Die Schleuse am Gesundbrunnen ist der einzige Zugang zur Stadt.
Die Schleuse hat drei Tore. Vielleicht sind es auch nur zwei, das äußere Tor kennen wir nicht, vielleicht ist da also gar kein Tor, vielleicht ist es eher eine Luke oder so etwas, oder es gibt gar keine Öffnung, und die Fremden kommen mit Leitern über die äußere Mauer. Holzleitern kann ich mir vorstellen, Strickleitern, Steintreppen, Eisenstufen. Das Gemäuer des inneren und mittleren Tores besteht aus Lehmziegeln, an der Fassade glasiert.
Die Ziegel haben die Alten übers Wasser in die Stadt gebracht. Hunderte Kisten mit Hunderttausenden Bruchstücken. Babylon – Basra – Suez – Hamburg – Kupfergraben. Das müssen etwa viertausendfünfhundert Seemeilen gewesen sein, es gab keinen direkten Weg, es gab Landmassen, die man umschiffen musste. Kontinente. In der Bibliothek gibt es Atlanten.
Die Glasur der Ziegel leuchtet blau, dunkler und strahlender als der Sommerhimmel. Dieses Blau ist die schönste Farbe, die ich mir vorstellen kann. In Babylon war Blau die Farbe des Nordens, auch dort stand das Tor im Norden der Stadt.
Das Blau ist natürlich nicht original. Die Originalziegel erkennt man an der verblichenen Glasur, sie sind grünlich. Dieses Grün ist die schönste Farbe, die ich mir vorstellen kann. Natürlich ist auch das Grün nicht mehr original.
Die Farbe des Ozeans ist die schönste Farbe, die ich mir vorstellen kann.
Ich kann mir die Farbe des Ozeans nicht vorstellen.
Ich kann den Ozean rauschen hören. Der Ozean liegt hinter dem äußeren Tor.
Für das Öffnen des inneren Tores gibt es kein Zeremoniell. Wir öffnen es einfach. Der Schlüssel ist aus Messing und so lang wie mein Unterarm. Im Vergleich zum Schloss scheint er absurd klein, jedes Jahr aufs Neue bin ich erstaunt, dass er einrastet. Ich drehe ihn, einmal, zweimal, dreimal. Dann trete ich zurück, damit die anderen die Flügel der Pforte aufschieben können, mit vereinter Kraft.
Schweres Holz, Eiche, an der Maserung könntest du die Jahre abzählen, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Natürlich ist dieses Holz nicht original. In Babylon wuchsen keine Eichen.
Alexander und Else stemmen sich gegen den linken Flügel, Friedrich und Wilhelm gegen den rechten. Sie atmen heftig, rote Wangen, Schweißperlen. Ich in der Mitte, aufrecht, rühre mich nicht, der Hut wiegt ein halbes Kilo und muss balanciert werden, die Filzpolsterung bräuchte eine Erneuerung, ihn zu tragen ist Aufgabe genug.
Hinter dem geöffneten Tor die Prozessionsstraße. Noch sind wir allein.
Ich betrete die Straße als Erste. Links und rechts neben mir die Löwen. Sie blicken stadtauswärts, den Fremden entgegen. Auch wir blicken stadtauswärts. Wir gehen dem Signal entgegen, mit jedem Schritt wird der Ton lauter, ich vorn, hinter mir, Hand in Hand, die anderen, ich weiß, wie sie aussehen, ohne mich umzudrehen. Ich gebe das Tempo vor. Langsam schreiten wir voran, etwas langsamer sogar, als es der Feierlichkeit wegen angemessen wäre. Ich will unsere Zeit zu fünft ausdehnen.
Solange ich ein Kind war, haben wir die Winter gemeinsam verbracht, wir haben die Kerninsel kaum verlassen in dieser Zeit, im Lustgarten brannte beständig unser Feuer, es war immer jemand neben mir.
Alexander, der mir Eisangeln beibrachte: Niemals schon vorhandene Löcher in der Eisdecke benutzen, denn hier besteht Bruchgefahr. Auf die Dicke und auf die Schwingungen achten. Im Zweifel lieber auf den Bauch legen. Nicht auf die Oberfläche schlagen oder hüpfen. Immer den Bohrer benutzen. Alexander bekam rote Wangen beim Erklären. Er kippte jedes Mal etwas von Friedrichs Selbstgebranntem ins Eisloch und behauptete, so friere es nicht so schnell zu. Manchmal durfte ich einen Schluck probieren, gegen die Kälte. Wir fingen Barben und Zander und trugen sie stolz zu den anderen, schon von Weitem winkten wir und riefen: »Seht! Was für ein Fang! Das wird ein Festmahl!«
Friedrich, der uns jedes Mal tadelte. Viel zu gefährlich. Was, wenn das Kind eingebrochen wäre! Lola kann noch nicht schwimmen, und der Fluss ist tückisch! Sie hätte unters Eis rutschen können! Das Zittern in seiner Stimme. Und dann fasste er sich, jedes Mal, schuppte die Fische, nahm sie aus, briet sie und erzählte uns die Geschichte, wie der Bär seinen Schwanz verlor: Beim Eisangeln eingefroren und abgerissen, der Fuchs, dieser Schlingel, hatte ihn reingelegt. Friedrichs tiefes Lachen.
