelm trägt jetzt das Kind im Tuch, es ist eingeschlafen.
Else steht in der Tür, wahrscheinlich schon lange, sie wartet auf uns, gleich wird sie schimpfen, bestimmt sind wir zu spät. Aber sie sieht uns nur an, wie wir dastehen, Wilhelm, Lola, Kind, ganz mild sieht sie uns an und sagt: »Bleibt doch heute Nacht hier, ihr drei. Zusammen.«
Natürlich weiß ich, was sie in uns sieht. Natürlich gefällt Else das. Wir sehen aus wie die Heilige Familie, gemalt von den Alten, zu allem Überfluss auch noch im Schnee. Es rührt sie fast zu Tränen.
Sie denkt voraus. Wenn der alte Friedrich weg ist, könnten wir uns neu sortieren. Wir könnten zwei Paare sein, monogam und glücklich, und in der Mitte das lachende Kind mit roten Wangen.
»Eine Nacht«, sage ich.
Und als wir so daliegen, das schlafende Kind zwischen uns, und Wilhelm nimmt meine Hand und summt das Winterlied, da denke ich: Es ist ein Verrat, so oder so. So oder so werde ich einen Verrat begehen.
Ich will hierbleiben. Ich will weg.
Am nächsten Morgen, beim Abschied, weint das Kind. Es schreit und schlägt um sich, und dann hält es sich an meinen Beinen fest und will mich nicht gehen lassen.