Die Erkenntnis traf Laura wie ein Blitz.
Verdammt. Die Philharmoniker. Alle vierzehn Tage. Sie hatte das Konzert tatsächlich völlig verschwitzt.
Im Wohnzimmer wurde ein Stuhl verrückt. Berta runzelte irritiert die Stirn, während Laura versuchte, ihr die Sicht zu verdecken. Sie durfte auf keinen Fall auf Tosca treffen. Sie würde Fragen stellen, viele unangenehme, bohrende Fragen.
»Wer ist da bei dir?« Auf Bertas Stirne bildeten sich zwei steile Falten. »Laura!« Ihre Stimmung wechselte schlagartig von Besorgnis zu Skepsis. »Ist das dieser illegale Asylant, der sich bei dir einquartiert hat?«
Berta versuchte ins Zimmer zu gelangen, doch Laura stand stocksteif vor ihr und versperrte ihr den Weg.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, ernsthafte Sorgen! Peter erzählte mir neulich, dass du Medikamente gebraucht hast … für einen kranken Einwanderer, der nicht krankenversichert ist. – Laura, mit diesen Illegalen ist nicht zu spaßen! Du denkst vielleicht, dass dich dieser Mann liebt – weiß der Himmel, was er dir versprochen hat! Aber in Wahrheit ist er nur an der österreichischen Staatsbürgerschaft interessiert! Es ist höchste Zeit, dass ich mich einschalte …«
Berta drängte sich rigoros an ihr vorbei.
Laura glaubte, ohnmächtig werden zu müssen. Wenn sie jetzt erklärte, dass der illegale Asylant in Wahrheit eine potenzielle Mörderin war, würde Berta sie so oder so für verrückt erklären.
»Guten Tag. Tosca Raimund.«
Tosca streckte Berta mit galantem Lächeln die Hand entgegen. Berta, völlig verdattert angesichts der fremden Frau in Gymnastikhose, ergriff die ausgestreckte Rechte und nannte auch ihren Namen. Der Blick, den sie in Lauras Richtung sandte, war ein einziges Fragezeichen.
Laura wünschte Berta weit weg und Peter auf den Mond. Musste er über alles und jedes seiner Mutter Bericht erstatten? Wie konnte ein erwachsener Mensch nur so abhängig sein? Konnte er nicht einmal etwas für sich behalten, wenn sie ihn um einen winzigkleinen Gefallen bat?
Sie rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und sagte im Brustton der Überzeugung: »Tosca ist eine Studienfreundin von mir. Ihr Besuch in Wien kam sehr überraschend. Da habe ich das Konzert vollkommen vergessen. Tut mir leid, Tante Berta. Ich hoffe, du kannst mir noch einmal verzeihen.«
»Ach … na ja.« Berta lächelte unsicher. »Das kann ja einmal passieren. Habe mir nur Sorgen gemacht.«
»Das musst du nicht. Wie du siehst, ist alles in bester Ordnung.« Laura war selbst erstaunt, wie fest ihre Stimme klang.
War es vor einer halben Stunde noch Tosca gewesen, die sie dringend aus ihrer Wohnung haben wollte, so galt dieser Wunsch jetzt uneingeschränkt Berta. Zu ihrer Erleichterung schien er sich nun zu erfüllen. Berta hatte schon den Rückzug angetreten, als ihr Blick zufällig auf das Telefon fiel, das noch immer am Boden lag. Wie angewurzelt blieb sie stehen, schaute erst Laura an, dann Tosca.
»Sie haben da eine Schramme im Gesicht.«
Ihre Stimme triefte vor Misstrauen.
»Oh … ja, tatsächlich.« Tosca griff sich ins Gesicht. »Das muss passiert sein, als mir das Telefon herunterfiel.«
»Willst du deine Freundin nicht verarzten? Die Wunde kann sich entzünden.«
Nun ging ihre potenzielle Mörderin schon als Freundin durch! Laura wurde es abwechselnd heiß und kalt. Schnell holte sie Watte und Jod aus dem Badezimmer. Bertas wachsamen Blick im Rücken, tupfte sie den Kratzer ab, während die alte Dame sich auf dem Sofa niederließ und Mantel und Hut ablegte.
»Laura hat mir nie von Ihnen erzählt.«
»Ach, wirklich?«
Toscas Stimme drückte pures Erstaunen aus.
»Wir hatten uns etwas aus den Augen verloren«, beeilte sich Laura zu sagen. »Tosca ist ja aus Wien weggezogen und hat beruflich sehr viel um die Ohren, daher war unser Kontakt seltener geworden. Aber jetzt hat sie sich wieder gemeldet, und es ist so, als hätten wir uns erst vor Kurzem das letzte Mal gesehen.«
»Aha.« Bertas Augen ruhten prüfend auf Tosca. »Ich hoffe, Sie haben nicht auch so einen Hungerleider-Job wie Laura. Ihre Berufsbezeichnung lautet offiziell Beraterin, aber in Wahrheit ist sie nichts anderes als eine studierte Verkäuferin.«
Laura wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen. Sie war nicht erpicht darauf, Tosca nun auch noch einen tieferen Einblick in ihr Arbeitsleben zu geben. Es reichte schon, dass sie in ihre Privatsphäre eingedrungen war.
»In Zeiten wie diesen sind gute Jobs leider rar«, sagte Tosca gelassen. »Man muss froh sein, wenn man überhaupt etwas bekommt.«
»Was also arbeiten Sie genau?«
Tosca sandte einen hilfesuchenden Blick in Lauras Richtung.
»Tosca ist … sie hat eine Galerie.« Laura schluckte. »In Düsseldorf. Sie ist ziemlich gut im Geschäft.«
»Eine Galerie«, wiederholte Berta nachdenklich. »Für welche Stilrichtung?«
Toscas Augen weiteten sich. Lauras Verstand war komplett blockiert. »Surrealismus«, kam es schließlich über ihre Lippen. Laura wollte schon erleichtert aufatmen, als prompt Bertas nächste Frage kam.
»Und von welchen Künstlern sprechen wir da?«
Tosca antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern. »Dali, Magritte, Miró und einige andere, weniger bekannte.«
Laura beschloss, dem Wortwechsel ein Ende zu machen. Berta war Kunstliebhaberin und blickte inzwischen offenbar über die alten Meister hinaus. Es durfte nicht sein, dass dieses Gespräch in eine mündliche Prüfung für Kunsthistoriker ausartete.
»Ich habe gekocht«, sagte sie. »Möchtest du zum Essen bleiben?«
Im Grunde wollte sie das genaue Gegenteil. Um das zu erreichen, war es das Beste, Berta mit deren eigenen Waffen zu schlagen – ihren Vorstellungen von Anstand.
»Nein, nein, meine Liebe. Ich will mich nicht aufdrängen. Hauptsache, dir geht es gut.«
Die Rechnung ging auf. Berta erhob sich unter Ächzen vom Sofa, griff nach Mantel und Hut. Sie verabschiedete sich von Tosca und zog Laura mit sich unter dem Vorwand, sich zur Tür begleiten zu lassen. Als sie im Vorraum standen, senkte sie die Stimme.
»Die passt nicht zu dir«, stellte sie nüchtern fest. »Ich kann nicht glauben, dass das eine Freundin von dir ist.«
»Wieso?«
»Bitte, Laura.« Berta verzog das Gesicht. »Bleib auf dem Boden der Tatsachen. Du weißt selbst am besten, wie du bist. – Diese Frau stellt dich in jeder Hinsicht in den Schatten.«
Laura schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Ein Schlag in die Magengrube hätte nicht mehr schmerzen können.
»Du solltest dich beeilen«, sagte sie. »Die nächste Straßenbahn fährt in zwei Minuten, ansonsten musst du eine Viertelstunde warten. Die Taktung ist sehr schlecht um diese Uhrzeit.«
Sie ließ die Tür hinter Berta ins Schloss fallen, lehnte sich dagegen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Am liebsten wäre sie jetzt auch aus der Wohnung spaziert. Was war innerhalb weniger Tage aus ihrem Leben geworden?!
»Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel Phantasie hast.« Tosca stand unmittelbar vor ihr.
»Ich hätte auch nicht gedacht, dass du dich als Surrealismus-Expertin entpuppst.«
Laura ließ die Hände sinken. Toscas Lippen umspielten ein zaghaftes Lächeln.
»Ich auch nicht«, sagte sie dann. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich heiße.«
Es war die plötzliche Ernsthaftigkeit in ihren Augen, die Laura begreifen ließ: Sie sagte das nicht so dahin.
