Im Winter bewegt sich Friedrich kaum noch aus Tempelhof weg. Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer mit ihm. »Das ist der sicherste Ort«, sagt er. »Wir müssen am Rand bleiben. Wir müssen so weit wie möglich vom Tor wegbleiben. Und wir müssen höhergelegene Gebiete aufsuchen.« Wenn ich ihn sehen will, muss ich ihn besuchen.

Wir sitzen mit dem Rücken an der inneren Mauer und hören der Brandung zu. Die Wellen brechen an der Außengrenze. Im Sommer ist das kaum zu hören, ein leises Rauschen, das mit dem Brummen der Pumpen verschwimmt, monoton und beruhigend. Aber jetzt ist es ein Donnern, und wir spüren die Erschütterung in unseren Wirbelsäulen. Wir spüren sie, obwohl das unmöglich ist. Friedrich hat seismische Messungen angestellt, der Doppelring bewegt sich nicht.

»Das ist der sicherste Ort«, sagt er.

Dir fehlt das Vertrauen, denke ich, nirgendwo könnte es sicherer sein als in der Festung. Die

»Ja«, sage ich.

Der Nebel verbirgt die Stadt, wie wir sie kennen. Wenn wir den Blick nach vorn richten, sehen wir die Dächer nicht und nicht die Türme, wir sehen die Kuppeln nicht und nicht die Mauer. Wir sehen nur unser Feuer und dahinter die große Ebene der Freiheit, in der Ferne verwischt sich das Panorama, kein Himmel, kein Beton, nur Weiß. Dahinter könnte sich alles verbergen.

Mit der Schneedecke sieht die Freiheit aus wie eine vereiste Wasserfläche, vereinzelt ragen kleine Inseln mit Sträuchern heraus. Auf der anderen Seite stehen zwischen den Bäumen die Büffel und die Pferde. Die Tiere bleiben beieinander, und sie meiden die Nähe der Mauer. Vielleicht ein Instinkt, den wir verloren haben.

»Ich weiß noch, wie du angekommen bist«, sagt Friedrich. Ich kenne die Geschichte, er hat sie mir tausendmal erzählt, früher habe ich sie gern gehört. Klein war ich, dünn und blass, geschrien habe ich und getreten, wie eine Verrückte getreten und geschrien, und trotzdem habe ich schon ausgesehen wie eine echte Lola, wie die alte Lola, seine Lola.

Drei Nächte vorher, als die alte Lola entschwunden war, hat er nicht geweint.

»Ich weiß auch nicht, warum nicht«, sagt Friedrich.

»Vielleicht hast du bis dahin gehofft, dass sie doch noch zurückkommt«, sage ich, »dass sie nicht wirklich entschwunden ist. Es hätte ja sein können, dass sie sich nur versteckt, irgendwo im ungesicherten Gebiet. Die Stadt ist groß.«

»Nein«, sagt Friedrich, »ich wusste, dass ich sie nicht wiedersehen werde. Ich habe sie gerufen, drei Mal, mit dem Linearfunk und mit dem Echo, sie hat nicht geantwortet, und da wusste ich es.«

Er steht auf, dreht mir den Rücken zu, greift sich eine Handvoll Reisig und wirft es ins Feuer. Die Flammen lodern kurz auf, dann beruhigen sie sich.

Das Entschwinden der alten Lola stellt eine Ausnahme dar. Sie ist entschwunden, bevor ich angekommen bin. So etwas passiert eigentlich nicht. Eigentlich hätten wir einen Winter zusammen in der Festung leben sollen.

Friedrich schüttelt den Kopf. »Nein. Sie wäre nicht abgehauen, ohne etwas zu sagen. Das hätte sie nicht gemacht. Mir hätte sie es gesagt.«

»Ja«, sage ich, »ganz bestimmt.«

»Sie ist entschwunden«, sagt Friedrich.

»Ja.«

»Außerdem ist noch nie jemand abgehauen.«

Das kannst du gar nicht wissen, denke ich. Ich sage: »Ja, ich weiß.«

»Noch nie«, sagt Friedrich.

»Du wärst der Erste«, sage ich.

»Wir«, sagt Friedrich. »Wir werden die Ersten sein. Du und ich.«

Ich sage nichts.

Später, als es kälter wird, will er mir das Boot zeigen. Arm in Arm gehen wir über die verschneite Freiheit, unsere Schritte klingen wie Zähneknirschen. Bei den Büffeln und Pferden machen wir halt. Die Tiere brauchen nicht viel Pflege, ihr Futter finden sie auch unter dem Schnee, im Grunde könnten wir sie sich selbst überlassen, aber es ist gut, wenn sie an uns gewöhnt sind, vor allem die Pferde. Wenn wir uns nähern, kommen sie auf uns zu und begrüßen uns, sie schnauben, und manchmal legen sie ihre warme Stirn an unsere. Die Büffel heben die Köpfe.

