»Lola!« Jemand rüttelt mich. »Lola!« Ich öffne die Augen. Es ist dunkel. »Lola!« Das ist Wilhelm. Wo sind wir? »Lola! Sie sind weg!« Jetzt bin ich auch wach.

Im Schneehaus sind sie nicht. Vor dem Schneehaus sind sie nicht. Vielleicht sind sie zu den anderen zurück ins Warme gegangen. Vielleicht war dem Kleinen kalt, und sie wollten uns nicht wecken. Vielleicht. Bestimmt. Wieso ist Wilhelm so unruhig?

Es ist zu dunkel. Wir brauchen Licht. Ich klopfe meinen Anzug nach dem Lichtzeug ab. Wilhelm ist schneller, zischt seine Flamme an. Das Licht ist zu klein, um wirklich etwas zu erkennen. Was wir sehen: niemand in der Nähe des Schneehauses, kein großer Friedrich, kein kleiner. In der Ferne leuchten die Fenster des Schlosses, zu weit weg, um zu rufen. Ich setze trotzdem zu einem Ruf an, vielleicht sind die Friedrichs ja in der Nähe. Aber Wilhelm legt mir zwei Finger auf den Mund. Flüstert.

Wilhelm leuchtet den Boden ab, bis er Fußspuren entdeckt, große und kleine, sie führen zum Fluss, die Böschung hinunter. Es ist glatt.

Was wollen die da unten?

Wilhelm rennt, rutscht, rennt, warum rennt er, sein Licht in der Hand flackert, ich komme kaum hinterher, jetzt ruft er doch, schreit: »Friedrich! Friedrich!«

Unten am Ufer zwei Gestalten, groß und klein. »Friedrich!«, schreit Wilhelm, und die große Gestalt hält in ihrer Bewegung inne. Es ist zu dunkel, ich kann nicht erkennen, was für eine Bewegung das war, nur, dass die Gestalt sie abgebrochen hat, »Friedrich!«, und nun stehen die beiden dort nebeneinander, groß und klein, und rühren sich nicht. Zentimeter hinter ihnen schieben sich die Eisschollen über den Fluss.

»Friedrich!« Jetzt ist Wilhelm bei ihnen, reißt das Kind an sich, in seine Arme, hält es fest, fest, fest und stapft mit ihm die Böschung hinauf, mir entgegen, mit dem Kind und dem Licht, an mir vorbei. »Bring den Alten hier weg, Lola«, zischt er mir zu, »bring ihn weg.« Und dann ist er mit dem Kind verschwunden. Ich blicke ihnen nach ins Schwarze, dann klettere ich die Böschung hinunter. Unten hat

»Komm«, sage ich.

Wir schweigen. Wir schweigen uns die Böschung hinauf, schweigen uns die Pferde hinauf, schweigen und leuchten uns den Gartenweg entlang, die Straßen entlang.

Friedrich hat die Kopf‌lampen dabei.

Das Messer, das Büffelfell, die Lampen. Wieso hat er das alles dabei? Wieso hatte er die Lampe vorhin nicht auf? Wieso ist er früher gekommen? Wieso ist er erschrocken, als er mich gesehen hat?

Wir schweigen uns bis nach Tempelhof.

Erst als die Tür des Hangars eingerastet ist, mache ich den Mund auf. »Was war das, Friedrich?« Ich kann nicht vergessen, wie Wilhelm geschrien hat, am Ufer. Wie Wilhelm gerannt ist. Was hat Wilhelm gedacht? Was hat er gesehen?

Friedrich schweigt.

»Friedrich.«

Er schweigt, macht Licht, setzt den Rucksack ab, schiebt mir einen Stuhl an den Tisch. Ich setze mich. Er wühlt in einer seiner Kisten, kommt mit einem Kanister Selbstgebranntem und zwei Gläsern zurück und setzt sich auch. Er schenkt uns ein, wir trinken, er schenkt nach. Er schweigt. Nach dem dritten Glas trinke ich nicht mehr mit.

»Friedrich. Was war das? Was hast du mit dem Kind gemacht?«

Ein trüber Blick.

Ich schenke ihm nach. »Was wolltest du mit dem Kind machen?«

Er trinkt, seufzt, trinkt. »Das bin doch ich, Lola. Nur ich. Alles ist eins«, er legt den Kopf in die Hände, »er oder ich, das kannst du nicht trennen, alles eins.«

Ich schenke ihm nach.

»Wenn er ist, kann ich nicht sein, wenn ich sein will, kann er nicht sein.« Er schluchzt. »Ich will nicht entschwinden.« Seine Hand schnellt über den Tisch, bekommt meine zu fassen, krallt sich fest. »Ich will dich nicht verlieren, Lola.« Er lallt. Ein Speicheltropfen im Mundwinkel. »Lola. Nicht noch einmal.« Sein Kopf fällt in seine freie Hand. Er schluchzt. Schnieft.

Ich wende meinen Blick ab. Seine Hand umklammert immer noch meine, sie ist feucht und zuckt. Das letzte Mal, denke ich. Ich weiß nicht, warum ich das denke.

»Was ist mit der alten Lola passiert?«

Ich weiß nicht, warum ich das frage. Aber es scheint die richtige Frage zu sein. Friedrichs Kopf

Du wolltest das Kind umbringen, denke ich. Erst denke ich es, dann flüstere ich es. Ich flüstere es wie zur Probe, um herauszufinden, ob ich das wirklich glaube.