»Ist es also wirklich wahr?«
»Ich habe dich nicht angelogen. Nicht absichtlich, zumindest. Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich hatte Angst, du würdest mich dann erst recht davonjagen. Laura … Ich weiß nicht, wie ich heiße, ich weiß nicht, warum ich hier bin, und ich weiß nicht, wie dieses Blut an meine Bluse gekommen ist. Ich erinnere mich an nichts! Und das macht mir schreckliche Angst.«
Alles, was Tosca sagte, klang aufrichtig. Zum ersten Mal hatte Laura das Gefühl, dass sie ihr uneingeschränkt die Wahrheit sagte.
»Kann ich dich weiterhin Tosca nennen?«
Tosca seufzte.
»Im Moment kann ich dir keine Alternative dazu bieten.«
Die Mauer bröselte unter ihren Händen. Ihre Finger fuhren durch feine, klebrige Fäden. Im selben Augenblick fühlte sie das Kitzeln filigraner Spinnenbeine auf ihrer Haut. Sie stieß einen Schrei aus und schüttelte reflexartig die Hand.
Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. Der Raum musste groß sein. Und hoch. Sie streckte sich. Sie konnte die Decke nicht berühren.
Langsam bückte sie sich. Ihre Hände griffen in feines Gewebe. Sie hielt inne. Mit Jute hatte sie gerechnet, nicht mit Stoff. Sie tastete weiter – und erstarrte. Unter dem Stoff war ein Arm. Der Arm hing an einem gewaltigen, fettleibigen Körper. Der Körper war lauwarm, aber reglos. Sie rang nach Atem, wich zwei Schritte zurück, taumelte, stürzte zu Boden.
Die Dunkelheit drohte sie zu ersticken. Panisches Keuchen hallte im Raum. Ihr eigener Atem.
Sie lag da, bewegungslos, bemüht, ihre Angst zu bändigen. Sie war hier allein mit einem reglosen Körper. Wer reglos war, konnte ihr nichts tun. Wo kein anderer sich regte, drohte auch keine Gefahr. Die Rationalität dieser Überlegung war es, die ihr die Kraft gab, aufzustehen und sich nochmals dem Körper zu nähern.
Sie fühlte keinen Puls. Stattdessen ertastete sie dauergewelltes Haar und Perlenohrringe. Der Mund der Frau war mit Klebeband bedeckt. Und nicht nur der Mund. Das Band war großzügig verklebt worden; auch die Nasenlöcher verschwanden darunter.
Sie verstand nichts. Nicht, wer diese Frau war, und schon gar nicht, weshalb sie selbst hier in diesem dunklen Raum festsaß, zusammen mit einer toten Fremden. Sie kannte keine fettleibige alte Frau mit Dauerwelle.
Und sie wollte nicht enden wie diese Frau.
Verzweifelt tastete sie sich erneut die Mauer entlang. Ihre Finger berührten kaltes Metall. Eine Tür. Sie drückte die Klinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Sie hämmerte gegen den Stahl, rüttelte mit aller Kraft an der Klinke.
Dann begann sie zu schreien, während ihre Fäuste unaufhaltsam weitertrommelten. Sie schrie, bis ihre Stimme versagte. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken. Der Schmerz in ihrem Kopf war unerträglich. Sie hatte Angst, unglaubliche Angst. Nein, sie wollte nicht sterben. Vergessen in einem dunklen Raum. Niemand würde sie hier finden. Gab es überhaupt jemanden, der nach ihr suchte?
Sie umschlang ihre Knie mit den Armen und wartete. Versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Der Kopfschmerz war stechend und raubte ihr jede Energie.
Dann hörte sie ein Geräusch. Schritte, die sich von draußen näherten. Ein Schlüssel, der ins Schloss gesteckt wurde und sich knirschend umdrehte.
Im Zeitlupentempo öffnete sich die Tür. Ein fahler Lichtschein erleuchtete den Raum. Sie starrte auf die Türöffnung und wusste mit jäher Gewissheit: Was jetzt kam, war nicht die Rettung aus ihrer Situation. Es war erst der Anfang.
Ein lautes Rumsen, begleitet von einem entsetzten Aufschrei, ließ Laura aus dem Schlaf fahren. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, knipste im Wohnzimmer das Licht an.
Tosca kauerte auf dem Boden, zitternd, das Gesicht tränenüberströmt. Es war das erste Mal, dass Laura sie in diesem Zustand sah. Sie kniete sich neben sie, streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus, strich ihr über die Wange. Toscas Haut war von kaltem Schweiß überzogen. Sie schien Laura überhaupt nicht wahrzunehmen.
»Tosca! Tosca, was ist? Ist alles okay?«
Die Angesprochene wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Was für eine dumme Frage, schalt sich Laura selbst. Nichts war okay.
Gleichzeitig fragte sie sich, wie sie sich je vor dieser Frau hatte fürchten können. Sie wirkte in diesem Moment nur klein und elend.
Seit Bertas unerwartetem Auftauchen in ihrer Wohnung waren vier Tage vergangen. Vier Tage, in denen Laura kein einziges Mal mehr in den Sinn gekommen war, Tosca vor die Tür zu setzen.
Amnesie. Sie hatte ihre Mittagspausen im Karolinum genutzt, um sich hinten im Büro im Internet darüber schlau zu machen. Amnesie war der Fachausdruck für Gedächtnisverlust, hervorgerufen durch Gehirnerschütterung, Drogenmissbrauch, Stress oder ein traumatisches Erlebnis. Sie hatte über die verschiedenen Arten von Amnesie nachgelesen, hatte Fallbeispiele studiert, hatte erfahren, dass Gedächtnisverlust über Jahre andauern konnte.
Das alles war nicht gerade beruhigend. Sie fand keine Lösung für Toscas Situation. Zudem war sie weder Ärztin noch Psychologin; sie konnte nicht einmal beurteilen, welche Ursachen Toscas Amnesie im Speziellen zu Grunde lagen. Das einzige, was sie beurteilen konnte, war, dass Tosca da draußen ohne Unterkunft hilflos war. Also versuchte sie, nicht an die blutige Bluse zu denken und sich mit der Situation zu arrangieren.
Tosca hatte bisher sehr wenig geredet. Auch daran, dass sie meist mit leerem Blick vor sich hinstarrte, hatte sich nichts geändert.
»Ich bin auf der Suche nach meinen Erinnerungen«, erwiderte sie Laura auf die Frage, was mit ihr los sei. »Bitte lass mir noch ein paar Tage Zeit.« Also ließ Laura sie in Ruhe. Im Grunde ihres Herzens fühlte sie jedoch, dass dieses tatenlose Herumsitzen ihren Gast keinen Schritt weiterbrachte. Tosca wirkte von Tag zu Tag depressiver.
»Ich bin vom Sofa gefallen«, murmelte Tosca mit brüchiger Stimme. »Weiter nichts.«
Das Lächeln, dass sie sich abrang, wirkte wie von weit her. Sie wollte aufstehen, doch Laura legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Warte. Ich hole dir ein Wasser.«
Tosca leerte das Glas mit großen Schlucken.
»Merkwürdig, dass alle Leute zu denken scheinen, dass ein Glas Wasser das Allerweltsheilmittel ist«, sagte sie dann nachdenklich. »Als ob sich damit alles wegschwemmen ließe.«
»Tut mir leid, ich wollte nur …«
Tosca ließ sie ihre Entschuldigung nicht vollenden.
»Es gibt keinen Grund, weshalb du dich entschuldigen müsstest. Mir tut es leid, dass ich dich wieder einmal in Unruhe versetzt habe. Du hattest schon genug schlaflose Nächte meinetwegen. – Diese Hilflosigkeit macht mich wahnsinnig. Diese Ungewissheit, nicht zu wissen, wer man ist … die Suche nach Erinnerungen, die einfach nicht kommen wollen … ich habe Angst …«
Ihre Stimme riss ab; eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
Zögernd legte Laura den Arm um sie. Tosca ließ sich fallen. Sie zog Laura an sich, vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Ihr Körper bebte.
Vorsichtig strich ihr Laura über das Haar. Die unerwartete Nähe war ihr unheimlich. Es war ziemlich lange her, dass sie den Körper eines anderen Menschen so dicht an sich gespürt hatte. Haut an Haut. Von Tosca trennten sie zwei Schichten Stoff. Laura war froh darüber. Sie wusste noch zu gut, wie sie kratzige Haare und heißen Atem auf ihrer Haut gehasst hatte.
Die Situation mit Tosca war damit nicht zu vergleichen. Sie war eine Frau, die weinte, nicht mehr und nicht weniger. Und sie war eine Frau, die schon Tage lang auf einem unbequemen Sofa nächtigte, von dem sie bei der kleinsten Bewegung herunterfiel.
Die Worte kamen Laura ganz wie von selbst über die Lippen. »Du kannst drüben bei mir übernachten. Im großen Bett schläfst du bequemer als hier.«
Tosca putzte sich die Nase.