Ich bin gern bei den Tieren. Sie dampfen warm, riechen nach Kraft, und es gefällt ihnen, wenn ich sie am Kopf kraule. Ihr Fell ist rauh und dicht.

Beim Melken ist die Reihenfolge wichtig. Erst sind die Kälber an der Reihe, der Rest ist für uns. Heute sind es etwa vier Liter, die wir mitnehmen, nicht übertreiben, melken wir sie zu viel, produzieren die Büffelmütter noch mehr, und dann fangen sie an, nach uns zu rufen, wenn wir unserer Aufgabe nicht nachkommen. Das kann im Sommer zum Problem werden oder spätestens, wenn wir irgendwann nicht mehr hier sein sollten.

Tief im Keller des Flughafengebäudes, dort, wo sonst niemand hingeht, weil es viel zu dunkel und viel zu verwinkelt ist, liegt das Boot. Ich bin die Einzige, die davon weiß. Ich musste versprechen, niemandem davon zu erzählen, vor allem Wilhelm nicht.

Der Weg führt durch unzählige Gänge, obwohl

Das Boot liegt in Einzelteilen in einer großen Halle. Seit ich mich erinnern kann, baut Friedrich daran. Schon als ich noch ein Kind war, hat er mich hierher mitgenommen, sobald ich alt genug war, ein Geheimnis zu hüten. Er hat mir Stoffballen gezeigt, Werkzeuge, Holz- und Metallstücke und gesagt: »Das ist unser Boot, Lola. Damit fahren wir weg.«

Ich suche die Bruchstücke mit meinem Lichtkreis ab. In meinen Augen hat sich nichts verändert, seit ich zuletzt hier war. Ich glaube nicht, dass Friedrich jemals damit fertig wird. Das ist ein beruhigender Gedanke. Er soll hierbleiben. Seit ich mich erinnern kann, ist er da. Ich stelle mich neben ihn und lehne meinen Kopf an seinen Hals. Dort hat er eine helle Narbe, wie eine Mondsichel. Wenn wir nebeneinander stehen, leuchtet dieser Mond genau auf der Höhe meines Mundes. Das ist meine Lieblingsstelle. Unsere Lichtstrahlen kreuzen sich. Friedrich legt seinen Arm um mich. Er atmet schwer. Der Weg hat ihn angestrengt, und er ist aufgeregt.

»Ja«, sage ich.

»Und ich habe die Beschichtung für die Nähte verändert. Der Ballonteil kann so größere Hitze aushalten.«

»Ja«, sage ich, »das ist gut.«

Die Konstruktion besteht aus zwei Teilen. Es gibt den Ballon, der nach der Überwindung der Doppelmauer eingeholt werden soll, vielleicht wird er auch abgeworfen werden müssen, das hat Friedrich noch nicht entschieden.

Ballons waren die ersten Fahrzeuge, mit denen Menschen in die Luft stiegen, auch unter den Alten gab es immer mal wieder welche, die so etwas selbst gebaut haben. Das System ist nicht sehr kompliziert, bloß die Näherei ist eine endlos monotone Arbeit.

Der Ballon muss nur aufsteigen, er muss groß genug sein, um zu tragen, was unten daranhängt, er muss die vermutlich recht kurze Distanz zwischen der äußeren und inneren Mauer überwinden und dann wieder absinken. Wenn man es richtig macht, ist das nicht gefährlich, sagt Friedrich, wir verwenden ja Gas nur für den Brenner. Er hat dafür

Der Knackpunkt ist der untere Teil, das Boot. Es muss leicht genug sein für den Ballon und stabil genug für die Fahrt von unbestimmter Länge.

Unzählige Modelle hat Friedrich sich ausgedacht, zu bauen begonnen, getestet und wieder verworfen, diverse Flöße, zwei Mini-U-Boote, einen Katamaran, ein Schilfboot, alles umsonst.

Das aktuelle Modell ist recht klein und eine Art Kapsel. Es ist aber kein U-Boot, es soll an der Oberfläche schwimmen und mit einem Segel angetrieben werden.

Der Innenraum wird sich wasserdicht schließen lassen. Links und rechts müssen noch Auf‌triebskörper angebracht werden. Friedrich hat eine Belüftung entworfen, und es gibt eine Kuppel aus durchsichtigem Kunststoff, durch die man nach draußen sehen kann, ohne die Kapsel zu verlassen.

