Im Sommer kommen die Schiffe. Ich stelle sie mir groß vor, weiß und glänzend. Sehr groß, sehr weiß und sehr glänzend. Ich stelle mir vor, dass sie aus einem Material gemacht sind, das mir unbekannt ist. Ein Material, das aussieht wie Eis und das härter ist als alles, was es innerhalb der Mauern gibt.
Wahrscheinlich sind die Schiffe ganz anders beschaffen. Sie könnten aus Holz sein, mit großen bunten Segeln, prall im Wind, und an den Masten knattern Fahnen. Oder es handelt sich um Schaufelraddampfer, golden lackiert. Vielleicht auch um schwimmende Hochhäuser, aus Eisen, mit riesigen Schornsteinen. Oder es sind Galeeren mit hundert Rudern im gleichen, perfekten Takt. Alles ist möglich.
Wilhelm sagt, das sei das Schönste daran, in den Mauern zu leben, dass wir uns die Außenwelt vorstellen können, wie wir wollen, eine größere Freiheit gebe es nicht. Den Ozean stellt Wilhelm sich hell vor, an Sonnentagen türkis, an trüben Tagen grau. Ich glaube, der Ozean ist dunkel, sehr dunkel, wie der Weltraum.
»Du bist auch dunkel«, sagt Wilhelm, »viel zu dunkel, vor allem da drin«, er wälzt uns herum, sodass er auf mir liegt, und tippt mir an die Stirn.
Er kommt mir viel zu leicht vor, wie immer. Aber er ist warm, und um seine Augen strahlen Linien in alle Richtungen. Am Ende des Sommers werden sie hell schimmern, aber nur von Nahem und nur, wenn er nicht lächelt. Jetzt gerade sieht er besorgt aus.
Wahrscheinlich habe ich wieder den bösen Blick gehabt. Den sollen wir vermeiden, in unseren Gesichtern soll sich das Edle, das Hilfreiche und das Gute zeigen, so steht es in den Schriften. Trotzdem passiert mir dieser Blick manchmal, wenn ich nachdenke. Seit der Nacht schon glaube ich, einen Ton zu hören, leise zwar, aber gleichmäßig. Eine hohe Frequenz, die unter der Schädeldecke ziept. Es könnte das Signal sein. Erst kommt das Signal, dann kommen die Schiffe. Es könnte aber auch sein, dass der Ton nur in meinem Kopf existiert.
Ich versuche, an Wilhelms Blick zu erkennen, ob er es auch hört. Seine Iris schimmert hellgrau, ein dünner Ring, die Pupillen sind weit und dunkel, was seltsam ist, denn es ist hell, vielleicht konzentriert er sich und lauscht ebenfalls, schwer zu sagen. Bevor ich es erraten kann, küsst er mich.
Als er die Augen wieder öffnet und meinen Blick bemerkt, schüttelt er den Kopf. Und dann kitzelt er mich, bis ich lache, das dauert nicht lange, es dauert nie lange, Bauch, Achseln, Nacken, ich lache, und er ist zufrieden und legt sich wieder neben mich. »Ist doch gut hier«, sagt er, und ich gebe zu, es ist gut.
Wir liegen im Griechischen Hof auf einem Lager aus Büffelfellen und Laken. Wilhelm ist gestern aufs Dach geklettert und hat die Glasdecke geputzt, sodass die Sonne hereinfällt. Obwohl es recht früh am Morgen sein muss, wärmt sie genug, um nackt herumzuliegen. Vor zwei Wochen noch lag Schnee, eine geschlossene Decke, und auf dem Fluss schwammen Eisschollen, wir haben Wolken ausgeatmet und uns nie vollständig aus unseren Thermoanzügen geschält, wenn wir miteinander geschlafen haben nicht, und auch nicht zum Waschen.
Die Luft auf der Haut ist neu und angenehm. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Der Ton kommt mir mittlerweile auch lauter vor.
Ich halte den Atem an und warte darauf, dass Wilhelm fragt, was mit mir los ist. »Was ist denn nun schon wieder?«, wird er fragen, und ich werde »Ohrgeräusche« sagen, und dann wird er lachen, mich an sich ziehen, und wir werden miteinander schlafen, bis das Geräusch aufhört. Aber er fragt nicht, er lauscht auch. Er atmet flach und sieht mich an. Wenn sich seine Iris zusammenzieht, erscheinen bernsteingoldene Flecken darauf.