»Bist du sicher?«
»Natürlich. Das ist kein Problem.« Seit ein paar Tagen gehörten Lügen zu ihrem fixen Repertoire.
Bald lag Tosca auf der anderen Seite des Bettes und hatte ihr den Rücken zugekehrt. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Laura war sich sicher, dass sie eingeschlafen war. Sie selbst fühlte sich hellwach. »Laura?« Tosca drehte sich zu ihr um. »Ich bin dir sehr dankbar für alles. Ich glaube nicht, dass das irgendein anderer Mensch für mich getan hätte und tun würde.«
Laura schwieg.
»Warum tust du das alles ... für eine Wildfremde?«
Laura starrte an die Decke.
»Du hast dich einfach nicht aus meiner Wohnung vertreiben lassen. Erinnerst du dich nicht mehr?«, sagte sie nach einer Weile.
»Das meine ich nicht. Du hast mich ja erst in deine Wohnung geholt. Du hast mich gepflegt, als ich krank war. Das meine ich.«
Manchmal war es besser, eine Antwort nicht zu geben.
»Das erste, woran ich mich erinnern kann, bist du in der U-Bahn«, fuhr Tosca schließlich gedankenverloren fort. »Alles, was vorher war, ist weg. Als hätte ich keine Vergangenheit.«
»Vielleicht sollten wir jetzt bald zur Polizei gehen«, meinte Laura. »Oder in ein Krankenhaus!«
»Ich kann nicht zur Polizei! Die Polizei sieht nur Blut auf einer Bluse. Meine Erinnerungen bringt sie mir nicht zurück!«
»Du kannst aber nicht ewig davonlaufen«, konterte Laura – und biss sich auf die Lippen. Verdammt. Dieser Satz hätte auch von Mutter stammen können.
»Sollte ich mich erinnern können, etwas verbrochen zu haben, würde ich mich sofort stellen«, erwiderte Tosca ruhig. »Aber ich will mich wenigstens an das erinnern, wofür ich bestraft werde. Kannst du das nicht verstehen?«
»Das Blut könnte auch von dir sein«, warf Laura ein, hauptsächlich deshalb, weil sie sich für ihren so klug klingenden Ratschlag schämte. »Vielleicht hattest du Nasenbluten.«
»Das glaubst du nicht wirklich, oder?« Toscas Stimme tönte absolut nüchtern. Minuten verstrichen, ohne dass eine von ihnen etwas sagte.
Laura schloss die Augen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Instinktiv spürte sie, dass auch Tosca noch wach lag.
»Ich habe immer wieder diesen Traum«, durchbrach deren Stimme plötzlich die Stille des Zimmers. »Ich bin in einem Keller oder Verließ, ich bin eingesperrt. Aber ich bin nicht alleine. Im selben Raum ist eine Frau … Sie fühlt sich an, als wäre sie tot. Ich versuche, aus diesem Raum zu entkommen, aber es ist nicht möglich. Plötzlich geht die Tür auf. Und ich fühle, dass etwas Entsetzliches auf mich zukommt. Aber ehe ich weiß, was es ist, wache ich auf.«
»Hast du deshalb geschrien?«
»Vermutlich. Ich wache auf und habe schreckliche Angstzustände.«
Unwillkürlich tastete Laura nach ihrer Hand. Ihre Finger schlossen sich um Toscas.
»Hier bist du sicher«, sagte sie und war erstaunt über die Selbstsicherheit, die sie in diesem Moment verspürte. Sie konnte trotz der Dunkelheit erkennen, dass Tosca schmunzelte.
»Das sagt die Frau, die alle drei Türschlösser versperrt, ehe sie zu Bett geht.«
Laura war froh, dass es Nacht war. Die Röte war ihr angesichts Toscas scharfer Beobachtung in den Kopf geschossen. Sie gab ihre Hand frei, zog sich zurück. »Reine Vorsichtsmaßnahme«, murmelte sie. »Gute Nacht.«
Laura hatte erwartet, dass Toscas Redefluss anhielt, nun da sie offen über ihre Ängste und Albträume zu sprechen begonnen hatte. Doch dem war nicht so, wie sie in den folgenden Tagen feststellen musste. Tosca saß nach wie vor die meiste Zeit grübelnd und in ihre eigenen Gedanken versunken auf dem Sofa. Manchmal wirkte sie völlig apathisch.
Allerdings fand Laura ihre Wohnung abends, wenn sie vom Karolinum nach Hause kam, geputzt und aufgeräumt vor, und ein duftendes Essen wartete auf sie. Sie ertappte sich bereits dabei, wie sie sich schon mittags, wenn sie im Gemeinschaftsraum des Auktionshauses eine Wurstsemmel oder einen Joghurt verspeiste, darüber Gedanken machte, was sie abends wohl wieder Köstliches erwartete.
Tosca schlief sehr unruhig und wachte stets früh auf. Auf leisen Sohlen schlich sie sich dann aus dem Schlafzimmer. Laura wachte dennoch jedes Mal auf. Ihr Schlaf war nie tief, obgleich sie sich eingestehen musste, dass sie wesentlich besser schlief, seit Tosca neben ihr lag. Auch wenn diese sich nachts oft unruhig von einer Seite auf die andere wälzte – das Gefühl, nicht allein zu sein, war erstaunlich beruhigend. Wenn sie aufstand, saß Tosca bereits auf dem Sofa und starrte ins Leere.
Am Samstag konnte Laura den Anblick nicht länger ertragen. Es tat ihr weh, Tosca in diesem Zustand von Resignation und Verzweiflung zu erleben. Seit fast drei Wochen hatte sie die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen. Ein Leben auf 75 Quadratmetern musste ja irgendwann depressiv machen.
»Komm mit«, sagte sie einladend, als sie sich für ihren Wocheneinkauf fertig machte.
Tosca schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich will da nicht raus.«
»Warum nicht?«
Tosca zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was mich draußen erwartet. Vielleicht werde ich längst polizeilich gesucht.«
»Dann wissen wir wenigstens, wer du bist«, entgegnete Laura. »Im Übrigen glaube ich das nicht. Ich bin jeden Tag in der Stadt unterwegs, und es sind mir bis jetzt keine Plakate mit deinem Foto und der Aufschrift ‚Most wanted’ aufgefallen.«
Tosca lächelte schwach. »Ich habe sowieso nichts zum Anziehen«, meinte sie dann.
In Lauras Ohren klang es wie eine willkommene Ausrede. Kurz entschlossen holte sie eine Hose und einen Pullover aus ihrem Kleiderschrank, schob Tosca beides auf den Schoß.
»Deine Hose ist mir sicher zu kurz.«
»Egal.« Laura blieb hartnäckig. »Du gehst mit mir nicht auf den Laufsteg, sondern nur in den Supermarkt.«
Tosca erhob sich seufzend. Wenig später stand sie umgezogen vor Laura, blieb aber skeptisch: »Ich weiß immer noch nicht, was das bringen soll.«
»Vielleicht kommt dir da draußen irgendetwas bekannt vor«, erwiderte Laura, während sie die Treppe hinunter gingen. »Ich habe gelesen, dass die Erinnerung ganz plötzlich zurückkommen kann – zum Beispiel, wenn man etwas Vertrautes sieht.«
Die Erinnerung kam nicht. Sie gingen erst in den nächsten Supermarkt, brachten den Einkauf in die Wohnung und fuhren dann noch in die Innenstadt. In einem günstigen Modeladen kauften sie Tosca eine passende Hose und mehrere Pullis. Als Laura zahlte, musste sie unwillkürlich schlucken: Schon lange hatte sie nicht mehr so viel Geld für Kleidung ausgegeben.
Nach dem Stadtbummel war Tosca niedergeschlagener als zuvor. »Es hat überhaupt nichts gebracht«, stellte sie entmutigt fest, als sie wieder in Lauras Wohnung waren. »Da war nichts, was bei mir irgendeine Erinnerung ausgelöst hätte.«
»Du bist im Supermarkt sehr lange vor dem Weinregal gestanden«, warf Laura ein. »Hat dich das vielleicht an etwas erinnert?«
»Nein, überhaupt nicht! – Ich bin nur stehen geblieben, weil …«, Tosca schien nun selbst erst zu reflektieren, »weil es mich einfach nur interessiert hat.«
»Das ist doch prima. Tosca, auch, wenn keine konkreten Erinnerungen kommen … ich finde, du solltest alles aufschreiben, was dir gefällt, wovon du träumst, was du über dich in Erfahrung bringst. Du musst dich selbst kennen lernen!«
Beseelt von ihrer Idee, kramte Laura einen jener zahlreichen Blöcke aus dem Regal, die das Karolinum Jahr für Jahr als Mitarbeitergeschenk verteilte.