Friedrich rührt sich nicht.

»Du wolltest ihn ertränken.«

Friedrich schweigt und rührt sich nicht, eine Hand hält weiter seinen Kopf, die andere klammert sich an mich.

»Es hätte wie ein Unfall ausgesehen, du hättest sagen können, du seist mit uns eingeschlafen und habest nicht bemerkt, wie das Kind nach draußen gekrochen ist. Du hättest sagen können, du habest es suchen wollen, du seist seinen Fußspuren bis ans Ufer gefolgt. Ausgerutscht, untergegangen zwischen den Eisschollen, nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu retten. Du hättest ihn ertränkt und dann um Hilfe gerufen. Ich hätte dir geglaubt. Ich hätte dir alles geglaubt.«

Friedrich hebt den Kopf, seine Augen sind rot und laufen über. »Nicht, Lola. Bitte.«

»Lola.«

»Warum hattest du das Messer dabei?«

»Lola. Nicht.«

»Warum, Friedrich?«

Er sieht mich nur an und schüttelt den Kopf. Er hält immer noch meine Hand. Ich ziehe sie nicht weg. Ein letztes Mal.

»Es hätte nur noch dich gegeben, nur noch einen Friedrich. Du hättest Zeit gewonnen. Einen Sommer, vielleicht zwei.«

Er schüttelt den Kopf.

»Aber warum? Warum, Friedrich? Das Boot ist doch fertig. Es ist seetauglich und flugtauglich, ich habe selbst alles kontrolliert, jede Verbindung, jeden Hebel, es funktioniert, und es ist beladen, morgen könnten wir los, wenn der Wind gut steht.«

Jetzt lächelt er. Warum lächelt er?

»Antworte mir, Friedrich.« Er schweigt.

Ich entreiße meine Hand seinem Griff. Ich schenke uns ein. Ich stoße mein Glas an seines. Wir trinken. Ich drücke den Rücken durch. Auch er sitzt nun aufrechter. Auge in Auge. Er atmet ruhig. Ich atme ruhig.

»Was war mit der alten Lola? Wo ist sie hin?« Friedrich schweigt.

»Was hast du mit ihr gemacht? Sag es mir. Wollte sie ohne dich weg, und du hast sie umgebracht?«

Er schüttelt den Kopf.

»Redet deshalb niemand über sie?«

»Bitte, Lola. Nicht. Nicht noch einmal.«

Wir schweigen und atmen. Er wird mir nicht antworten, denke ich.

»Lola«, sagt er.

Ich blicke mich um. Friedrichs Hangar. Seine Bücher, seine Truhen, seine Sammlungen, sein Lager.

»Ja«, sage ich. »Friedrich und Lola. Du und ich.«

Friedrich schluchzt, lacht, schluchzt.

»Komm«, sage ich, »komm, Friedrich, alles ist gut. Trink.« Ich stehe auf, umrunde den Tisch, fülle seinen Becher bis zum Rand. Meine Hand auf seiner Schulter. »Trink.«

Er trinkt.

»So ist’s gut«, sage ich. Ich streichle seinen Kopf. Er seufzt. Ich setze mich auf seinen Schoß. Er seufzt, lässt die Stirn auf meine Brust sinken. »Es ist gut, Friedrich, es ist alles gut. Du und ich.« Ich hebe sein Kinn, sehe ihm in die Augen und küsse ihn.

»Lola«, flüstert er. Er tastet sich durch mein Haar, über meinen Nacken, meine Brust, meinen Rücken. »Lola.«

Ich stehe auf und löse mein Haar. Er lächelt. Ich schenke ihm nach. Er trinkt. Ich löse meinen Gürtel und lasse ihn zu Boden fallen. Er lächelt. Ich setze mich auf seinen Schoß. Ich löse seinen Gürtel. Er seufzt. Ich beuge mich an sein Ohr, den Gürtel halte ich noch in der Hand. »Du und ich«, flüstere ich, »du und ich.« Er seufzt und schließt die Augen.

Meine Augen bleiben offen. Jetzt musst du schnell sein, Lola, denke ich, es gibt nur einen Versuch. Ich küsse ihn weiter und greife gleichzeitig nach seiner Hand. Er drückt und streichelt meine Finger. Ich halte fest, küsse weiter. Ein letztes Mal. Seine Augen geschlossen, meine offen.

Schnell, Lola.

Ich fasse die zweite Hand und führe beide hinter der Stuhllehne zusammen. Friedrich öffnet die Augen. Schnell. Ich schlinge den Gürtel um seine Handgelenke, ziehe zu und lasse den Verschluss einrasten.

Friedrich reißt die Augen auf. Noch sitze ich auf ihm. Er wehrt sich nicht. Vielleicht hat er noch nicht begriffen. Ein Kuss noch, ein allerletzter, dann stehe ich auf, greife mir meinen eigenen Gürtel vom Boden und fessle seine Beine an den Stuhl.

Friedrich hat die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. An seinem Hals die Narbe. Der Mond.

»Lola.«

Ich wende den Blick ab.

»Lola!«

Ich schließe meinen Anzug, nehme meinen Rucksack, meine Kopf‌leuchte und trete ins Freie.

Vielleicht hätte ich mich noch einmal umdrehen sollen, denke ich. Vielleicht hätte ich noch etwas zu ihm sagen sollen.