Während ich die Tage herunterzähle, leben wir so, wie es Else gefällt. Mann–Frau–Kind–Frau–Mann, und alle unter der Charlottenburger Kuppel, Triumph der Symmetrie. (Ich bin nur deshalb so gemein, weil ich mich selbst danach sehne.)
»Weißt du noch«, fragt Else, wenn sie dem kleinen Friedrich das Haar kämmt, und natürlich weiß ich es noch. Es ist keine gute Erinnerung, aber das ahnt sie wahrscheinlich nicht. Else war grob, wenn sie mir die Haare kämmte, strenges, ungeduldiges Zerren. Jetzt bei Friedrich ist sie sanfter.
Ich muss an die Fotos im Archiv denken. Holger, 15 Monate alt. Erstickt. Ich würde gern mit Else darüber reden, aber das geht nicht. Sie würde merken, was los ist. Als ich ein Kleinkind war, behauptete sie, sie könne an meiner Nase sehen, ob ich die Wahrheit sage. »Deine Nase wackelt!«, rief sie, wenn sie mich bei einer Lüge erwischt hatte. Es dauerte Jahre, bis ich sie durchschaute.
Sie kämmt den Kleinen, ich ziehe ihn an. Else hat Sachen aufbewahrt, die sie für mich genäht hat, als ich so klein war. Es sind Blumen daraufgestickt. Ich knöpfe das Jäckchen zu, winzige Knöpfe, und sobald ich aufsehe, strahlt und leuchtet mich der kleine Friedrich an. Jedes Mal. Vielleicht hat Wilhelm recht.
Ich muss an das Farbfoto denken, rot und blau. Ich muss daran denken, was Else gesagt hat. Manchmal gibt es keine andere Wahl. Ich habe eine Wahl. Ich würde so gern mit ihr reden.
Wilhelm und Alexander suchen die Pakete und machen Frühstück. Sie arbeiten sich zu, reichen sich Teller hin und her und lachen dabei. Bevor Alexander sich auf Else festgelegt hat, waren Wilhelm und er manchmal zusammen. Ich erinnere mich, wie Alexander Wilhelms Nacken geküsst, wie Wilhelm sich zu ihm umgedreht hat, dann Alexanders Hand in Wilhelms Haar, ein Kuss, ein Lachen, ein Kuss. Wenn ich weg bin, werden sie sich neu sortieren müssen.
Das Kind läuft zwischen uns hin und her, und am Ende sitzt es immer auf meinem Schoß, und die anderen sehen uns an mit so einem verzückten Blick, den ich nicht aushalten kann.
»Er hat dich ausgesucht«, sagt Wilhelm, und sogar Else nickt dazu.
Noch drei Tage. Ich nehme das Kind auf Arm und Hüfte und trage es mit mir herum, die Flure des Charlottenburger Schlosses entlang, die Wege des Schlossgartens, ich singe und summe, Sommerlied, Winterlied. Ich sollte das nicht machen. Er wird mich vermissen. Ich werde ihn vermissen. Das Kind singt mit, Vokale und Doppelworte. Er soll eine Erinnerung haben an mich, wenn ich weg bin. Wenn ich weggehe. Wenn.
Noch bin ich hier. Sie wundern sich, dass ich so lange bei ihnen in Charlottenburg bleibe.
»Na, auf den Geschmack gekommen?«, fragt Alexander, und Else lächelt und nickt, sie sagt nicht: »Siehst du! Ich wusste es.« Aber ich höre es trotzdem. Nachts krieche ich zu Wilhelm unter die Decke, und er sieht mich an, anders als sonst. Später dann tappt das Kind durch unsere Tür und kriecht zwischen uns. Warme Hände, kalte Füße. Ich muss diese Fotos aus meinem Kopf bekommen.
Noch zwei Tage.
Am Morgen glaube ich Hufgetrappel zu hören, von Weitem. Wilhelm lauscht auch, hebt den Kopf, den Oberkörper, steht auf.
»Das ist Friedrich«, sagt er.
Ich stelle mich mit dem Kleinen ans Fenster und sehe zu, wie Friedrich die Straße hochreitet. Er kommt einen Tag früher als vereinbart. Warum? Als Friedrich mich erkennt, erschrickt er, es zeigt sich nur kurz in seinem Gesicht, aber ich habe es gesehen. Warum erschrickt er bei meinem Anblick? Er winkt. Ich hebe die Hand und drehe mich weg.
Oben angekommen, umarmt er uns alle nacheinander, ich bin die Letzte in der Reihe.
»Was machst du hier, jetzt schon?«, flüstere ich ihm zu.
Er antwortet: »Was machst du hier, jetzt schon?«
Dann wendet er seinen Blick ab, wendet sich dem kleinen Friedrich zu und nimmt ihn mir aus den Armen. »Komm, mein Kleiner, heute gehöre ich ganz dir, was willst du spielen?«
Wilhelm mustert die beiden Friedrichs, sein Gesicht verdunkelt sich, er folgt ihnen und lässt sie nicht aus den Augen.
Beim Mittagessen wundere ich mich über Friedrichs Appetit. Ich bekomme kaum einen Bissen herunter, aber er greift zu, kaut und trinkt, klopft auf Schultern, auf den Tisch und lobt Zubereitung, Duft, Geschmack.
Kaum sind wir fertig, drängt er darauf, den Kleinen mit nach draußen zu nehmen. Ich würde gern noch ein bisschen mit den anderen am Tisch sitzen bleiben, jeder Moment zählt, aber Friedrich besteht darauf: »Kommt, ihr drei! Lola, Wilhelm, kleiner Friedrich! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich habe euch ein Schneehaus versprochen, und wir wollen doch fertig sein, bevor es dunkel wird.«
Also gehen wir nach draußen in den Schlossgarten, wir wandern bis hinter den Ententeich und beginnen dort zu bauen. Emsig, emsig. Friedrich zieht das große Messer aus seinem Rucksack, das heilige, mit dem ich den Büffel geschlachtet habe. Damit schneidet er große Blöcke aus dem Schnee, die wir übereinanderschichten. Formen, schichten, festigen. Auch das Kind hilft mit und klopft den Schnee fest.
Als ich klein war, haben wir das jeden Winter gemacht, nur ohne Messer. Unsere Wangen leuchten rot, unser Atem dampft, unser Häuschen wächst schnell. Sobald es fertig ist, legt Friedrich ein Büffelfell hinein. Das hat er mitgebracht, denke ich. Das Büffelfell und das heilige Messer. Wieso hat er das mitgebracht?
Wir kriechen ins Innere. Erst Friedrich, dann Wilhelm, dann reiche ich das Kind hinein und klettere hinterher. Wenn wir uns dicht an dicht legen und die Beine anziehen, passen wir drei Erwachsenen nebeneinander. Der Kleine liegt auf unseren Bäuchen. Das gefällt ihm, er wechselt hin und her, kichert dabei, liegt auf Friedrich, auf mir, auf Wilhelm, auf Friedrich. Friedrich summt das Winterlied, und das Kind kommt zur Ruhe. Wir alle kommen zur Ruhe. Ich lege meinen Kopf an Wilhelms Schulter, ich schließe die Augen, atme Wilhelms Geruch ein, unser aller Geruch, Schweiß, Schnee und Kind, Wilhelm streichelt meinen Kopf, ganz leicht, im Innern meines Kopfes Friedrichs Summen. Ich halte jetzt einfach die Zeit an, denke ich, und dann hält die Zeit an, und alles ist gut.