»Hier. Schreib einfach alles auf, was du inzwischen über dich weißt. Vielleicht bringt dich das auf eine heiße Spur.«
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, meinte Tosca. Sie seufzte. »Ich fühle mich innerlich nur leer.«
Trotzdem nahm sie den Kugelschreiber in die Hand, den Laura vor sie auf den Tisch gelegt hatte, und machte ein paar Notizen.
»Mir schmeckt Rotwein besser als Weißwein, ich schlafe lieber auf der Seite als auf dem Bauch oder Rücken, ich kann anscheinend gut kochen – jedenfalls behauptest du das. Ich mag Kaffee lieber als Tee, bin ordentlich, brauche nicht lange im Bad …« Tosca legte resigniert den Block zur Seite. »Und was sagt uns das nun?«
»Dass du eine angenehme Mitbewohnerin bist.« Laura sah von ihrem Buch auf. Endlich hatte sie wieder Muse zu lesen. Sie hatte gerade einen englischen Autor für sich entdeckt, der in seinen Thrillern kein Detail über Gewalt und verwesende Leichen aussparte. Die genauen Zersetzungsprozesse des menschlichen Körpers hatten sie in ihren Bann gezogen. Die Überreste eines Verbrannten in einer Hütte in Schottland, der unter geheimnisvollen Umständen Feuer fing, war schließlich etwas völlig anderes als Blut auf einer Seidenbluse oder auf dem eigenen Parkettboden.
»Na toll!« Wütend schmiss Tosca den Kugelschreiber auf den Tisch. In ihren Gesichtszügen stand bitterer Sarkasmus. »Es war sicher immer schon mein Traum, in einer WG zu wohnen! – Mich macht das wahnsinnig, einfach wahnsinnig!«
Laura ließ das Programmheft sinken. Sie konnte Tosca verstehen: Seit mehr als einer Woche schrieb sie jedes kleine Detail nieder, das einen Hinweis liefern konnte – und war doch nicht wesentlich weiter. Trotzdem tat ihr Toscas Ausbruch weh. Sie selbst hatte nun wirklich nie davon geträumt, in einer WG zu wohnen, aber trotzdem akzeptierte sie die Gegebenheiten, wie sie waren. Sie war selbst überrascht, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, dass ein anderer Mensch sie in der Wohnung erwartete, wenn sie abends nach Hause kam.
Bemüht, sich ihre Verletztheit nicht anmerken zu lassen, griff sie nach dem Block und blätterte über die Seiten.
»Kenne Stilrichtungen der Malerei und Musik«, las sie vor. »Verstehe Englisch mühelos. Habe Italienisch- und Französischkenntnisse. Spreche Hochdeutsch ohne regionale Färbung. Weiß, dass der Finanzminister Josef Pröll heißt und erkenne Karl-Heinz Grasser im Fernsehen. – Das sind doch schon mal wertvolle Hinweise.«
Tosca schnaubte.
»Und was, bitte, kannst du dem entnehmen? Dass ich im Friseursalon die Society-Magazine studiert habe?«
»Nein.« Laura blickte sie ernst an. »Es steht außer Frage, dass du eine höhere Schulbildung hast. Die Art, wie du dich ausdrückst, dein Allgemeinwissen – du weißt über vieles Bescheid.«
»Na toll! Ich hatte gehofft, einen Hinweis darauf zu bekommen, wie mein Leben aussah und was ich beruflich gemacht habe!« Tosca ließ sich auf das Sofa fallen. »Irgendeine Spur, die ich nachverfolgen kann, um Aufschluss über meine Identität zu gewinnen. – Bisher passt das Profil, das ich anhand dieser Angaben erstellt habe, auf jede x-beliebige Person. Da ist nichts Konkretes.«
»Was ist mit deiner Kleidung?«, überlegte Laura laut. »Das Kostüm und der Mantel sehen ziemlich teuer aus. Was ist, wenn wir einfach den Marken nachgehen? Vielleicht ist die Stückzahl limitiert, vielleicht gibt es überhaupt nur wenige Shops, die diese Marken vertreiben … ich kenne mich nicht aus mit Mode, aber es wäre doch einen Versuch wert. Möglicherweise bist du in einem dieser Läden sowieso seit Jahren Stammkundin – und wirst sofort erkannt. Der Mantel zum Beispiel, der sieht so exklusiv aus.«
Tosca fiel ihr ins Wort. »Dieser Mantel ist nicht von mir, Laura! Es ist eindeutig ein Herrenmantel.«
»Dann sollten wir den Herren dazu finden.«
Tosca erwiderte nichts, sondern starrte auf die Tischplatte. Laura ließ noch eine Weile den Blick auf ihr ruhen, wartete auf eine Erklärung. Als nichts von Tosca kam, stand sie auf und holte aus der Küche eine Flasche Wein und zwei Gläser. Aus den Erfahrungen der letzten Tage wusste sie, dass es wenig Sinn hatte, Tosca mit Fragen zu löchern. Sie sagte ohnehin nur das, was sie sagen wollte. Da war es besser, entspannt ein Gläschen oder zwei zu trinken, als sie weiter zu bedrängen.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, dachte sie nur noch an den Wein. Auf dem Etikett war ein Salamander abgebildet. Deshalb hatte sie sich beim Kauf für diese Flasche entschieden. Sie würde in ihrer Sammlung leerer Flaschen einen Ehrenplatz bekommen, wenn sie irgendwann endlich für Regale gesorgt hätte.
»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das so eine gute Idee ist, den Herren zu finden, dem der Mantel gehört.« Tosca schaute sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
»Du bist verrückt, völlig verrückt!« Seine Faust donnerte mit derartiger Wucht auf ihren Schreibtisch, dass das Glas zu ihrer Rechten umfiel. Wasser ergoss sich über die gesamte Tischplatte und durchnässte den Stapel Papier, den sie sich bereitgelegt hatte. »Das kannst du nicht tun! Du ruinierst uns und das ganze Unternehmen!«
»Das hast du doch bereits besorgt«, erwiderte sie ruhig, während sie das nasse Papier in den Reißwolf warf und die restliche Wasserlache mit Taschentüchern aufwischte. »Du hast das Unternehmen ruiniert durch deine grenzenlose Gier und Skrupellosigkeit! Ob im Alleingang oder zusammen mit Albert, das werde ich noch herausfinden. Dass du dabei federführend warst, kann ich jetzt schon beweisen.«
Er lachte höhnisch. »Wir sitzen alle im selben Boot. Du warst daran genauso beteiligt wie wir.«
»Am Aufbau der Firma, ja. Nicht an deinen finanziellen Spekulationen und Betrügereien! Ich bin frühzeitig aus dem operativen Geschäft ausgestiegen und eigene Wege gegangen, das weißt du genau. Was die Bilanzen meines Unternehmens betrifft – ich habe nichts zu verbergen. Meine Bücher sind sauber!«
»Auf dem Papier ist unser Unternehmen auch dein Unternehmen. Wenn du uns auffliegen lässt, bringst du dich selbst in Bedrängnis.«
»Da irrst du dich. Wie ich schon sagte, ich werde nachweisen, dass ich nichts damit zu tun hatte.«
Er trat gegen den Abfalleimer, das Gesicht verzerrt vor Wut.
»Du verdammte Hexe! Das wird dir noch leid tun! – Ich werde dafür sorgen, dass du keinen ruhigen Tag mehr hast, wenn du das wirklich tust!«
»Ist das ein Versuch, mir zu drohen? Wenn ja, möchte ich dich fairerweise darauf aufmerksam machen, dass dieses Gespräch von meinem Anwalt mitgehört wird.«
Sie deutete auf den Telefonhörer, der seit seinem Eintreten neben der Gabel lag.
Er fegte das Telefon mit einer wütenden Geste vom Tisch. Der Apparat schlug hart auf dem Parkettboden auf. Er versetzte ihm einen zusätzlichen Tritt mit dem Fuß, beugte sich dann zu ihr. Sein Flüstern hatte nun einen bedrohlichen Unterton. »Ich werde es nicht dazu kommen lassen, dass du mich verpfeifst. Eher werde ich dich umbringen, als dass ich die nächsten zwanzig Jahre meines Lebens im Knast verbringe!«
Als er das Zimmer verlassen hatte, fiel ihre Selbstbeherrschung in sich zusammen. Am ganzen Leib zitternd setzte sie sich auf ihren Schreibtischstuhl. Einige Minuten lang war sie nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann stand sie auf und stellte ihr Telefon zurück auf den Tisch. Es hatte den Wurf fast unbeschadet überstanden. Nur ein kleiner Sprung am Gehäuse zeugte von dem Zwischenfall.
