Mein Pferd ist müde. Es schnaubt, als wolle es mich nicht sehen. Vielleicht riecht es den Verrat.
»Komm, mein Liebling, einmal noch, ein letztes Mal, zeig mir, was du kannst!«
Ich kann nicht schnell reiten im Schnee und in der Dunkelheit. Der Weg wird eine Stunde dauern, dann wieder eine Stunde zurück.
In meinem Kopf drehe ich es hin und her. Warum? Das Boot ist doch fertig. Der Schnee dämpft die Hufschläge. Unser Weg führt die Anhöhe hinab und folgt dann dem Kanal. In den Büschen am Ufer rascheln die Krähen. Eine fliegt auf und krächzt: Warum? Übermorgen hättest du weg sein können. Sogar morgen schon, der Wind steht gut. Die Krähe dreht eine Runde über meinem Kopf, dann landet sie und hüpft ein paar Meter neben uns her. Warum? Ich reite weiter, immer am Wasser entlang. Weit im Westen streifen wir den Rand des großen Gartens. Im Gebüsch knistert und raschelt es, rundum liegt stumm die Stadt. Ich bremse mein Pferd, lösche meine Lampe und starre ins Dunkel.
»Lola.« Mein Flüsteratem bildet eine kleine Wolke und löst sich dann auf.
Der große Garten schweigt.
Mein Pferd schnaubt, es tänzelt auf der Stelle, es will wissen, wie es weitergeht. Ich schalte meine Lampe ein. Vorwärts. Am Wasser entlang, weiter nach Westen und dann nach Norden.
Du traust dich nicht, denke ich. Du wolltest ihn umbringen, weil du dich nicht traust abzuhauen, mit mir nicht und ohne mich auch nicht. Ich hätte das schon früher begreifen müssen, denke ich. Jahre, Jahrzehnte, Verzögerungen.
Los, mein Pferd, mein Liebling, lauf. Einmal noch.
Schilfboot, Floß, Katamaran. Du hast geschwitzt, hast gerechnet und gebaut, und die ganze Zeit wusstest du, dass du am Ende nicht gehen wirst. Du hast mich beschäftigt gehalten. Rechnen, navigieren, nähen. Seile knüpfen. Du wolltest nicht, dass ich selbst ein Boot baue, allein, und ohne dich gehe.
Ich reite seitlich an das Schloss heran und lasse mein Pferd an der Orangerie, dort klappern die Hufe nicht. An der Schwelle ziehe ich die Schuhe aus. Ich meide die knarzenden Stellen des Parketts.
Vielleicht glaubst du gar nicht an die Alpen. Aber ich, ich glaube daran. Ich habe die Gemälde gesehen und die Atlanten mit den Höhenlinien. Ich habe den Ozean rauschen hören. Und ich kenne das Boot. Ich kenne es auswendig. Ich kann es steuern.
Zuerst sehe ich bei Else und Alexander nach. Hier ist das Kind nicht. Sie schlafen Rücken an Rücken. Elses Haar auf dem weißen Damast, die Bettdecke, die sich mit ihrem Atem hebt und senkt. Merk dir das, denke ich, merk dir das, Lola. Ich würde sie gern küssen. Einmal noch. Rosen und Lavendel. Sogar Alexander würde ich gern küssen. Ich darf sie nicht wecken. Ich schließe die Tür.
Das Kind liegt bei Wilhelm. Er hält es fest im Schlaf, der Kopf des Kindes liegt an seiner Brust. Der Atem des Kindes geht schneller als der von Wilhelm.
Nein, denke ich. Du hast das Kind gesehen, und da hattest du Angst, dass ich hierbleibe. Vielleicht warst du ja wirklich bereit, mit mir wegzufliegen. Aber dann hast du gesehen, wie ich das Kind auf dem Arm halte. Du hast gehört, wie das Kind meinen Namen sagt. Du hast gehört, wie ich seinen Namen sage. Lola und Friedrich.
Wilhelm bewegt sich, schlägt die Augen auf, sieht sich um, sieht mich, fährt hoch, reißt das Kind an sich, dann erkennt er, wer ich bin.
»Lola.«
»Ja.«
Auch das Kind ist aufgewacht, schläfrig blickt es zwischen uns hin und her. Ich lege mich zu ihnen auf das Lager, das Kind seufzt, schmiegt sich an uns und schläft weiter.
Ich schließe die Augen, nur kurz, nur ganz kurz, ich möchte nur ganz kurz so liegen. Ich darf nicht einschlafen.
»Lola, was ist los?«
Ich öffne die Augen. Das Kind hält uns beide fest. Wilhelm sieht mich an.
»Er wird ihn umbringen«, sage ich.
Wilhelm nickt. Dann schüttelt er den Kopf. »Das wird er nicht schaffen. Er wird bald entschwinden. Und bis dahin passe ich auf. Ich passe einfach immer auf.«
Er versucht, meinen Blick zu halten. Er blinzelt.
