Im Sommer kommen die Schiffe. Ich stelle sie mir groß vor, weiß und glänzend. Sehr groß, sehr weiß und sehr glänzend. Ich stelle mir vor, dass sie aus einem Material gemacht sind, das mir unbekannt ist. Ein Material, das aussieht wie Eis und das härter ist als alles, was es innerhalb der Mauern gibt.
Das Härteste, was es innerhalb der Mauern gibt, ist Stahl. Ein Stahlskelett ist oft das Letzte, was stehen bleibt. Die Alten haben damit gebaut. Stahl, Beton, Glas, Backstein, Sandstein. Die Fußböden haben die Alten aus Holz gemacht und auch die Möbel. Es ist erstaunlich, wie oft ich intakte Stücke finde. Stühle, Tische, Schränke. Vergraut, spröde, aber noch ganz.
Wir sollen nicht ins ungesicherte Gebiet gehen. Wir sollen auf den instand gehaltenen Wegen bleiben. Wir sollen ausschließlich die instand gehaltenen Gebäude betreten. Ungesicherte Gebäude können jederzeit einstürzen.
Aber das passiert nur selten, und ich bin vorsichtig. Ich teste den Boden, bevor ich auftrete, ich halte mich von Löchern und morschen Stellen fern, ich misstraue den Geländern, jetzt im Winter habe ich einen Besen dabei, um den Schnee vor meinen Füßen wegzufegen und zu sehen, was darunterliegt, und zu beiden Jahreszeiten meide ich Räume, in denen größere Steine auf dem Fußboden liegen, denn Steine auf dem Fußboden sind aus der Decke gebrochen, und wo einer ist, kommen noch mehr.
Das Glas in den unteren Etagen der ungesicherten Gebäude ist längst zersplittert und weggewaschen, ich kann durch die Fenster in die Räume steigen. Nach etwas zu suchen lohnt sich dort selten, alles ist verwittert. Aber weiter oben gibt es ab und zu noch Scheiben in den Fenstern, sodass es dort wettergeschützt ist, dadurch ist der Erhaltungszustand besser.
Manchmal mache ich mir die Mühe, ein oder zwei Fenster zu putzen. Das ist eine heikle Angelegenheit, ich muss sehr vorsichtig sein, damit sie nicht aus den Rahmen brechen, zu viel Druck ist nicht gut, die Bauten im ungesicherten Gebiet vertragen das schlecht, nicht übertreiben, sonst war der ganze Einstieg umsonst. Aber wenn es mir gelingt, werde ich belohnt. Mit der Helligkeit wird es wärmer, und es treten Schätze zutage.
Im Licht kann ich Reste der Wandfarbe erkennen, sie muss einmal rosa gewesen sein. Ich ziehe meine Handschuhe aus und streiche mit den Fingerkuppen über die Wand, es fühlt sich glatter an, als ich gedacht habe. Beim Weitergehen bleibe ich mit dem Zeigefinger an der Wand: Farbe, Putz, Beton, Backstein, Putz, Backstein, Mörtel. Die Wand ist trocken.
In der Alten Zeit, der Dampfmaschinenzeit, als diese Häuser gebaut wurden, da gab es Menschen, die dort einzogen, so lange das Mauerwerk noch feucht war, weil sie sich nichts Besseres leisten konnten. Wenn dann alles trocken war und die echten Mieter kamen, zogen sie weiter, in das nächste feuchte Loch.
Trockenwohnen. Mietskasernen. So voll war die Stadt.
Jetzt gehört das alles mir. Genau genommen gehört es uns allen. Friedrich, Wilhelm, Alexander, Else und mir. Aber soweit ich weiß, bin ich die Einzige, die im ungesicherten Gebiet herumklettert. Es gibt Gegenden, in denen ich nicht mehr nachvollziehen kann, wo in der Alten Zeit die Straßen verliefen. Trümmer, dazwischen Grasflächen, Moos, Sand, im Sommer mit Eidechsen, im Winter mit Schnee. Birken, Linden und Essigbäume, im Winter kahl, im Sommer erst grün, dann rot. Der Blick reicht dort weit, und in der Ferne ragt die innere Mauer auf.