Es war an der Zeit, nun wirklich einen Anwalt einzuschalten. Die Sache wurde zu heiß. Sie hatte geblufft, hatte sein Temperament gewaltig unterschätzt. Sie zückte ihr Adressbuch, wählte eine Nummer – und legte auf, noch ehe abgehoben wurde. Zuerst musste sie noch etwas Wichtiges in Sicherheit bringen. Eilig schlüpfte sie in ihren Mantel, griff nach dem Autoschlüssel.
»Geben Sie meinem Mann in Zukunft keine Termine mehr, und stellen Sie ihn auch telefonisch nicht durch«, wies sie ihre Sekretärin an, ehe sie ihr Büro verließ.
Dorothea Lowetscheks Geschwätzigkeit war die undichte Stelle, durch die Laura erfuhr, dass in diesem Jahr Prämien ausgezahlt worden waren. Da bisher auf ihrem Gehaltszettel neben dem üblichen monatlichen Salär keine Extras gelistet wurden, war sie davon ausgegangen, dass es diesmal keine Sonderzahlungen für die Mitarbeiter gab. Es waren genug Gerüchte kursiert, dass die Geschäftsführung aufgrund der hohen Ausgaben für die prestigeträchtige 250-Jahr-Feier des Karolinums in diesem Sommer rigorose Sparpläne fuhr.
Die Alarmglocken schrillten bei Laura erst, als Dorothea ihr brühwarm von einem Wellness-Wochenende berichtete, dass sie dank der diesjährigen Prämien mit Johanna Fraunberger in Bad Blumau zu verbringen gedachte. Dorothea sah ihr entsetztes Gesicht, wurde rot, stammelte etwas von »Ich habe nichts gesagt« und hatte es dann plötzlich eilig, eine Vitrine im hintersten Teil des Verkaufsraumes umzudekorieren.
Benommen stand Laura an der Kassa und versuchte die Information zu verdauen. Ihre Kolleginnen hatten eine Prämie bekommen. Sie ging leer aus.
Im Laufe des Tages wurde aus ihrer Benommenheit Wut. Die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren war, steigerte ihre ohnehin brodelnde Abneigung gegen den Job und jeden einzelnen Besucher, der das Karolinum betrat.
War es nicht sie gewesen, die durch die Graphiken, die sie aus der übrig gebliebenen Auktionsware für den Freiverkauf auswählte, den Umsatz erheblich gesteigert hatte? Hatten sich nicht unzählige Kunden nur deshalb für dieses oder jenes Porzellanstück entschieden, weil es von ihr in der Vitrine so besonders schön und sichtbar platziert worden war? War sie nicht diejenige, die die Stammkunden und Sammler telefonisch darüber informierte, wenn neue frei verkäufliche Stücke eintrafen?
Im Grunde hatte alles mit Johanna angefangen, ging es ihr durch den Kopf, als sie abends auf die U-Bahn wartete. Ehe Johanna im Freiverkauf anfing, waren sie ein nettes Team gewesen: die rundliche Christine, die nebenbei Psychologie studierte und mit ihren treffsicheren Analysen über besonders merkwürdige Stammkunden für Heiterkeit sorgte, und Barbara. Die schöne Barbara mit ihrem dunklen Haar und ihrem warmherzigen Lächeln.
Laura spürte einen tiefen Stich im Herzen. Sie hatte schon lange nicht mehr an Barbara gedacht. Sie hatte es sich verboten, an sie zu denken. Doch jetzt war der Gedanke präsent, und die Wunde schmerzte fast so sehr wie damals. Es war ihre Schuld gewesen, dass Barbara gegangen war. Nur ihre Schuld.
Die freie Stelle war mit Johanna besetzt worden, einer vor Ehrgeiz brennenden Architekturstudentin, die sich mit dem Job ihr Studium finanzierte. Johanna stammte aus einem Winzerbetrieb in St. Anna aus der Steiermark. Bis zu ihrer Bekanntschaft mit Johanna hatte Laura die Steirer für ein lustiges, geselliges Volk mit viel Sinn für Gemütlichkeit gehalten. Als Johanna bereits an ihrem zweiten Tag im Karolinum das Ablagesystem neu organisierte und das Ausdruckformular für die Expertisen umänderte, ahnte Laura, dass diese Frau die Ausnahme von der Regel sein musste.
Anfangs verzichtete Johanna sogar auf Mittagspausen. Das hätte Laura herzlich wenig gestört – allerdings erwartete Johanna, dass alle genauso handelten wie sie. Vor der Chefin wusste sie sich immer gut zu verkaufen, auch auf Kosten anderer. Sie zögerte keine Sekunde, wenn es darum ging, ihre Kolleginnen der Untätigkeit und Drückebergerei zu bezichtigen. Wir sind hier zum Arbeiten, nicht zum Tachinieren, war einer ihrer Lieblingssätze.
Christine hatte nach einiger Zeit das Handtuch geworfen. Sie halte diese Frau nicht mehr aus, hatte sie Laura offenbart – und gekündigt. Ihre Stelle war mit Dorothea Lowetschek nachbesetzt worden, die im Expedit eines Papierproduzenten gearbeitet hatte, was sie aufgrund von Bandscheibenproblemen aufgeben musste. Ihr fehlten nur noch wenige Jahre zur Pension und so war sie, wie sie anfangs ständig betonte, dankbar für die Stelle im Karolinum.
Laura stellte sich wieder einmal die Frage, was eine Lagerarbeiterin dazu qualifizierte, Kunstwerke zu verkaufen. Und vor allem, weshalb jemand, der auf Englisch nicht einmal den Weg zur nächsten Toilette beschreiben konnte, eine Prämie bekam, während sie leer ausging. Eine Chefin wie Dr. Sabine Burger sah offenbar nur die Leistung der anderen.
Verbittert und nach wie vor wütend kam Laura zu Hause an. Tosca hatte den Tisch gedeckt; ein dampfender Eintopf stand auf dem Herd. Laura legte ab und ging grußlos an ihr vorbei. Im Moment war ihr alles zuviel. Ihr war weder nach Eintopf zumute noch nach Toscas Gesellschaft. Sie wollte Musik aufdrehen, Tschaikowsky oder Wagner, so laut wie möglich. Die Tristesse in sich übertönen. Doch die Stereoanlage befand sich im Wohnzimmer, und im Wohnzimmer war Tosca.
Was sie jetzt brauchte, um das alles besser auszuhalten, war ein Schluck Wein. Die Flasche mit dem Salamander-Etikett hatten sie gestern gemeinsam geleert. Zum Glück hatte sie noch eine andere auf Vorrat, die ein hübsches Känguruh zierte. Als sie sich in der Küche zu ihrem kleinen Weinregal herunterbeugte, fiel ihr Blick auf die leere Salamander-Flasche. Sie stand beim Abfalleimer, direkt neben dem Sack mit dem Altpapier – so, als sollte sie demnächst entsorgt werden!
Laura beschloss, die Flasche sofort in Sicherheit zu bringen. Sie spülte sie aus, trocknete sie sorgfältig ab, durchquerte schnellen Schrittes das Wohnzimmer und riss die Türe zum Kabinett auf.
Dort erstarrte sie auf der Schwelle. Der Schrei, der sich tief in ihrer Brust formierte, blieb ihr in der Kehle stecken. Ein heiseres Keuchen war alles, was sie hervorbrachte, als sie die gähnende Leere der Kammer sich aufnahm. Keine einzige ihrer geliebten Flaschen war noch vorhanden! Stattdessen blitzte der Parkettboden wie frisch gebohnert, und die alten Krimis, die sie wahllos übereinander in dem schmalen Holzregal gestapelt hatte, präsentierten sich in Reih und Glied.
Laura stützte sich am Türrahmen ab. Ihr war schwindelig. Ihre Sammlung! Seit Mutters Tod und ihrer Übersiedlung ins Schlafzimmer hatte sie fast jede einzelne Weinflasche, die sie geleert hatte, hier verstaut. Es war ihre eigene Sammlung gewesen, ihr – Lebenswerk!
»Ich habe die alten Flaschen nach und nach zum Container gebracht«, hörte sie Tosca hinter sich sagen. »Du bist wohl schon länger nicht mehr dazu gekommen. Jetzt hast du wieder mehr Platz in der Wohnung.«
Laura rang nach Atem.
Dann hastete sie ins Schlafzimmer. Geräuschvoll warf sie die Türe hinter sich zu und ließ sich aufs Bett fallen. Tränen der Wut und Verzweiflung strömten aus ihren Augen.