Das kannst du nicht, denke ich. Du kannst ihn nicht immer im Arm haben. Friedrich ist Friedrich. Friedrich ist schlau. Er ist immer noch stark.
»Er wird eine Gelegenheit finden«, sage ich.
Wilhelm greift das Kind noch fester. Das Kind seufzt, schläft weiter. Wilhelm streichelt seinen Kopf, küsst seine Stirn. Er sieht mich nicht an.
»Du willst ihn mitnehmen, oder?«
Ich hole Luft. Ich sage nichts. Ich habe nichts verraten über das Boot. Seit ich sprechen kann, schweige ich darüber. Nachdenken, Lola. Dass Friedrich dich getäuscht hat, muss nicht bedeuten, dass er in jedem Punkt gelogen hat.
Wilhelm sieht mich nicht an. Er streichelt das Kind.
»Friedrich glaubt, du bist ein Spitzel.«
Wilhelm streichelt weiter das Kind. »Aber was glaubst du, Lola?«
Ich weiß es nicht. Ich schweige.
Endlich blickt Wilhelm auf. Diesmal blinzelt er nicht. »Dass ich etwas über dich weiß, heißt nicht zwangsläufig, dass ich dich verrate.«
Wilhelms Grinsen. Die Linien um seine Augen. Ich kann das nicht deuten.
»Was weißt du denn über mich?«
»Ich glaube, du hast ein Fluchtfahrzeug. Ich glaube, es funktioniert. Ich glaube, du kannst es steuern. Und ich glaube, du hast etwas mit Friedrich gemacht. Sonst hätte er dich nicht gehen lassen.«
Wilhelms Blick ist warm wie immer, ich erkenne nicht, was das bedeutet.
»Ich habe ihn gefesselt«, sage ich, »im Hangar.«
Wilhelm nickt. »Ist er verletzt?«
»Nein.«
»Gut«, sagt Wilhelm. »Warte hier.« Er schiebt das Kind in meine Arme und steht auf. »Lo-La«, sagt das Kind, es sieht mir in die Augen, berührt meine Nase, mein Haar, lacht.
Als Wilhelm zurückkommt, hält er etwas in den Händen. »Da«, sagt er, »für dich.«
Es ist ein Stück Papier, eine ausgerissene Buchseite, wahrscheinlich aus der Bibliothek. Der Text ist vollständig übermalt, schwarze Grundierung, darauf mit weißen Pinselstrichen das Gesicht einer Frau. Ich kenne das Gesicht, aber es sieht nicht aus wie auf den Bestandsgemälden. Der Blick ist ganz anders. Es ist der Blick, den wir vermeiden sollen.
»Bin ich das?«
Wilhelm lächelt. »Das ist die alte Lola, sie hat es selbst gemalt. Kurz danach war sie weg.«
Ich fahre mit dem Finger die Gesichtszüge entlang. Dann drehe ich das Papier um. Keine Notiz, nichts. Die Farbe hat sich bis auf die Rückseite gesogen, auch hier ist kaum noch etwas vom Text zu erkennen, nur ganz unten die Seitenzahl: 163, und knapp darüber einige Bruchstücke der untersten Zeilen:
niemand nlaß erhalt gang w
stimmt. ehe jetzt ließe ihn.«
»Danke«, sage ich.
Wilhelm nickt.
»Was ist mit ihr passiert?«
Er sieht mich an, als wolle er mir die Gelegenheit geben, die Antwort lieber nicht zu hören.
»Was ich weiß, wird dir nicht helfen. Ich kann dir nur sagen, dass Friedrich lügt, wenn er sagt, er konnte sie nicht finden. Er muss sie noch gesehen haben. Etwas muss passiert sein. Es gab Kampfspuren. Er sah übel aus. Kratzer, blaue Flecken, eine Bisswunde am Hals. Aber was das bedeutet, weiß ich nicht. Friedrich hat nie mit uns darüber gesprochen. Er hat gesagt, ein Wildschwein habe ihn im großen Garten angegriffen, während er nach Lola gesucht hat. Aber das kann nicht stimmen. Die Bisswunde war von einem Menschen.«
»Ein Halbmond.«
»Ja.«
»Warum hast du mir das nie gesagt?«
Seine Mundwinkel zucken. »Ich habe es dir gesagt. Gerade eben.«
»Du hättest es mir früher sagen müssen.«
»Hättest du mir geglaubt?« Ein Lächeln.
Ich weiß es nicht.
»Vielleicht hat sie den Kampf gewonnen und ist abgehauen«, sagt Wilhelm, »das ist zumindest die Geschichte, die ich mir vorstelle.«
Ich nicke. Vielleicht wartet sie auf mich, denke ich, in den Alpen.
Wir liegen lange so, das Kind zwischen uns, und sehen uns an.