Wilhelm, der mir Kartentricks zeigte. Seine Finger beim Mischen, das Geräusch der einzelnen Karten, wenn er den Stapel auf die Tischplatte setzte. Nicht dahin gucken, wo der Trick stattfindet. Wenn du nur die Kuppe des kleinen Fingers zwischen die Karten drückst, entsteht eine Lücke, die von vorn niemand sieht, so kannst du dir merken, wo die entscheidende Karte liegt. Und du musst alle Bewegungen mit gleicher Sorgfalt ausführen, auch die, hinter denen keine Schummelei steckt, sonst fällt es auf. Wilhelms Lachen über meine konzentrierten Versuche, sein Applaus, wenn mir das Kunststück endlich gelang.
Und Else, die mich auf dem Rücken trug, wenn ich müde war, auch noch, als die anderen sagten, ich sei schon zu groß dafür. Der Geruch ihrer Mütze, ihres Haares. Ihr Gesang.
Wer in die Stadt hineinwill, muss sich den Löwen stellen, sie leuchten goldgelb auf dem Blau. In Babylon waren sie die Tiere der Ischtar, Göttin aller Göttinnen, Herrin aller Häuser, Führerin des Menschengeschlechts, Morgen- und Abendstern, ihr Herz ein rasender Löwe, ihr Gemüt ein wilder Bulle, berufen zum Krieg und zur Lust.
Die Übersetzer geben Signale mit dem Horn. Lang gezogene Töne. Eine Frequenz, die schön ist und nicht auszuhalten, wie Rufe eines jungen Säugetiers, das seine Mutter sucht. Mit jedem Schritt wird der Klang lauter.
Als Kind dachte ich, die Übersetzer heißen so, weil sie als Erstes zu uns übersetzen. In Booten. Im Grunde stelle ich es mir immer noch so vor.
Ich stelle mir ein kleines Boot vor, ein geteertes aus Holzplanken. Ich stelle mir vor, wie sie damit einzeln vom Schiff zur Schleuse rudern. Ich stelle mir ein Motorboot vor, das über den Wellen jeweils kurz abhebt, alle fünf Übersetzer darin. Ich stelle mir einen Kahn vor mit einem Fährmann. Ich stelle mir vor, dass er einen schwarzen Hut trägt und ein Stakholz in der Hand hält.
Ich stelle mir vor, wie die Übersetzer aussehen. Ich stelle mir Kutten vor, braun, mit spitzen Kapuzen. Ich stelle mir Brokatmäntel vor, rot, blau, golden. Ich stelle mir Nackte vor. Ich stelle mir Gesichter vor. Ich frage mich, ob die Gesichter unseren gleichen oder denen der Fremden.
Die Pforte des mittleren Tores ist vergoldet. Für sie haben wir keinen Schlüssel. Den Schlüssel haben die Übersetzer. Trotzdem dürfen sie nicht eintreten, bevor ich es erlaube. Sie müssen mit dem Signal rufen, bis wir antworten.
Wenn du am mittleren Tor angekommen bist, ist der Klang des Signals kaum zu ertragen. Auch menschliche Säuglinge klingen manchmal so, sagen sie, Katzen und Geigen.
Natürlich habe ich noch keinen menschlichen Säugling gehört.
Wir dürfen unsere Ohren nicht verschließen vor dieser Klage. Wir müssen sie einlassen.
Wir stellen uns auf, ich in der Mitte, meine linke Hand fasst Else, meine rechte Friedrich, Else fasst Alexander, Friedrich fasst Wilhelm, ich beginne den Ruf:
Die Stadt ist heilig und was darinnen ist,
die Mauern und die darin wohnen.
Denn sie ist über den Meeren gegründet
und über den Wassern bereitet.
Die zweite Strophe singen die anderen im Chor:
Wer darf auf den heiligen Berg gehen,
und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
Die Antwort wieder singe ich:
Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug.
Und den letzten Gesang singen wir alle gemeinsam:
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch.
Dann verstummt das Signal, wie ein plötzlich nachlassender Schmerz, unsere Muskeln entspannen sich, wir treten zurück und warten darauf, dass sich die Pforte öffnet.