Erst als der Ton zu laut ist, um ihn zu ignorieren, sagt Wilhelm etwas: »Komm, Lola, das wird dein Sommer!« Er steht auf und wirft mir meine Sachen zu. »Komm! Frühstück! Wir suchen das Paket!«
Es liegt zwischen den Büschen am Kupfergraben und blinkt nur noch schwach, fast hätten wir es übersehen. Vielleicht ist es defekt oder es ist später, als wir dachten, und die Batterie ist leer. In beiden Fällen könnte es sein, dass es sich nicht öffnen lässt. Bei dem Gedanken werde ich unruhig. Ich habe Hunger. Wilhelm fischt das Paket aus dem Gestrüpp und legt es mir in die Hände. Ich puste den Dreck von der Oberfläche und lege meinen Daumen auf das Blinklicht. Es dauert ein bisschen, aber dann klackt der Mechanismus auf. Glück gehabt. Großes Glück sogar, wie wir feststellen, denn zusätzlich zum Knäckebrot und zu den Rosinen finden wir heute Kekse vor, und es gibt Auberginencreme, Hummus und Apfelmus. Nicht schlecht, denke ich.
»Nicht schlecht«, sagt Wilhelm, »das muss am Saisonauftakt liegen. Die wollen uns gnädig stimmen.«
Er stopft die Beutel wieder ins Paket und sieht mich an. Jetzt, da uns die Kekse sicher sind, habe ich es nicht mehr eilig. Bis die anderen hier sind, wird es noch dauern. Beim Signal sollen wir uns unverzüglich auf der Kerninsel zusammenfinden, aber Friedrich muss alle fünf Pferde aus Tempelhof mitbringen, das wird ihn bremsen, und Else und Alexander kommen zu Fuß aus Charlottenburg. Wir haben noch genug Zeit.
»Oben entlang!«, befehle ich, und wir gehen oben entlang.
Der Fluss fließt schnell und klar, im Gestrüpp sind schon einzelne Knospen zu entdecken, und weil die Sonne so schön scheint, und das nur für uns, weil das Eis geschmolzen ist und das Wasser glitzert, werde ich übermütig, ziehe Schuhe und Anzug aus und balanciere nackt auf der Brüstung entlang. Wilhelm lacht und stellt sogar kurz das Paket ab, um mir zu applaudieren.
Als wir zu unserem Schlaflager im Griechischen Hof zurückkommen, ist mir dann doch kalt, und mitten im Raum steht Friedrich. Einfach so, steht da, viel zu früh, und stochert mit dem Fuß in unserem Bettzeug herum: »Das müsst ihr wegräumen, bevor die Übersetzer kommen!«
Als wüssten wir das nicht.
»Ist ja noch Zeit«, sagt Wilhelm, »komm, setz dich und iss mit uns.«
Friedrich würdigt ihn keines Blickes. Stattdessen mustert er mich von oben bis unten, er bleibt an meinen Knien hängen, wahrscheinlich sind sie dreckig, ich zwinge mich, nicht hinzusehen, dann fixiert er meine Augen, streng. »Sagt mal, seid ihr taub? Habt ihr das Signal nicht gehört?«
Ich halte seinem Blick stand und überlege, ob ich mich bedecken sollte, mit einem Laken vielleicht. Wäre Friedrich nicht da, würde ich mich in ein Büffelfell wickeln oder gleich den Thermoanzug anziehen, so kalt ist mir, aber wenn ich das mache, wird Friedrich es auf sich beziehen, wie immer. Ich entscheide mich also dagegen. Stattdessen setze ich ein Grinsen auf, drücke den Rücken durch und sage: »Doch, ich habe es gehört. Aber ich konnte nichts machen. Wilhelm hatte Wachs in den Ohren, und mich hatte er gefesselt.«
»Witzig.« Obwohl Friedrich seine Mundwinkel nach unten zieht, kann ich sehen, dass er es tatsächlich ein bisschen komisch findet. Er muss wegsehen, um nicht zu lachen. Das reicht, mich zu versöhnen.