»Ich weiß es nicht«, flüstere ich. »Ich weiß nicht, ob ich ihn mitnehmen will.«
Ich bekomme diese Bilder nicht aus dem Kopf, die aus dem Archiv. Erstickt. Ertrunken. Vielleicht ist es besser für ihn hier. Vielleicht kann Wilhelm das Kind beschützen. Vielleicht können wir den alten Friedrich einsperren, bis er entschwindet.
»Wer bin ich, das zu entscheiden.«
»Du bist Lola. Du bist jetzt seine Lola, er hat dich ausgesucht. Wer soll es sonst entscheiden?«
»Du könntest mitkommen, wenn du willst. Es müsste gehen. Du bist leichter als Friedrich.«
Wilhelm nimmt meine Hand. Er zieht die Nase hoch. Eine Träne, ein Lächeln, dann lässt er los.
»Das ist eure Flucht, nicht meine. Ich muss hierbleiben.«
Ich frage nicht weiter.
Er hilft mir, dem kleinen Friedrich seinen Thermoanzug anzuziehen, und trägt ihn neben mir die Flure entlang, die Treppen hinunter, nach draußen, bis zum Pferd.
»Erzähl ihm von mir«, sagt er. Ich verspreche es.
Er umarmt mich fest, dann lässt er mich los, und während ich aufs Pferd steige, geht er vor dem Kind in die Knie und nimmt sein Gesicht in die Hände. »Lola wird dir von mir erzählen. Lola wird dir von den Alten singen. Du aber wirst jemand Neues sein. Ihr beide. Ihr werdet neu sein.«
Er küsst ihn auf die Stirn, einmal noch, dann reicht er ihn mir nach oben.
»I-Em«, sagt das Kind, »Lo-La.« Es schmiegt sich an mich. Ich wickle es ins Tuch und binde es an mich.
»Das wird funktionieren, Lola. Südsüdost, du hältst einfach immer Kurs, dann wirst du ankommen.«
Ich frage nicht, woher er das zu wissen glaubt und warum er sich da so sicher ist.
Wilhelm nickt, keine Träne mehr. »Morgen Abend reite ich nach Tempelhof und sehe nach, und wenn ihr weg seid, lasse ich Friedrich raus.«
An der Ostkehre drehe ich mich um und leuchte mit meiner Kopflampe zurück. Wilhelm steht immer noch da, ganz klein. Ich hebe die Hand, ich weiß nicht, ob er das sieht, dann treibe ich das Pferd an.
»Los, einmal noch, einmal noch zurück.«
Diesmal reiten wir schneller, die Hufe wirbeln den Schnee auf. Ich summe dem Kind das Winterlied, ich singe ihm das Häschenlied, ich spreche ihm die Lieder vor, die mir Martin in den Sommernächten in den Kopf gelegt hat.
Er sieht die abgerissenen Rückseiten der Stadt
Er sieht den gewundenen Ozeanweg
Und alles wurde gemacht für dich und mich
All das wurde gemacht für dich und mich
Das Kind schließt die Augen, döst, ich halte es fest. Über uns reißen die Wolken auf, eine dünne Mondsichel. Sterne.
Das Pferd kennt den Weg, es will hinter dem Kreuzberg nach Norden, aber ich treibe es weiter geradeaus.
»Heute nicht, mein Liebling, heute nehmen wir den weiten Weg.«
Wir reiten weiter ostwärts, bis zum Südstern, dann erst nehmen wir den Weg bergauf, zur Freiheit. So halten wir Abstand zum Gebäude.
Noch ist es dunkel. Noch ist es Nacht.
Das Pferd bleibt bei uns stehen, während ich die Weihtücher vom Boot ziehe. Das Kind ist aufgewacht. Es scheint nicht beunruhigt.
Ich singe dem Kind, vielleicht singe ich auch mir selbst, während ich den Ballonstoff auspacke.
Wir werden den hellen und leeren Himmel sehen
Wir werden die Sterne sehen, die so hell leuchten
Die Sterne sind für uns gemacht heute Nacht
Das Pferd bleibt weiter bei uns stehen und sieht mir zu. Vielleicht will es sich verabschieden. Hinter den Mauern geht die Sonne auf. Der Himmel färbt sich erst gelb, dann silbern. Als ich das Gasventil öffne, galoppiert mein Pferd davon, über die weite Freiheit, zu den Büffeln.
Der Ballon füllt sich und nimmt seine Form an. Das Kind reißt die Augen auf. »Komm«, sage ich. Ich wickle es aus dem Tuch, hebe es hoch, in die Sitznische, und klettere hinterher.
Ich öffne noch einmal das Ventil, es zischt, und wir heben ab. Schweben lautlos immer höher.
Ich halte das Kind, es hält sich an mir fest, wir atmen ruhig, unter uns die Freiheit, die Pferde und Büffel, die Hangars, Kirchtürme, die Große Halle, die Stadt, der Ort.
Wir steigen höher und höher, ich halte das Kind fest, höher, und dann können wir über die Mauern sehen.
Wir schweben über den Rand.
Der Ozean existiert. Er ist grau und endlos und glänzt.