An anderen Stellen sind noch ganze Häuserblocks erhalten, vier Stockwerke. Kopfsteinpflaster oder aufgeworfener Asphalt. Wenn ich den Blick nicht hebe, kann ich mir hier vorstellen, dass die Ausdehnung der Stadt endlos ist. Oder dass sie an den Rändern in eine sanfte Landschaft übergeht, Hügel, Wiesen, Felder. Erst wenn ich nach oben sehe, erscheint über den Dächern der Hintergrund: Beton, darüber Himmel.
Durch das Fenster kann ich das gegenüberliegende Haus sehen. Es ist beinahe schwarz, darüber leuchtet weiß das schneebedeckte Dach, und aus dem Dach wächst eine einzelne Birke. Hier in meinem Raum ist der Boden trocken und stabil, es ist windgeschützt, und ich habe noch ein Stückchen Käse, eine Handvoll Rosinen und etwas Milch, das reicht bis morgen, dann muss ich zurück ins instand gehaltene Gebiet. Abseits der sicheren Wege kommen keine Pakete.
Ich nehme meinen Besen vom Gürtel, fahre den Stiel aus und fege ein Stückchen Boden frei. Dielen. Ich würde gern meine Stiefel ausziehen und barfuß auf dem rauhen Holz herumlaufen, aber ich widerstehe. Kalte Füße sind gefährlich. Splitter und Nägel sind gefährlich. Tetanus. Eiter. Blutvergiftung. Wir sollen auf uns achtgeben. Im Winter müssen wir alle Notfälle und Krankheiten selbst behandeln, das kann unangenehm werden.
Die Reste eines Sofas und eines Regals sind nur noch zu erahnen. Aber ein größerer Tisch, einer der Stühle und ein Schrank sehen beinahe unversehrt aus. Der Stuhl trägt mein Gewicht, doch ich bleibe nicht lange sitzen.
Mich interessieren der Schrank und sein Inhalt. Die Tür stellt sich bei näherer Betrachtung als Schiebetür heraus. Schiebetüren sind verklemmt, verzogen, eingerostet, immer. Auch diese hier lässt sich nicht bewegen, mit aller Kraft nicht, und selbst mit einem Hebel nicht, ich rutsche ständig ab. Ich überlege, einfach den ganzen Schrank kaputt zu schlagen. Das sollen wir nicht. Wir sollen das Erbe ehren. Wir sollen von den Alten singen. Wir sollen Bestehendes erhalten. Schlimm genug, dass ich das instand gehaltene Gebiet verlassen habe. Aber andererseits – da öffnet sich die Tür ein Stückchen, mit einem lauten Seufzen, als hätte sie meine Gedanken gehört.
Der Spalt ist breit genug für meinen Arm. Erst ertaste ich nur zerfallende Fetzen und rostige Kleiderbügel, das Übliche. Aber dann greife ich etwas Glattes, Flexibles, Großes und ziehe es heraus. Es ist gelb und aus Gummi. Ein Mantel. Er hat eine Kapuze, nur drei kleine Risse und keinen Verschluss mehr. Aber mit meinem Gürtel werde ich ihn schließen können. Ich schlüpfe hinein, er passt über meinen Thermoanzug. In der rechten Tasche entdecke ich Schimmel, aber auch ein rundes, verrostetes Stück Metall, wahrscheinlich eine alte Münze, so etwas findet sich immer wieder. Die Alten haben sie für kleineren Handel benutzt, zum Tausch gegen Waren oder Dienstleistungen. In der linken ertaste ich etwas, das ich zuerst für einen ausgerissenen Teil des Mantelstoffes halte. Es dauert einige Zeit, bis ich erkenne, was ich da in der Hand halte. Und nachdem ich es erkannt habe, dauert es noch einmal doppelt so lange, bis ich es auch glaube.
