Sieben Steinchen. Hin und her. Während ich die Tage zähle, zählt Friedrich die Wochen. Wir dürfen die Zeit nicht aus dem Blick verlieren. Die Zeit ist Friedrichs Feind. Wir müssen deutlich vor dem Ende des Winters fertig werden, um sicherzugehen. Mit jeder Woche wächst Friedrichs Unruhe. Trotzdem hält er sich jetzt wieder mit Nebensächlichkeiten auf. Polsterung. Sitze.

»Lass uns doch erst einmal das Wichtigste fertigstellen«, sage ich, wieder und wieder, »lass uns dafür sorgen, dass dieses Ding fliegt und dass es schwimmt und dass es sich steuern lässt. Der Rest ist Luxus. Wir brauchen unbedingt noch Zeit zum Üben.«

Friedrich lacht dann und sagt: »Du hast recht.« Und am nächsten Tag zimmert er dann wieder an einer Bank herum oder wachst die Bohlen. So werden wir nicht fertig. Das weiß er doch selbst. Das muss er doch wissen.

Im Grunde kann ich so ein Boot steuern, ich

Den Sextanten, die Sternkarten, den Kompass und alle anderen Geräte hat Friedrich mir später erklärt, als ich erwachsen war, im Geheimen, im Keller.

Mit diesem neuen Modell kenne ich mich nur in der Theorie aus. Wie soll ich mich dieser Kapsel anvertrauen, ohne zu wissen, ob ich sie beherrschen kann?

Vielleicht spürt Friedrich meine Zweifel. Sicher spürt er meine Zweifel. Nachts lässt er meine Hand nicht los, tagsüber lässt er mich nicht aus den Augen. Ich will im Licht durch die Stadt wandern, nur ein bisschen, nur ein wenig Sonne und Luft, aber Friedrich will mich nicht gehen lassen. Tagelang geht das so. Tagelang bleibe ich. Vielleicht tut er mir leid.

Er wirft mir ein Seil herüber, ich fange. Stumm binde ich die Knoten. Es ist stickig hier unten im Keller, der Teergeruch geht nicht mehr weg, er steigt in den Kopf und macht müde. Das fehlende Tageslicht macht müde. Die Arbeit macht müde. Ich kann keine Hanfseile mehr sehen, ich kann keine Stoffbahnen mehr sehen, ich kann keine Rüben mehr sehen, ich kann diesen Keller nicht mehr sehen, beim Anblick der Kapsel wird mir schlecht. Nach unseren Berechnungen werden wir fünf Tage zu zweit in diesem Ding zubringen. Wenn der Wind richtig steht. Vielleicht auch eine Woche oder länger. Wenn unsere Berechnungen die richtige Grundlage haben. Wer weiß denn, ob die Stadt überhaupt dort liegt, wo sie auf den Karten vermerkt ist? Wer kann denn mit Sicherheit sagen, dass die Stadt original ist? Sie könnte rekonstruiert sein. Wir könnten uns sonst wo befinden. Überall. Nirgendwo. Ich knote das Seil, unser Schweigen liegt im Raum wie der Teergeruch. Dieser Geruch zieht bis in meine Gedanken. Warum sollte die Stadt rekonstruiert sein, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Lola. Ich knote und knote, ich kann nicht mehr denken, ich werfe das Seil hin.

»Ich muss raus, Friedrich. Jetzt.«

»Keine Streifzüge mehr, Lola, Schluss damit, wir müssen zusammenarbeiten, sonst werden wir nicht fertig. Wenn du rauswillst, wenn du wirklich rauswillst, musst du bei mir bleiben.«

»Gar nichts muss ich.«

Friedrich lacht nicht, er sagt auch nichts, er knotet seine Knoten.

Erst als ich den Topf mit den Schrauben auf den Boden schleudere, dass es scheppert, blickt er auf. »Was ist denn nur los mit dir, Lola?«

»Das fragst du mich?«

Er starrt mich bloß an. Ich weigere mich, seinen Blick zu erwidern, ich wende mich ab, ich sehe ihn nicht an, überall Schrauben, in den Unebenheiten des Bodens haben sie sich zu Gruppen formiert, es könnte ein Spiel sein oder ein Orakel oder Sternbilder. Ich greife meinen Rucksack, die Sternbilder knirschen, als ich darübergehe.

Ich sehe Friedrichs Bewegung nur aus dem Augenwinkel. Er ist auf einmal sehr schnell. Er hat das eingeplant, denke ich, er ist vorbereitet. Drei Schritte, und er ist an der Tür und stellt sich mir in den Weg, blockiert einfach den Durchgang,

Ich kann nicht sagen, wie lange wir da so stehen, Auge in Auge, denke ich. Ich überlege, ob ich diesen Blick von ihm kenne. Ich weiß es nicht. Er blinzelt gar nicht, denke ich, wieso blinzelt er nicht. Ich werde ihn nicht umstoßen können. Ich muss etwas sagen.

»Lass mich durch.«

Schon während ich spreche, weiß ich, er wird da stehen bleiben. Er ist stärker als ich, denke ich. Niemand wird mich hier unten finden, denke ich. Wieso denke ich das?