Etwa 370 Seemeilen. Plus/minus.

Ich löse mich von Friedrich, gehe einen Schritt zur Seite und leuchte sein Gesicht an. Wenn er lacht, sieht er jung aus und anders. Er leuchtet mich auch an und legt den Kopf schräg.

»Das wird funktionieren, Lola«, sagt er, »du wirst sehen. Weißt du noch, wie ich dir von Odysseus erzählt habe?«

»Ja«, sage ich, »ich weiß. Es war aussichtslos, aber er hat nicht aufgegeben, und am Ende ist er angekommen.«

»Genau.« Friedrich lacht.

Ich habe die Landkarten gesehen. Wieder und wieder habe ich mich mit Friedrich darübergebeugt. Entfernungen, Höhenlinien, Himmelsrichtungen, das alles haben wir mit unseren Fingern nachgefahren, das alles haben wir uns gemerkt. Südsüdwest. Warum sollten die Landkarten ausgedacht sein?

»Warte mal«, sage ich. »Ich hab was für dich.« Ich gehe in die Hocke, wühle in meinem Rucksack und ziehe den gelben Mantel heraus. »Da«, sage ich. »Vielleicht kannst du das brauchen. Eine Stelle ist ein bisschen verschimmelt, aber der Rest ist gut.«

»Gummi! Lola!« Friedrich umarmt mich, hebt

»Aus dem ungesicherten Gebiet. Und ich hab noch was gefunden. Das zeig ich dir oben.«

Friedrich hat eine Ecke des südwestlichen Hangars mit Fellen und Stoffen abgeteilt und sich dort eine Behausung eingerichtet. Alle Möbel hat er selbst gebaut. Es gibt ein großes Bett, einen Tisch mit fünf Stühlen und verschiedene Truhen und Kästen, in denen er Karten und Bücher aufbewahrt. Das sollen wir nicht. Die Bestände sollen in der Staatsbibliothek verbleiben. So steht es in den Schriften. Aber die Schriften sind alt und müssen interpretiert werden, sagt Friedrich, und außerdem wird er alles zurückbringen, und wer im ungesicherten Gebiet herumwandert, soll mal lieber die Klappe halten.

Ich setze mich an den Tisch.

»Willst du was trinken?«, fragt Friedrich.

»Nein, nichts Flüssiges, bitte!«

Vorsichtig packe ich das Papier aus. Es ist noch intakt.

Friedrich setzt sich, sieht sich meinen Schatz an und nickt.

Ich hatte mir mehr Begeisterung erhofft.

»Papier«, sage ich. Er nickt.

»Nicht aus der Staatsbibliothek«, sage ich.

»Und da steht was drauf.« Er nickt.

»Nulleins, nicht übertragbar, berec«, lese ich vor. Er schweigt.

»Es könnte vielleicht berechtigt heißen«, sage ich, »oder berechnet oder berechnend.« Nichts.

»Friedrich?«

»Ja«, sagt Friedrich. »Entschuldige bitte. Manchmal wird mir die Ähnlichkeit zu viel.«

Ich bin still, sehe ihm in die Augen und warte.

Friedrich seufzt. »Entschuldige, du kannst das ja gar nicht wissen. Lola, also, die alte Lola, meine Lola, die hat auch manchmal Papier gefunden. Im ungesicherten Gebiet. Sie hat es gesammelt und bei mir gelassen. Ich dachte immer, das ist ein Geschenk, für mich. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, vielleicht war es auch für dich.«

Er steht auf, langsam, und geht zu einer der Truhen. Von hinten sieht er traurig aus und müde. Die alte Lola hat ihn als Kind gekannt und als jungen Mann. Und sie hat den Friedrich vor ihm gekannt. Als er zurückkommt, hält er eine Blechdose in den Händen.

»Da«, sagt er, »für dich.«

Es sind sieben verschieden große Papierstücke darin, mit meinem haben wir also acht, alle mehr oder weniger sichtbar beschriftet, manche

CH DU HÄLT

isein ritter

01 – nicht übertragbar – berec

s st alles gut

wir sic m gen eigen

bin da

SP E EL

NICHT VERGESSEN!

Vielleicht ergibt sich eine Geschichte, wenn ich die Stücke anders sortiere, denke ich. Viele Geschichten vielleicht.

»Danke«, sage ich.

Friedrich legt seinen Arm um mich und sieht mich an, als suche er etwas. Ich greife in seinen Nacken, ziehe ihn zu mir und küsse ihn. Er ist warm und schmeckt nach Salz. Sein Atem ist angenehm, laut und gleichmäßig. Als ich mich von ihm löse, sucht er nichts mehr und lächelt.