Tosca hatte alles zerstört! Was maßte sich diese Person an? Stöberte in ihren Privatsachen herum und entschied darüber, was gut und richtig war! Nach Mutters Tod hatte sie endlich frei darüber entscheiden können, was ihr wichtig war. Nämlich die Weinflaschen und ihre Krimis. Mutter hatte beides nicht akzeptieren können. An Feiertagen hatte es ein Gläschen Eierlikör gegeben; das war der einzige Alkohol, der ins Haus gekommen war. Sie hatte es daher Jahre lang mit dem Wein genauso gehalten wie mit ihren Krimis: sie hatte beides heimlich konsumiert. Mit jeder Flasche, die sie nachts in ihrer kleinen Kammer geleert, und mit jedem Krimi, den sie im Schein ihrer dämmrigen Nachttischlampe gelesen hatte, war ihr Widerstand gegen das Regime ihrer Mutter größer geworden. Sie hatte sich wie die Anstifterin einer bedeutsamen Revolution gefühlt. Die Genugtuung, dass sie diese Dinge in aller Heimlichkeit tat, hatte ihr immer wieder Auftrieb gegeben, das Leben zu ertragen. Den Alltag. Ihre Mutter. Deren Eigenheiten. Die ständige Kontrolle. Laura war eine tickende Bombe. Irgendwann würde sie sich all dessen mit einem Schlag entledigen, es unter sich begraben.
Damals hatte sie die Trophäen ihrer Rebellion heimlich aus dem Haus zum Container schmuggeln müssen. Nach Mutters Tod hatte sie begonnen, sie aufzuheben. Zwar waren die Flaschen nun keine Trophäen mehr, doch immerhin ein Andenken an ihren inneren Widerstand gegen Mutters Regime.
Und Tosca hatte alles zerstört.
So wie Dr. Sabine Burger ihre Aussicht auf eine Prämie zerstört hatte. Der Schmerz vom Nachmittag gesellte sich zu der Verzweiflung über ihre verlorenen Schätze. Seit sie im Karolinum war, bemühte sie sich doch, alles zur Zufriedenheit aller zu erledigen! Sie wickelte Glas und Porzellan bruchsicher in Plastikfolie, obwohl sie davon einen Hautausschlag bekam, sie beantwortete geduldig jede Kundenanfrage, egal, ob auf Deutsch, Englisch oder Italienisch, sie half Dorothea Lowetschek mit der computergesteuerten Kassa weiter, wenn diese sich nicht mehr auskannte, sie stieg auf Leitern und befestigte Bilder an den Wänden, trotz ihrer Höhenangst … Und ihr Engagement wurde nicht belohnt!
Wütend schlug Laura auf die Bettdecke ein.
»Laura?« Toscas Stimme erklang vor der Schlafzimmertür. »Ist etwas nicht in Ordnung?« Im Eintreten blieb sie überrascht stehen, als sie Laura weinend auf dem Bett liegen sah. »Entschuldigung! Ich …«
Laura fuhr auf. Der angestaute Zorn des Tages entlud sich in diesem Augenblick. »Kannst du mich nicht eine Sekunde alleine lassen? Musst du überall herumstöbern, mir nachschleichen? Könnt ihr mich nicht endlich alle in Ruhe lassen? – Ich habe es satt! Ich will alleine sein! Ich ertrage das nicht – immer bist du da, immer um mich herum!«
Sie schluchzte in das Kissen. Bilder zogen an ihr vorbei: Mutter, die sie stets mit mahnendem Blick auf die Uhr in Empfang nahm, wenn sie sich auf dem Heimweg verspätet hatte. Dr. Sabine Burger, die sie wieder einmal ins Büro zitierte und ihr Vorhaltungen machte. Barbaras Entsetzen, als sie ihr in einem Anfall von Wagemut im Kino die Hand auf das Knie gelegt hatte. Ihr Weinen steigerte sich zu wütendem Geheul. Die Burger hatte sie um ihre Prämie betrogen. Und diese Tosca hatte sie um ihre Flaschensammlung betrogen. Vom ganzen Leben war sie bisher um einfach alles betrogen worden. Irgendwann verebbten ihre Tränen. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt.
Tosca saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte wie so oft vor sich hin. »Es tut mir leid«, sagte sie mit dumpfer Stimme, als Laura neben ihr Platz nahm. »Ich verstehe, dass dich meine Anwesenheit auf Dauer belastet. Wenn es dir lieber ist, werde ich gehen.«
»Ach. Und wohin?«
»Sagtest du nicht etwas von einer Notschlafstelle?«
Laura wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränenreste aus den Augen. Ihr Blick fiel auf den gedeckten Tisch. In der Mitte stand eine Kerze. Der Geruch von Irish Stew erfüllte die Wohnung.
»Warum hast du das getan?« Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tonfall anklagend war. Die Tür zum Kabinett stand offen; der Blick auf den blanken Parkettboden schmerzte genauso wie zuvor.
»Ich dachte, dass du Hunger hast«, erwiderte Tosca. »Deshalb habe ich gekocht, wie jeden Tag. Wenn das diesmal ein Fehler war, tut es mir leid. Es ist nicht leicht, deine Bedürfnisse zu erraten.«
Tosca begriff anscheinend gar nichts! Aber es war wohl zwecklos, ihr die Sache mit den Flaschen zu erklären – sie würde sie sowieso nicht verstehen. Niemand verstand sie! Laura fühlte sich grässlich – diesmal allerdings aus anderen Gründen als zuvor.
»Mir tut es auch leid«, sagte sie. »Ich habe es nicht so gemeint. Vergiss das mit der Notschlafstelle. Ich hatte einfach einen schlechten Tag.«
»Was ist passiert?«
Laura rang mit sich. Sie fürchtete, wenn sie erst einmal zu erzählen begann, würde Tosca Fragen stellen. Viele Fragen. Es gab Dinge, die konnte sie ihr unmöglich mitteilen. Sie würde ihr nur ein klitzekleines Bausteinchen ihres ganzen Elends anvertrauen.
»Ich habe keine Prämie bekommen. All meine Kolleginnen schon. Und das, obwohl ich mich so engagiert habe!«
»Das hört sich nach einer ziemlichen Ungerechtigkeit an«, meinte Tosca. »Was wirst du dagegen tun?«
»Was ich tun will?« Laura runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Na ja, ich meine: Wirst du einen Job suchen, oder willst du erst mit dem Chef darüber reden? Oder wirst du dein Engagement künftig herunterschrauben, oder hast du einen anderen Plan?«
Laura schaute sie mit großen Augen an.
»Plan? – Wenn mir das Karolinum keine Prämie zahlt, kann ich ja auch nichts dagegen tun! In meinem Arbeitsvertrag steht ausdrücklich, dass Prämien eine freiwillige Zusatzleistung des Arbeitgebers und daher nicht einklagbar sind.«
»Na ja, das mag rechtlich so sein«, erwiderte Tosca. »Aber lässt du das so auf dir sitzen? Willst du dort weiter arbeiten, als wäre nichts passiert? Das solltest du dir nicht gefallen lassen. Ich an deiner Stelle würde mir zumindest von meinem Chef erklären lassen, warum ich als einzige keine Prämie bekomme.«
»Ich habe eine Chefin«, entgegnete Laura düster. »Und was für eine! Es hat überhaupt keinen Sinn, mit der zu reden! Die macht mich sowieso nur nieder.«
»Ich sehe das anders«, meinte Tosca ernst. »Egal, wie schrecklich sie ist – wenn du ihr diese Frage stellst, kann sie dir die Antwort nicht schuldig bleiben. Im Übrigen, warum arbeitest du in so einem Betrieb?«
»Na ja, ich …« Laura war selbst überrascht, wie leicht sie mit einer derart simplen Frage aus der Fassung zu bringen war. »Ich arbeite da schon so lange.«
»Ist das ein Grund, um sich demütigen zu lassen?«
Was für ein Glück, dass du dort eine Stellung bekommen hast! Eines der berühmtesten Auktionshäuser Europas! Sei doch nicht undankbar! Wie kannst du behaupten, dass du dort nicht zufrieden bist? All diese schönen Dinge um dich herum! Und jeder kennt das Karolinum, jeder! Wo willst du denn sonst arbeiten, wenn nicht dort?
Die Kommentare ihrer Mutter zogen eine Endlosschleife. Erneut flammte Wut in ihr auf.
»Ich hasse meinen Job!«, platzte es aus ihr heraus. »Den ganzen Tag habe ich hauptsächlich mit urreichen und schlecht gelaunten Leuten zu tun. Und meine Kolleginnen sind ein einziger Albtraum.«
Und schließlich begann sie doch zu erzählen: von Johanna und ihrem sinnlosen Ehrgeiz, von Dorotheas Geschwätzigkeit und Unwissenheit, was die ausgestellten Kunstwerke betraf, und von ihrer distanzierten Vorgesetzten, die nur dann persönlich wurde, wenn sie andere damit verletzen konnte.
Das Reden tat gut.
