Fünf Tage.
Am ersten Tag weiß ich nicht, wohin mit mir. Ich reite die Achsen ab, die Wege, ich reite über die Straßen des großen Gartens und rufe meinen eigenen Namen. Ich binde das Pferd an einen Baum und schlage mich durchs Dickicht. Ich rufe weiter. »LO-LA!« Keine Antwort. Ich rufe, bis es dunkel wird.
Als ich zu meinem Pferd zurückkomme, ist es unruhig. Ich habe es zu lange warten lassen, angebunden und allein im Rauschen der Bäume. »Verzeih mir«, flüstere ich und streichle seinen Kopf, die warme Stelle zwischen den Ohren, »bitte verzeih.« Es schnaubt versöhnlich und sieht mich an. »Ich weiß auch nicht, wohin«, sage ich. Ich steige auf und lasse das Pferd machen, was es will. Es trabt zur Kerninsel und dort in den Schlosshof. Ich bringe es in den Stall und versorge es, dann suche ich mir einen Platz hinter den großen Fenstern im Obergeschoss. Ich spiegle mich in den Scheiben. Eine Weile sehe ich mein Spiegelbild an, als könnte ich in meinem eigenen Blick eine Antwort erkennen, dann schalte ich meine Lampe aus und blicke hinaus in die Dunkelheit.
Friedrich hat mir erzählt, es gebe spätere Versionen des Mythos, in denen Odysseus Kinder mit Kirke hat. Ob Odysseus darüber nachgedacht hat, die Kinder mitzunehmen, weiß Friedrich nicht. Er kennt den Wortlaut nicht. Er kann die Passage zwar auswendig, aber nur in der Version Homers.
Wahrscheinlich hat Odysseus nicht darüber nachgedacht. Und wenn doch: Kindesentführung. Unverantwortlich. Rücksichtslos. Gefährlich.
Weint er, als er die Kinder zurücklässt?
Bei Homer gibt es die Kinder nicht. Das macht es einfacher. Trotzdem weint Odysseus. Ich habe nie verstanden, ob das nur Angst ist, weil Kirke ihm verraten hat, was ihm noch bevorsteht, oder ob es zumindest zum Teil Abschiedsschmerz ist. Vielleicht entsteht diese Unklarheit auch erst in der Übersetzung.
Ich werde weinen, wenn ich mitgehe. Ich werde weinen, wenn ich hierbleibe.
Eines Winters, ich zählte neun Sommer, habe ich mir den Fuß verstaucht. Der Fluss war von einer Eisdecke überzogen, dick genug, um ein Kind und zwei junge Männer zu tragen. Wilhelm und Alexander schlitterten mit mir darauf herum, mit den Füßen schossen sie etwas auf dem Eis hin und her, einen Stein oder ein Eisstück, ich versuchte, es zu erreichen, fiel hin, und als ich wieder aufstehen wollte, schrie ich vor Schmerz. Die anderen haben mich zwei Wochen lang gepflegt. Sie haben meinen Fuß gekühlt, Else hat Salben bereitet, Alexander hat mir vorgesungen, Wilhelm hat mich getragen, und Friedrich hat einen Schlitten gebaut, auf dem die anderen mich gezogen haben, bis ich wieder gehen konnte.
Ich sollte schlafen.
Am nächsten Morgen riecht es nach Tee. Ich öffne die Augen, und da ist Wilhelm, er sitzt etwa vier Meter entfernt auf dem Boden und hantiert mit seinem Kocher herum. »Ich habe dein Licht gesehen, gestern«, sagt er.
»Mein Licht?«
»Dein Licht und deinen Umriss hinter dem Fenster. Ich wollte dich nicht stören, aber ich dachte, ich bringe dir das Frühstück ans Bett. Es ist schon heller Tag.«
Ich setze mich auf und blinzle durchs Fenster. »Na ja, hell.« Draußen ist alles Nebel.
Wilhelm lacht. Er bringt mir Tee, Zwieback, Nüsse, getrocknete Pflaumen. Ich esse, ich trinke, ich lehne mich an ihn.
Er streicht mir übers Gesicht. Ein leises Lächeln. Wahrscheinlich ist mein Gesicht dreckig.
»Ich war im Dickicht im großen Garten«, sage ich.
Wilhelm nickt, er fragt nicht, warum ich dort war. Er nimmt eine Serviette, hält sie in den Wasserdampf und gibt sie mir. Ich wische mir über Stirn und Wangen. »Besser?«
»Ja«, sagt er und legt den Kopf schräg, »ich glaube, jetzt erkenne ich dich wieder.«
Ich ziehe ihn zu mir und küsse ihn. Er ist wärmer als ich. Der zweite Tag, denke ich. Jetzt sind es nur noch vier.
»Nimmst du mich mit zu den anderen? Zum Kind?«, frage ich.
Wilhelm sieht mich lange an, schweigt, senkt den Blick und hebt ihn wieder. »Natürlich«, sagt er.