»Es gibt Kekse«, sage ich, »und Apfelmus.«
Friedrich nickt, er kommt auf mich zu, streicht mir eine Strähne aus der Stirn, ich halte ihn nicht davon ab, und dann nimmt er ein Laken aus dem Haufen und wickelt mich darin ein wie in eine Toga. Sein Atem riecht bitter. Als ich noch klein war, hat er mich mit unter seinen Mantel genommen, wenn mir kalt war.
»Jetzt siehst du aus wie die da oben!«
Wilhelm hat das Essen für uns drei ausgebreitet und sich schon etwas in den Mund geschoben, er kaut beim Sprechen, schluckt, grinst und zeigt auf den Fries, der hoch über uns um die Wand läuft. An der Ostseite fehlen fünf Meter.
»Friedrich, erzählst du uns die Geschichte?«
Ich setze mich neben Wilhelm, sodass wir gemeinsam zu Friedrich aufschauen können. Ich ziehe die Knie an, nehme mir einen Keks und sage: »Ja, bitte, Friedrich!«
Als wir noch Kinder waren, hat er uns oft Geschichten erzählt. Von den sieben Raben, vom Kalten Krieg und den Eisheiligen und von Albrecht dem Bären. Fast alles, was ich weiß, weiß ich von ihm.
Friedrich schaut auf uns herab, auch er erinnert sich. »Wir müssen mit den Vorbereitungen anfangen«, sagt er. Aber er lächelt.
»Erzähl!«, rufen wir.
Friedrich lacht, setzt sich, isst langsam einen Keks, Bissen für Bissen, wir hängen an seinen Lippen, und dann fängt er an. Bei den Reimen murmeln wir mit.
Die Alten, sie sangen von der Stadt am Vulkan, von Brand und von Asche, vom Tod.
Ich will euch reden vom Abendland, von Fluten und Wellen und Not.
Ich will euch reden vom Untergang und von der Rettung, der Festung, den Werten.
Von den Mauern und Säulen, die trotzen den Wassern, und von den heiligen, ewigen Gärten.
»Erzähl!«, rufen wir.
Seht ihr, wie berstend geöffnet der Schlund die Wasser herauslässt, die wilden?
Sie strömen und tosen, und wo sie sich brechen, da malmt es, da ist kein Entrinnen.
Die Menschen, kopfüber, verzweifelt getrieben, sie streben nach sanften Gefilden,
doch stürzen die Pfeiler, es bersten die Straßen, es kehrt sich nach außen das Innen.
Der Mann schirmt sein Weib ab, der Sohn zieht den Vater, vergebens, ihr wisst es, vergebens.
Es rettet kein Opfer, es rettet kein Wille die zitternde Flamme des Lebens.
»Nein«, sagen wir.
Doch fragt ihr nach Trost mich, fragt ihr mich nach Leben?
»Ja«, sagen wir.
So seht dort die fünf, denen Rettung gewährt und Schutz in der Festung gegeben.
»Ich sehe aber sechs«, sage ich. Das sage ich immer an dieser Stelle. »Sechs Menschen, zwei Rinder. Und die sind noch nicht mal richtige Büffel.«
Und Friedrich sagt dann: »Im Lied sind es fünf, weil es immer fünf sind. Die Ewigen. Und es sind Rinder, weil die in der abendländischen Bildtradition geläufiger sind. Europa. Stier. Symbolik. Unterbrich mich nicht!«
Wir nicken uns zu und lächeln uns an, wie immer, weil die Unterbrechung dazugehört und weil er die Strenge nur spielt. Friedrich holt Luft, gleich kommt die letzte Strophe, wie immer, aber da fällt Wilhelm ihm ins Wort. Das ist neu.
Wilhelm sagt: »Ah! Wisst ihr was? Wahrscheinlich ist einer schon doppelt! Es sind ja zwei Kinder dabei, und der ganz vorne ist schon ziemlich alt, bald entschwindet der bestimmt.«
Ich verschlucke mich und muss husten.
Friedrich sieht Wilhelm an, dann den Fries, dann wieder Wilhelm. Er klopft mir auf den Rücken. Dann sagt er: »Ja. So wird es sein.« Ganz ruhig. Und bevor er die letzte Strophe beginnen kann, fliegt die Tür auf, Else und Alexander sind da, außer Atem, Arm in Arm, rote Wangen und ein Strahlen im Gesicht.
»Loli, Lola, die Schiffe sind bald da«, rufen sie. »Was sitzt du da rum, das wird dein Sommer!«