Friedrich sieht mir immer noch starr in die Augen, er macht einen Schritt auf mich zu, aber ich weiche nicht zurück, immerhin das kann ich schaffen, denke ich. Nicht wanken, nicht weichen, denke ich. Ich kralle meinen Blick in seinem fest, er fasst meinen Arm, meine Schulter, der Griff ist fest und schmerzt, aber die Stimme ist ganz weich.

»Komm, Lola. Wir gehen nach oben. Wir machen eine Pause.«

Wieso ist die Stimme so weich, denke ich. Ich müsste mich wehren, denke ich. Ich versuche, mein Gesicht nicht zu verziehen. Ich wehre mich nicht, und auch als Friedrich seinen Griff wieder lockert, folge ich ihm.

Lola und Friedrich. Friedrich und Lola. Ein Naturgesetz, Schwerkraft, Fliehkraft, unausweichlich. Seit ich denken kann.

Ich kann mich erinnern, wie Else und Friedrich sich manchmal küssten, wie sie Arm in Arm gingen, als ich ein Kind war. Aber schon damals war mir klar, das ist nur auf Zeit. Später hörten sie auf damit, und Friedrich küsste niemanden mehr und ging nicht mehr Arm in Arm und teilte sein Bett nicht, und ich wusste: Er wartet auf mich. Er wartete lange und geduldig. Seine Geduld speiste sich aus dem Wissen, dass ich das Naturgesetz begriffen hatte. Lola und Friedrich.

Ich warte noch etwas, bevor ich meine Finger aus seinen löse. Wenn Friedrich schläft, sieht er anders aus. Er sieht aus wie er selbst und zugleich wie das Kind. Vielleicht sehen Tote so aus. Ich habe noch nie einen Toten gesehen.

Leise stehe ich auf, vorsichtig, ich nehme meinen Rucksack und schleiche mich aus dem Hangar.

Die Nächte sind noch kälter als die Tage, aber im Thermoanzug geht es. Ich lasse mein Pferd bei Friedrich und gehe zu Fuß, würde er mich

Wieso denke ich das, wieso sollte er mir folgen, das wird er nicht, oder? Das wird er nicht.

Ich leuchte mir den Weg mit der Kopf‌lampe. Meine Schritte knirschen, der Wind rauscht, sonst ist es still. Nach einer halben Stunde ungefähr beginnt es zu schneien. Meine Spuren verschwinden. Er wird mir nicht folgen.

Ich habe von den Vorräten genommen. Rosinen und Zwieback. Das brauchen wir eigentlich für die Flucht, aber im ungesicherten Gebiet gibt es sonst nichts. Friedrich kann dafür ja Rüben einkochen, denke ich, davon hat er mehr als genug.

Ich lege mir das zurecht. Er kann Rüben einkochen, aber er kann nicht meinen Anteil der Arbeit übernehmen. Ich müsste ihm helfen. Allerdings müsste er sich dazu erst einmal selbst helfen, nicht wahr? Er müsste das Boot endlich seetüchtig machen, statt sich um die Inneneinrichtung zu kümmern.

Ich lege mir das zurecht. Friedrich braucht mich.

Der Wind wird stärker und brennt, Schnee hängt sich an meine Wimpern und schmilzt, läuft mir wie Tränen übers Gesicht.

Das stimmt nicht, denke ich, das stimmt alles nicht. Friedrich hat sich entschieden, mich zu

Friedrich und Lola Naturgesetz. Friedrich hatte Geduld, weil er die Gewissheit hatte, dass ich am Ende zu ihm komme. Lange bevor ich ihn küsste, sah er mich mit Else, Alexander und Wilhelm. Friedrich beobachtete, wie ich mit Else am Weidendamm Wasser schöpf‌te, er hörte unser Lachen, sah, wie ich meine Hand in ihren Nacken legte und sie zu mir heranzog, sie hatte noch den schweren Eimer in der Hand, Elses Wimpern, Elses Augenlider, sie hielt die ganze Zeit den Eimer fest, alle warteten auf das Wasser, und als wir es endlich zu ihnen brachten, sah Friedrich unsere Wangen und Elses Haar und sah mich und lächelte. Er lächelte, als ich mit Alexander zum Bellevue ritt, zwei Tage waren wir verschwunden, Alexander sammelte Holz, machte Feuer und sang für mich, und bei unserer Rückkehr trug ich seinen Mantel, und Friedrich lächelte. Er lächelte auch, wenn er mich mit Wilhelm sah, immer wieder mit Wilhelm. Friedrich wartete.

Was, denke ich, wenn er das alles nur meinetwegen macht? Was, wenn er etwas in mir erkannt hat, einen Fluchtimpuls, dem er gerecht werden muss, um mich an sich zu binden? Bei der alten Lola hat er das nicht geschafft, den Fehler will er nicht noch einmal machen, und deshalb baut er dieses Boot, und deshalb soll es nie fertig werden.

Wahrscheinlich bilde ich mir das alles ein. Ich war zu lange im Keller. Ich denke schon wie Friedrich.

Ich muss einen Schlafplatz finden. Ich muss endlich schlafen, ohne dass mich jemand festhält.