Diesmal steht das Kind nicht am Fenster, denn ich komme nicht mit Hufgetrappel, ich komme zu Fuß, leise und müde. Im Hof sind frische Hufspuren zu sehen, von zwei oder drei verschiedenen Pferden.
Drinnen höre ich Stimmen, es klingt fröhlich, und als meine Schritte das Parkett knarzen lassen, kommt mir jemand entgegengeflogen. Es ist Else. Große Augen, wehendes Haar. Sie umarmt mich, fester als sonst. »Wie hast du denn das geschafft?«, flüstert sie, und während ich noch überlege, was sie meint, ob es etwas Gutes ist oder etwas Schlechtes, tritt hinter ihr Friedrich durch die Tür, der alte Friedrich, und er hält den jungen Friedrich auf Arm und Hüfte.
Else hakt sich bei mir ein, und wir gehen den beiden entgegen. »So geht das schon den ganzen Tag, Fritz ist wie verwandelt, den ganzen Tag schon spielt er mit dem Kleinen und bringt ihn zum Lachen und liest ihm vor.«
Der alte Friedrich wippt den jungen Friedrich ein bisschen, dann nimmt er seine Hand, hebt sie hoch, und gemeinsam lächeln und winken sie uns zu. Else lacht und stößt mich mit dem Ellenbogen in die Seite.
Beim Essen sieht der alte Friedrich mich kaum an. Die anderen reden, ich kann ihnen nicht folgen, ich starre nur den Alten und den Jungen an und versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Der Alte schneidet dem Jungen die Kartoffeln, hebt ihm den Löffel auf, wenn er herunterfällt, füllt seinen Becher.
Ab und zu wirft Wilhelm mir Blicke zu, vielleicht denkt er, ich könne ihm das alles erklären. Ich hebe die Brauen und zucke mit den Schultern.
Else hebt nicht die Brauen, Else hebt ihr Glas. Zur Feier des Tages hat Alexander eine Flasche Opferwein geöffnet. »Es ist so schön, dass wir endlich mal alle zusammen sind!« Wir stoßen an, auch das Kind stößt seinen Wasserbecher gegen unsere Kelche, als das Wasser überschwappt und wir darüber lachen, freut es sich und gluckst: »Mal-Mal! Mal-Mal!« Das bedeutet noch mal, das Kind lernt unsere Sprache, und wir lernen seine Halb- und Doppelworte, mittlerweile können wir uns verständigen. »Mal-Mal! Mal-Mal!« Wir stoßen noch mal an und noch mal.
Nach dem Essen hebt das Kind die Arme und ruft: »Lo-La, I-Em, ’ausgehn!« Es ist Zeit für unseren Spaziergang. Wir stehen auf, Wilhelm will den Kleinen hochheben, aber Friedrich kommt ihm zuvor. Er nimmt das Kind auf die Schultern. »Das kann ich doch machen. Dann habt ihr zwei auch mal Zeit für euch. Das kommt doch viel zu kurz gerade, oder? Lola hat mir so viel Gesellschaft geleistet.«
Das Kind schaut zwischen Wilhelm und mir hin und her. Ich starre Friedrich an.
»Ist schon gut«, sagt Wilhelm, »wir machen das. Wir machen das jede Woche.«
»Umso wichtiger, dass ihr auch mal eine Pause habt!« Friedrich lächelt schon wieder so. Ich kann seinen Blick kaum eine Sekunde lang festhalten, er springt immer wieder weg.
Vielleicht will er ja einfach nur etwas Gutes tun, Lola. Vielleicht hat er verstanden, dass du einen Abschied brauchst. Noch einmal mit Wilhelm allein. Wer weiß, wie oft das noch geht? Wer weiß, wie oft du ihn überhaupt noch siehst?
Was heißt, wer weiß, Lola? Du musst das wissen. Du musst doch wissen, ob du dieses Boot besteigen willst oder nicht.
Alexander und Else räumen den Tisch ab, geschäftig, geschäftig, sieh nur, sieh, wie behend! Sie sehen mein Zögern und nicken mir zu, synchron. Vielleicht haben sie recht.
Vielleicht wird der Junge so eine Erinnerung an den Alten haben, später. Ihm steht eine Erinnerung zu.
Wilhelm mustert mich, mustert Friedrich, kneift die Augen zusammen. Er schüttelt den Kopf, langsam. »Nein«, auch das klingt zu langsam, klingt nach Vorsicht, als müsse er auf der Hut sein, als wisse er noch nicht genau, was er als Nächstes sagen will. Manchmal glaube ich, Wilhelm ist gar nicht so sonnig, wie er immer aussieht, mit diesem Grinsen. Manchmal glaube ich, er ist eigentlich der Klügste unter uns, vielleicht auch der Traurigste. Und vielleicht hat Friedrich auch recht mit seinen Verdächtigungen, vielleicht gehört es dazu, dass wir einen Spitzel unter uns haben. Ich weiß es nicht. Vielleicht hängt das alles zusammen.
