Die Pferde sind aufgeregt. Den ganzen Winter haben wir sie kaum geritten, und nun schütteln sie sich unterm Zaumzeug und bäumen sich auf, alle paar Meter, als wollten sie uns abwerfen.

Doch wir kennen sie besser. Wir kraulen ihnen die Köpfe und murmeln ihnen ins Ohr: »Ist gut, ist gut, ich hab dich auch vermisst, komm, mein Liebling, zeig mir, wie stark du bist.« Denn darum geht es, die Pferde wollen uns ihre Kraft zeigen, sie wollen uns zeigen, dass sie auch ohne uns könnten, wenn sie wollten. Wir wissen das. Aber wir sind die mit den Zuckerrüben und den sanften Worten, sie wollen nicht ohne uns, und auch das wissen wir.

Wo die Straßen gepflastert sind, hallen die Hufschläge von den Hauswänden wider. Gäbe es Menschen in diesen Häusern, sie würden uns hören, schon lange bevor wir in Sicht wären. Sie würden die Fenster öffnen, um zu sehen, wer da solchen Lärm macht, sie würden ihre Hälse aus den Fenstern recken, sie würden die Augen aufreißen, und

Hinter dem Rosenthaler Platz verliert sich das Straßenpflaster, ab hier führt ein Feldweg den Berg hinauf, der die Hufschläge dämpft. Else reitet neben mir. Goldene Wellen, bei jedem Wippen des Pferdes wippen sie mit. Ihre Lippen sind geöffnet, darunter schimmern die Zähne, so sieht sie auch auf den Gemälden aus, vielleicht hat sie das geübt.

»Schön bist du!«, rufe ich ihr zu.

»Ach, Lola«, sagt Else, ich höre es nicht, ich lese es von ihren Lippen.

Else zählt neununddreißig Sommer. Bei meiner Ankunft war sie siebzehn. In der ersten Erinnerung, die ich von ihr habe, trägt sie einen Kranz im Haar, Rosen, Gerste und Kamille und noch etwas Blaues, sie duftet und lächelt zu mir herab. Ich erinnere mich nur an diesen Duft, Blumen, Kräuter und Schweiß, und an das Bild, Pflanzen, Augen, Lippen. Wo oder wann das war, was davor war und was danach, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich sie schon damals geliebt habe.

Meine Liebe zu Else ist das erste Gefühl, an das ich mich erinnern kann. Meine Else, groß, schön

Jetzt bin ich nicht mehr das Häschen. Jetzt bin ich die Ach-Lola. Jetzt zieht sie die Augenbrauen zusammen und fragt mich, wie es mir geht, das geht dehnt sie, als kenne sie die Antwort schon. »Auch mit Willy und Fritz«, sagt sie.

Niemand nennt Friedrich Fritz, außer Else.

»Sag mir, wenn ich mit ihnen reden soll.«

Elses Brauen sind wieder zu ihrer Ausgangsposition zurückgekehrt. Sie sind an beiden Enden gleich schmal, und sie haben einen perfekten, runden Schwung, wie gemalt. Außerdem sitzen sie weit oben, sodass Else immer erstaunt aussieht, auch wenn gar nichts Besonderes ist.

»Ich meine, wenn es dir zu viel wird, wenn sie sich zu sehr streiten deinetwegen, und du stehst in der Mitte«, sagt sie.

Die Fremden sind verrückt nach Elses hohem Augenbrauenschwung. Es gibt Lieder darüber. Dein Blick, goldener Engel, ist eine Frage. Ach, wüsst die Antwort ich, ach, ich wär erlöst.

»Ich komm schon zurecht«, sage ich.

Früher haben wir gemeinsam über Alexander gelacht. Sie weiß das noch. Und sie weiß auch, dass ich weiß, wie sein Gesicht beim Orgasmus aussieht. Und sie weiß, dass ich weiß, wie sie diesen Anblick findet. Diese aufgerissenen, nach oben gedrehten Augen, in denen fast keine Iris mehr zu sehen ist. Das alles weiß sie, aber sie ist jetzt monogam, und monogam bedeutet loyal. »Loyalität, Lola, ist eine Entscheidung.« Das hat sie nicht jetzt gesagt. Jetzt schaut sie nur.

Ich sage auch nichts. Ich sage ihr nicht, dass sie es sich leicht macht mit ihrer Wahl. Ich sage ihr nicht, dass ich eine solche Wahl nicht mehr treffen kann, wo sie das schon getan hat. Ich sage ihr nicht, dass sie mir mal erklären soll, was mit dem einen passieren soll, im Winter, wenn ich mich für den anderen entscheide. Oder für gar keinen. Wir sind fünf. Das ist eine ungerade Zahl. Und aus Friedrich und Wilhelm wird niemals ein Paar, das weiß sie so gut wie ich.

Ich zwinge mich zu einem milden Gesichtsausdruck. Ich zwinge mich, sie nicht zu überholen, noch nicht, eine Weile reiten wir stumm nebeneinander her, sie soll nicht denken, ich wolle mich

Dann erst treibe ich mein Pferd an. »Komm, mein Liebling, zeig mir, was du kannst«, es schnaubt, darauf hat es gewartet, ich nicke Else zu, sie nickt ebenfalls, und dann lasse ich sie hinter mir. Nur ein bisschen Abstand.

Die anderen bleiben zurück, niemand drängt sich neben mich. Der Vorsprung ist mein Vorrecht. Das ist mein Sommer.

Bei der Luftgrenze an der Bernauer Straße halten wir kurz an. Wir sagen das Gedicht für den Springer:

Springer, spring,

wirf fort deine Waffe,

spring, Springer,

das Gewehr wirf fort,

Springer, spring,

Springer, spring, spring!

Wir berühren dreimal unsere Stirnen und Münder, dann reiten wir weiter, ich voraus, die anderen in meinem Rücken, und nun beginnen sie ihren Gesang: »La-la-la-la Lola, la-la-la-la Lo-la …« Ich höre Friedrichs Bass, Elses Messingstimme, Alexanders leises Brummen und Wilhelms kräftigen

Ihre Stimmen tragen mich, das Pferd passt sich dem Takt an, der Gesang wird lauter und lauter, und dann bricht er ab, und wir sind da.