Tosca hörte einfach nur zu. Gelegentlich stellte sie Fragen, hielt Lauras Redestrom im Fluss. Erst als Laura sich erschöpft zurücklehnte, ergriff sie das Wort.
»An deiner Stelle würde ich anfangen, Bewerbungen zu schreiben. In diesem Affenstall würde ich keine Stunde länger bleiben! – Was du über deine Vorgesetzte sagst, klingt, als hätte sie eine Persönlichkeitsstörung, von dieser Dorothea ist nicht viel zu erwarten, und was deine Kollegin Johanna betrifft: Die kommt mir vor wie ein Hamster im Rad. Tritt und strampelt, ohne ihrem Ziel näher zu kommen. Immerhin wurde sie doch auch noch nicht befördert, trotz ihrer Arbeitssucht.«
Laura überlegte. So hatte sie das noch nie betrachtet. Ehrgeiz und Überengagement hatten Johanna in der Tat noch keinen Schritt weitergebracht. Sie war noch immer Verkäuferin, genau wie sie.
»Danke fürs Zuhören.« Toscas Situation wurde ihr wieder bewusst, und sie fühlte leichtes Schuldbewusstsein in sich aufsteigen. »Es tut mir leid, dass ich dich mit meinen Problemen so vollgequasselt habe. Verglichen mit dir, habe ich nun wirklich keinen Grund zum Klagen.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst.«
Laura wurde rot. »Tut mir leid, ich meinte nicht … ich wollte dich nicht …« Sie blickte in Toscas Gesicht und entdeckte zu ihrem Erstaunen ein amüsiertes Lächeln.
»Komm.« Tosca erhob sich vom Sofa und reichte ihr die Hand. »Ich habe eine Idee. Wir heben den Eintopf für morgen auf und gehen heute aus. Das ist besser, als sich gegenseitig anzujammern und weiter in Trübsal zu versinken!«
Laura riss die Augen auf.
»Ausgehen? Du meinst, in ein Lokal?«
»Zum Beispiel.« Tosca lächelte. »Komm schon. Machen wir uns zur Abwechslung einen netten Abend außer Haus!«
»Gut, dass ich dich überreden konnte.« Tosca hakte sich bei ihr ein, als sie die Pizzeria verließen und in Richtung U-Bahn-Station gingen. »Tut mir leid, wenn ich nicht so viel zur Abendunterhaltung beitragen konnte. Mein Schatz an Anekdoten ist derzeit äußerst begrenzt.«
Laura schmunzelte. Der Wandel in Toscas Gemütszustand überraschte sie noch immer. Anscheinend hatte ihre Begleiterin entschieden, ihre Lebenslage mit einem gewissen Galgenhumor zu ertragen. Mehrmals hatte Tosca sie im Laufe des Abends zum Lachen gebracht und damit sogar den leisen Schmerz vertrieben, der immer noch in ihr war, wenn sie an ihre Flaschensammlung dachte.
Tosca so dicht an ihrer Seite fühlte sich warm und vertraut an. Ihre Beine bewegten sich im Gleichschritt.
»Wenigstens haben wir wieder ein Detail über dich in Erfahrung gebracht«, meinte Laura, die plötzlich den Drang verspürte, etwas zu sagen. Irgendetwas, um das Schweigen zu durchbrechen, das sie in Toscas Nähe seltsam belastend empfand. »Du kennst dich gut aus mit Wein.«
»Hmm«, meinte Tosca nachdenklich. »Wussten wir das nicht schon vorher?«
»Nicht so genau«, erwiderte Laura ernst. »Ich meine, auf dieser Karte waren so viele Weine. Du konntest zu jedem etwas Kompetentes sagen.«
»Vielleicht bin ich ja Winzerin.«
Laura brauchte Tosca nicht anzusehen. Sie konnte ihr amüsiertes Lächeln fühlen. Sie dachte unwillkürlich an Johanna, die Winzertochter. Tosca war so ganz anders.
»Vielleicht hast du eine Vinothek«, meinte sie. »Das passt besser zu dir.«
»Oh, tatsächlich?« Tosca blieb stehen. »Und wieso?«
»Na ja, ich meine«, Laura trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, »du wirkst einfach so … geschäftstüchtig und welterfahren.«
»Und eine Vinothek-Besitzerin ist das? Welterfahren und geschäftstüchtig?«
»Ich weiß nicht.« Laura setzte sich wieder in Bewegung und zog Tosca mit sich. Das Thema wollte sie nicht gern vertiefen. »Vielleicht stelle ich mir das nur so vor«, schob sie etwas leiser nach.
»Jedenfalls war es ein sehr schöner Abend. Für mich zumindest.«
Für mich auch, wollte Laura sagen, doch Tosca blieb plötzlich abrupt stehen, den Blick nach oben gerichtet. »Sieh nur – was für eine wunderschöne, sternenklare Nacht! Der Himmel schwebt wie ein Zeltdach über uns!«
Laura dachte an Barbara. Im Freilicht-Kino war einmal ein uralter, preisgekrönter Schwarz-Weiß-Film über King Lear gelaufen. Sie hatten den Text kaum verstanden, zumal das altertümliche Englisch von viel zu lauter Musik übertönt worden war, und lieber auf einer Bank im angrenzenden Park zusammen den Himmel betrachtet.
Sie dachte an die seltsamen Umstände ihres Zusammentreffens mit Tosca. Sie dachte an deren Amnesie, von der niemand wissen konnte, wie lange sie noch andauern würde. Sie dachte an die Bluse mit dem Blut. Sie dachte an Toscas Augen, die in der Pizzeria im Schein der Kerze geglänzt hatten wie Diamanten.
Warum hatte sie Tosca nicht einfach in einer Pizzeria kennenlernen können, ohne Blut auf der Bluse, aber mit einer Vergangenheit und einem wirklichen Namen? Sie hätten Freundinnen werden können.
Laura knipste die Nachttischlampe aus. Tosca kuschelte sich in ihre Bettdecke, strampelte sich jedoch nach wenigen Minuten wieder frei.
»Können wir nicht das Fenster aufmachen? Es ist stickig hier – und heiß.«
Laura zog die Bettdecke bis zum Kinn. »Mir ist kalt.« Als sie Tosca neben sich gequält seufzen hörte, fügte sie hinzu: »Aber wenn du kurz lüftest, werde ich das verkraften.«
Kühle Nachtluft strömte herein. Laura fröstelte unter der Bettdecke.
»Schläfst du nie bei offenem Fenster?«
»Nicht bei Minustemperaturen!«
»Im Sommer aber schon?«
»Selten. Ich bin das nicht gewohnt. Meine Mutter wollte das nie.«
»Wie du am besten schläfst, ist doch deine Sache.«
»Das ist schwierig, wenn Jahrmillionen alles nach ihrem Willen gelaufen ist. Sogar wenn ich die Türe vom Kabinett geschlossen hatte, hat sie sich eingebildet, im Schlafzimmer einen Luftzug zu spüren.«
»Du hast in diesem kleinen Rattenloch geschlafen?«
»Wenn du es so bezeichnest – ja. Aber zumindest hatte ich ein eigenes Zimmer.«
Sie hatte nicht überlegt, sondern spontan geantwortet. Als Tosca sich nun aufrichtete und sie mit offensichtlicher Irritation im Gesicht anschaute, wurde ihr bewusst, dass ihre Spontaneität ein Fehler gewesen war.
»Es ist doch wohl selbstverständlich, dass du ein eigenes Zimmer hattest! Was wäre denn die Alternative? Etwa, dass du mit ihr in einem Bett schläfst?«
Wenn Laura die Fähigkeit gehabt hätte, sich unsichtbar zu machen – in diesem Moment wäre aus ihrer Sicht ein guter Zeitpunkt dafür gewesen.
»Mutter hat das tatsächlich gewollt«, sagte sie leise. »Als ich vierzehn oder fünfzehn war, hatte sie plötzlich die Idee, selbst Obst und Gemüse einzukochen. Sie hatte irgendwo gelesen, dass es früher oder später wegen des Klimawandels zu einem Versorgungsengpass kommen würde, und daher wollte sie für die nächsten Jahre vorsorgen. Mein Zimmer wollte sie in eine Vorratskammer umfunktionieren. Aber ich habe gestreikt.«
Es war das einzige Mal, dass sie sich ihr gegenüber durchgesetzt hatte. Die drei Wochen, in denen ihre Mutter aus Kränkung kein Wort mehr mit ihr gewechselt hatte, waren mit die schlimmsten ihres Lebens gewesen.
»Das ist ja alles total absurd! – Wie viele Jahre habt ihr denn gemeinsam in dieser Wohnung gewohnt?«
Was sollten diese Fragen? »Lange. Seit ich geboren bin.« Laura wandte den Kopf zur Seite. Sie wollte nicht, dass Tosca sie ansah, wenn sie ihr schon solche Fragen stellte.