Vor drei oder vier Wintern wollte ich Wilhelm einmal mit ins ungesicherte Gebiet nehmen. Ich hatte ganz im Westen, direkt im Schatten der Mauer, in einer Senke einen kleinen See entdeckt, etwas südlich des Charlottenburger Schlosses. Wir hätten das gesicherte Gebiet nur um wenige Hundert Meter verlassen müssen. Ich wollte ihm die Eisfläche zeigen, die Trauerweiden, aber Wilhelm war nicht zu überreden. Ich lachte über seine Weigerung, ich warf ihm an den Kopf, er halte sich ja auch nicht an die Schriften, wenn er im Sommer seine Fremden verführe. Ich sagte ihm, er sei doch genau wie ich, also könne er auch mitkommen. Ich nahm seine Hand und wollte ihn mit mir ziehen, immer noch lachend, aber er blieb stehen, fest.
»Nein, Lola ist genau wie Lola, Wilhelm ist genau wie Wilhelm, du machst, was du machen musst, und ich mache, was ich machen muss.«
Kein besonders beeindruckender Satz, aber es lag Ernst darin und eine Weisheit, die ich nicht entschlüsseln konnte.
Doch auch Wilhelm versteht nicht, was hier gerade los ist, weise oder nicht. Er sagt: »Das ist wirklich nicht nötig, Friedrich, vielen Dank.« Und während er das sagt, fängt er sich, findet seine Haltung wieder, findet sein Grinsen und sein Tempo und setzt hinzu: »Wenn du möchtest, kannst du uns aber begleiten. Wir könnten doch alle vier ein bisschen ausreiten.«
Im Stall steht mein Pferd neben den anderen. Diesen Winter behalten alle ihr Pferd bei sich, in Erwartung des Entschwindens. Es ist eine stillschweigende Übereinkunft, nur mein Pferd war noch bei Friedrich in Tempelhof. Er hat es mitgebracht. Er wusste, dass ich komme. Vielleicht ist er deshalb hier. Um mich zurückzuholen.
Wir satteln auf und reiten durch den weißen Schlossgarten. Ich habe das Kind wieder mit auf mein Pferd genommen. Es sitzt vor mir und schmiegt sich an mich. Ich müsste es nicht festhalten, es gibt ja das Tuch, trotzdem habe ich meine Hand auf seinem Bauch. Wer weiß, wie oft noch, denke ich. Nicht weinen, denke ich.
Vor uns reitet Wilhelm, hinter uns Friedrich. Ab und zu greift Wilhelm nach einem herabhängenden Zweig, manchmal zieht er daran, dann rieselt Schnee auf uns herab, und das Kind lacht und dreht seinen Kopf und sieht mich an, und ich lächle zurück. Ich würde gern noch lange so weiterreiten. Vielleicht immer. Immer so weiter.
Wir reiten bis fast an die Mauer heran, dann wendet Wilhelm sein Pferd.
»Hast du Angst, Friedrich?«, fragt er. »Sollen wir umkehren? Was ist mit der Flutung, was ist mit den höhergelegenen Gebieten und so weiter?«
Friedrich mustert mich kurz, dann Wilhelm, etwas länger, dann verkündet er: »Die viel wichtigere Frage ist doch: Wer macht die besten Schneebälle? Stimmts, kleiner Friedrich? Kommt! Schneeballschlacht!«
Überraschend geschmeidig springt er vom Pferd und hat sofort einen Klumpen Schnee zwischen seinen Handschuhen geformt, den er nach Wilhelm wirft, nicht sehr fest, es ist eine Einladung. Wilhelm grinst, auch er ist jetzt vom Pferd gestiegen. »Komm, Lola! Komm, kleiner Friedrich!« Beide Männer lachen zu uns hoch, Wilhelm wirft einen Schneeball in die Luft und fängt ihn wieder. »Komm, Lola, oder traust du dich nicht?«
Natürlich traue ich mich. Friedrich und Friedrich gegen Wilhelm und Lola. Das Kind kreischt vor Freude, und dann bin auch ich ein kreischendes Kind.
Lachend und mit roten Gesichtern steigen wir auf die Pferde, und Friedrich ruft: »Nächste Woche bauen wir ein Schneehaus! Wie früher!« Zurück am Stall, bleibt er auf dem Pferd sitzen und sieht mich an.
»Kommst du, Lola?« Ich nicke.