Papier im ungesicherten Gebiet zu finden ist eigentlich unmöglich. Natürlich gibt es noch Papier in der Stadt. Es gibt die umfangreichen Bestände in der Staatsbibliothek, die erhaltenen Schriften, die wir hüten und pflegen. Ohne sie wäre unsere Überlieferung nicht denkbar. Aber außerhalb hatte kein Papier Bestand. Eigentlich.
Vorsichtig. Nichts kaputt machen. Mit einem meiner Handschuhe wische ich ein Stück der Tischplatte so sauber wie möglich, bevor ich das Papier darauflege. Ich setze mich auf den Stuhl, atme möglichst flach und streiche es glatt, ganz sanft. Es ist ungefähr so breit wie zwei meiner Finger und so lang wie einer. An drei Seiten ist der Rand ausgefranst, die vierte Kante ist gerade. Farblich liegt es zwischen Hellgrau und Gelb, und es ist deutlich dicker als die Buchseiten in der Bibliothek. Ich betrachte es eine Weile, dann schiebe ich vorsichtig links und rechts die Nägel meiner Zeigefinger darunter und drehe das Papier um. Ich kann Reste einer gedruckten Schrift erkennen, aber sie ist sehr verblasst und schwer zu entziffern. Ich brauche einige Minuten, nur um herauszufinden, dass die Schrift auf dem Kopf steht. Lateinische Buchstaben. Ich nehme das Papier wieder auf meine Handfläche und gehe damit zum Fenster. Hier ist das Licht besser. Zeichen für Zeichen taste ich mich vor. Da steht:
01 – nicht übertragbar – berec
Mehr ist nicht zu entziffern. »Nicht übertragbar«, ich sage es vor mich hin und versuche, mir das Schriftbild einzuprägen.
»Nicht übertragbar, nicht übertragbar«, keine Serifen, »nicht übertragbar«, die Buchstaben dicht beieinander, »nicht übertragbar«. Ich verstaue das Papier so glatt und sicher wie möglich in meinem Notfalletui zwischen den Mullbinden und stecke es in die Innentasche meines Anzugs, links über der Brust.
Bei Anbruch der Dämmerung rolle ich meine Matte auf dem Holzboden aus, lege mich darauf und versuche, mir die Menschen vorzustellen, die hier gewohnt haben.
Wohnung. Flur, Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer.
In der Alten Zeit haben die Leute in kleinen Gemeinschaften zusammengelebt.
Familie. Üblicherweise je zwei Erwachsene mit üblicherweise zwei sexuell gezeugten Kindern.
Jedes Kind sah anders aus. Geschwister unterschieden sich nicht nur untereinander, sondern auch von ihren Eltern. Ich versuche, mir das vorzustellen. Ich versuche, mir immer neue Kindergesichter auszudenken, indem ich Gesichter mische, die ich von Gemälden kenne. Die Marsham-Kinder, Amor als Sieger, Catharina Hooft. Wenn ich allein bin, spiele ich dieses Spiel vor dem Einschlafen. Neue Gesichter entstehen zu lassen gelingt mir erst, wenn ich unsere eigenen Kindergemäldegesichter mit hineinmische: Friedrich, Wilhelm, Else, Alexander, ich.
Die Gemälde von uns sind oft älter als wir selbst. Ich sehe aus wie die Lola vor mir, und die Lola vor mir sah aus wie die vorangegangene Lola und immer so weiter. Auf den Lolagemälden kann ich mich als Zweijährige sehen, mit fünf Jahren, mit fünfzehn, ich kann sehen, wie ich jetzt aussehe, und ich kann sehen, wie ich altern werde. Auf den letzten Gemälden zähle ich vielleicht fünfundsechzig oder siebzig Sommer. Was danach kommt, weiß ich nicht.
Wie die Kinder der Fremden aussehen, weiß ich nicht. Mit den Schiffen kommen keine Kinder.
Die Einzigen, die die Festung als Kinder betreten dürfen, sind wir. Wenn wir ankommen, können wir allein laufen und essen. Das Sprechen lernen wir in den Mauern. Das Erinnern lernen wir in den Mauern.
Die Einzigen, die in der Festung bleiben dürfen, sind wir.
Wir sind die Glücklichen. Wir sind die Ewigen.