Hier ganz im Norden ist es so, dass du die Mauer erst begreifst, wenn du direkt vor ihr stehst und sie berührst. Im Süden, auf der Freiheit zum Beispiel, ist es anders, dort wirft die Mauer einen solchen Schatten, dass du dir ihrer Präsenz die ganze Zeit bewusst bist. Hier aber reflektiert sie das Sonnenlicht und verblendet sich nach oben hin nahtlos mit dem Himmel. Dass sie menschengemacht ist, verstehst du deshalb erst, wenn du sie anfasst. Die Oberfläche ist glatt und hart, sie leitet Temperaturen kaum, und deine Finger erzeugen kein Geräusch, wenn du sie darübergleiten lässt, deine Handfläche, die du dagegenschlägst, nur ein kurzes Klatschen ohne Echo.
Noch ist Zeit.
Wir lassen die Pferde zwischen den Bäumen im Humboldthain und gehen die letzten Schritte zum Bunker zu Fuß.
Die Schriften sehen eigentlich vor, Artefakte ersten Ranges, wenn sie nicht gerade rituell genutzt werden, ausschließlich auf der Kerninsel aufzubewahren. Aber im Winter merkt niemand, ob wir uns an die Schriften halten. Und im Grunde geht es ja auch nicht darum, die Schriften dem Wortlaut nach zu befolgen. Es geht immer um den Sinn. Wir sind die Ewigen, wir tragen den Sinn der Schriften in uns. Und der Sinn dieses Gebotes ist, die wichtigsten Stücke gut überwintern und nicht zu Schaden kommen zu lassen. Und je weniger Transportwege, desto weniger Risiko. Der Goldhut ist empfindlich. Selbst die Alten haben ihre Kunstschätze zeitweise in Bunkern gelagert.
Natürlich ist dieser Bunker kein Bunker mehr. Der Bau heißt nur noch so. Die Alten hatten ihn als Festung mit vier Türmen gebaut, jeder mit einem Geschütz bestückt. Schon damals gab es Pläne, ihn so umzugestalten, wie er heute dasteht. Eines Tages. Im großen Frieden.
Das Gebäude misst vierzig Meter in der Höhe und siebzig mal siebzig Meter in der Grundfläche. Im Archiv ist zu sehen, wie zwischenzeitlich etwa die Hälfte der Höhe eingegraben und überwuchert war und die Hälfte der Grundfläche gesprengt. Davon ist nichts mehr zu erkennen. Die Fassade ist vollständig verkleidet und ahmt die Gestaltung der babylonischen Architektur der benachbarten Schleuse nach. Wobei nachahmen nicht das richtige Wort ist. Übertreffen ohne zuzutreffen vielleicht. Aber das ist nur Wilhelms Witz über Bauten wie diese.
Beeindruckender als die Außenfassade finde ich das Innere. Die Wände sind über zwei Meter dick und schirmen jedes Geräusch ab. Dies ist das einzige Gebäude in der Stadt, in dem du das Brummen der Pumpen nicht hörst.
Selbst in den Kellern unter Tempelhof ist es da, beständig und eintönig. Hier aber: nur das Hallen unserer Stimmen und Schritte.
Alexander geht voraus. Er trägt eine Fackel.
Zu Beginn jeder Saison müssen wir den Strom erst wieder anschalten. Das Steuerungszentrum befindet sich unten im Nordwestturm. Ein kurzer Gang, an den Wänden sind noch Einschusslöcher erhalten, von den großen Kämpfen der Alten, je größer der Krieg, desto größer der Frieden. Dann eine metallene Tür, wir brauchen keinen Schlüssel, dahinter ein Raum, ja, man kann noch Raum sagen, nicht sehr lang, nicht sehr breit, nicht sehr hoch, es ist keine Halle, trotzdem Tischreihen und Tischreihen voller Schalter, unzählige Knöpfe und Hebel, alle sind beschriftet, aber wichtig ist nur einer, zumindest in diesem Augenblick und für uns. Ein großer Hebel, der sich nach oben und unten schieben lässt. Unten steht Winter graviert, oben Sommer. Alexander gibt seine Fackel an Else ab, sie leuchtet ihm, er umfasst den Hebel mit beiden Händen, es braucht etwas Kraft, dann rastet er ein, und das Licht geht an, mit einem Flackern.
Alexander dreht sich zu uns um und strahlt, Else blickt ihn an, sie wirken ständig wie gemalt, auch jetzt, mit der Fackel und allem. Glühendes Gold. Sie könnte die Fackel auch löschen, der Strom ist ja nun an, aber wahrscheinlich weiß sie, wie sie aussieht, und will sich das nicht nehmen lassen. Dieses verzückte Aufschauen zu Alexander, eine Hand hält das Licht, die andere seinen Rücken. Gleich wird er etwas sagen. Natürlich wird er etwas sagen. Eine kleine Ansprache. Der letzte Sommer war sein Sommer, er wird nicht darauf verzichten wollen, die Verantwortung an mich zu übergeben. Als gehörte sie ihm noch. Schon öffnet er den Mund, er holt Luft, ich will seine Stimme nicht hören.
Natürlich bin ich ungerecht zu Alexander. Er ist nur er selbst, er muss er selbst sein, wir alle müssen das.
Ich will seine Stimme nicht hören.
Ich werfe Wilhelm meinen Blick zu, er nickt, ich sage: »Vielen Dank, Alexander.«
Wilhelm tritt vor, nimmt Else die Fackel ab, drückt sie mir in die Hand und ruft: »Dein Sommer, Lola! Wir folgen dir.« Und ich gehe voran, den Flur entlang und dann die Treppe hinauf zur Schatzkammer.
Der Goldhut ist älter als die Alten, schon sie wussten nicht mehr genau, wie er zu lesen ist. Vielleicht ist das das Schönste an ihm. Else hilft mir, ihn aus der Filzhülle zu wickeln, vorsichtig, vorsichtig, der Hut ist schmal, spitz und hoch, etwa so lang wie mein ausgestreckter Arm samt Hand, das Blech dabei nicht dicker als ein Haar, golden, fast pures Gold, in den Verzierungen glaubten die Alten einen Kalender zu erkennen. Mondzyklen. Sommer, Winter. Sommer.
Beim Anblick des Hutes breitet sich wie immer Stille unter uns aus. Stille und Liebe.
Natürlich liebe ich sie alle.
Else und ich helfen uns gegenseitig in Tunika und Mantel, ich liebe auch ihren Geruch und ihr Haar und alles, und während sie mir den Hut aufsetzt, vorsichtig, vorsichtig, leuchten ihre Augen. Ach.
Und als ich mich zu den anderen umdrehe, Friedrich, Wilhelm, Alexander, da leuchten auch ihre Augen. Auf mich gerichtet leuchten sie, Gold, Silber, Diamanten, Wasser.
Und wie sie dastehen in ihren golddurchwirkten Tuniken, die Haare gekämmt, die Gesichter sauber und klar, und wie sie mich ansehen in ihrer Schönheit und wie sie mich spiegeln, da weiß ich:
Dass auch sie mich lieben.
Sie können nicht anders.
Wir können nicht anders.
Wie könnten wir.
Wir sind die Einzigen hier.
Wir sind die Ewigen.