»Du hast also dein ganzes Leben mit deiner Mutter zusammengewohnt? Du bist nie ausgezogen, auch nicht für kurze Zeit?«
»Nein.«
Laura hoffte, durch die knappe Antwort deutlich genug signalisiert zu haben, dass dieses Gespräch für sie zu Ende war, doch Tosca blieb hartnäckig.
»Und als sie gestorben war, bist du einfach von deinem kleinen Rattenloch ins Schlafzimmer gezogen? Und schläfst nun in ihrem Bett?«
Toscas Stimme klang so, als würde sie mit einem Salto mortale das Bett verlassen, falls die Antwort auf diese Frage »Ja« lauten sollte.
»In diesem Bett hat sie nie gelegen«, erwiderte Laura wahrheitsgemäß und ärgerte sich gleichzeitig über Toscas Frage. Fiel ihr denn nicht auf, dass das moderne Holzgestell so gar nicht zu den schweren, dunklen Schränken passte? – Sie hätte es nicht ertragen können, in jenem Bett zu nächtigen, in dem Mutter gestorben war.
»Seit wann ist deine Mutter denn nicht mehr am Leben?«
Laura fühlte Toscas durchdringenden Blick im Rücken. Der schöne Abend, den sie gemeinsam verbracht hatten, bekam plötzlich eine düstere Note.
»Vor drei Jahren«, antwortete sie unwirsch und warf sich dann herum. »Sonst noch Fragen?«
»Nein. Ich …« Tosca schluckte. »Entschuldige bitte, wenn ich dir damit zu nahe getreten bin. Ich habe nicht erwartet, dass …« Sie verstummte, schüttelte den Kopf.
»Was hast du denn erwartet? Dass ich meine alte Mutter sich selbst überlasse und die Hälfte meines mickrigen Einkommens in die Miete eines eigenen Ein-Zimmer-Appartements am anderen Ende der Stadt investiere, nur, damit nicht nach Jahren jemand daherkommt und mich ansieht, als wäre ich eine vollkommen kranke, entartete Persönlichkeit?!« Lauras Stimme überschlug sich. Sie wollte nicht weiterreden, wollte ins andere Zimmer flüchten, doch Tosca packte sie jäh am Arm und riss sie zurück.
»Laura, verdammt!« Auch sie war nun aufgebracht. »Was soll das? Ich darf doch wohl noch überrascht sein! Ich habe nicht damit gerechnet, dass dein Verhältnis zu deiner Mutter so eng war, das ist alles! Und zugegeben, ja, es bestürzt mich zu hören, dass du anscheinend nie für dich sein konntest und sie in diesem Ausmaß über dein Leben bestimmt hat – sogar entschieden hat, dass du bei geschlossenem Fenster zu schlafen hast! Über was hat sie noch entschieden? Auch darüber, ob du mit Freunden ausgehen darfst? Wie lange du wegbleibst? Ob du Sex hast? – Das ist doch krank!«
»Das habe ich ja gesagt!«
Der Schmerz und die Wut in Laura waren übermächtig. Sie wollte sich losreißen, doch Toscas Griff war fest. Ihre Hände lagen auf Lauras Schultern und drückten sie auf das Bett.
»Hör mir genau zu.« Ihre Stimme klang scharf und bestimmend. »Ich sagte nicht, dass du krank bist. Ich sagte, ich finde das krank – die Umstände. Das ist ein gestörter Ablösungsprozess.«
Lauras Tränen begannen zu fließen – erst lautlos; dann ging ihr Weinen in ein heftiges Schluchzen über.
»Laura. – Bitte.« Tosca ließ sie los. Laura hatte immer noch den Wunsch, wegzulaufen, doch ihre Glieder wollten ihr nicht gehorchen.
»Tut mir leid. – Tut mir leid.«
Tosca beugte sich über sie, zog sie sanft an sich. Laura ließ es willenlos geschehen.
»Ich bin zu weit gegangen«, murmelte Tosca an ihrem Ohr. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
Eine Hand strich fest und zart zugleich über ihr Haar, über ihren Rücken. Lauras Wille wegzulaufen schrumpfte in sich zusammen. Ihr Schluchzen verebbte. Irgendwann konnte sie Tosca wieder in die Augen sehen. Es war ein schuldbewusstes Augenpaar, das sie da anblickte.
»Ich weiß das doch alles selbst«, sagte sie und zog die Nase hoch. »Ich wusste, dass das nicht normal ist, aber ich konnte es einfach nicht ändern.«
»Diesmal kann ich den Kindern nur Kleinigkeiten zu Weihnachten geben«, klagte die ältere Dame, an die Laura gerade eine Fuchs-Graphik für 560,– Euro verkauft hatte. »Ich weiß ja nicht, wie es weitergeht mit dieser Sache.«
»Ja ja, die Wirtschaftskrise«, mischte sich Johanna, die soeben ihren Kunden verabschiedet hatte, eifrig ein. »Das ist schon bitter. Aber Sie, Frau Dr. Winkler, sind nicht die einzige, die es getroffen hat – mir haben heute schon mindestens fünf Leute erzählt, dass ihre Aktien immens an Wert verloren haben.«
Die Stammkundin bedachte sie mit einem pikierten Blick, doch Johanna plauderte munter weiter, ohne ihn zu bemerken. »Aber es geht ja auch wieder aufwärts. Mein Bankberater hat gesagt, jetzt ist die beste Zeit, um günstig Aktien zu kaufen. Es ist eine Gesetzmäßigkeit der Volkswirtschaft, dass es trotz temporärer Flauten langfristig immer aufwärts geht.«
Laura fragte sich, ob es Johanna eigentlich nicht peinlich war, einer wohlhabenden Frau wie Dr. Elisabeth Winkler, die gewiss von Aktienfonds mehr Ahnung hatte, als Johanna jemals haben würde, einen Vortrag über Volkswirtschaft zu halten. Johannas Gesichtsausdruck – Laura nannte ihn insgeheim die wichtige Miene – ließ vermuten, dass sie tatsächlich kein Gespür für diese Dinge hatte. Erst als ihr die langjährige Stammkundin ein süffisantes Lächeln schenkte, schien sie zu bemerken, dass ihr Ratschlag wohl etwas unangebracht war, und schob nach: »Aber Sie kennen sich da wahrscheinlich besser aus als ich.«
»Ja, gewiss sogar.« Die Dame nahm von Laura die Plastiktasche mit ihrem Einkauf entgegen und erläuterte ihr: »Wenn es nur ein paar Aktienkurse wären, mein Kind. Allerdings hat mein verstorbener Mann eine beträchtliche Summe in dieses dubiose Unternehmen investiert, die Siberius-Finanzgruppe. Sicherlich haben Sie davon gelesen: deren Eigentümer sind über alle Berge, vermutlich in Südamerika, und von den sechzig Millionen Euro Fondsvermögen fehlt jede Spur.«
»Ach … ich habe von der Geschichte natürlich gehört.« Laura betrachtete Johanna von der Seite und wusste sofort: ihre Kollegin hatte in Wahrheit keine Ahnung, um was es ging. Sie hatte noch nie erlebt, dass Johanna es zugab, wenn sie etwas nicht wusste. »Eine schlimme Sache. – Aber wie kann es denn sein, dass sechzig Millionen Euro aus Fonds verschwinden?«
»Das Unternehmen war in Österreich und Deutschland aktiv, aber die Fonds waren in Luxemburg investiert. Die österreichische Finanzmarktaufsicht fühlte sich also nicht zuständig. Aber es kann ja nicht sein, dass ein Unternehmen nach Herzenslust österreichische Kunden hinters Licht führen darf, und die Behörde tut so, als ginge sie das nichts an! Man prüft derzeit die Möglichkeit einer Sammelklage. Ich bin schließlich nicht die einzige, deren Vermögen verschwunden ist. Diese Betrüger hatten immerhin 16.000 Kunden.«
»Das ist ja arg«, meinte Johanna, und Laura, die nur mit halbem Ohr zugehört hatte, da sie nebenbei einen weiteren Kunden abkassierte, war einen kleinen Moment froh darüber, nie in die Verlegenheit zu kommen, Geld in irgendetwas zu investieren.
»Aber die Eigentümer dieser Siberius-Finanzgruppe – werden die nicht verklagt?«
»Natürlich werden sie das. Aber dazu müssen sie erst einmal gefunden werden. Da nicht zu erwarten ist, dass dieses nette Paar das Geld im Koffer mit sich herum trägt, richtet der Anwalt die Klage gegen die Finanzmarktaufsicht.«
Finanzmarktaufsicht. Sammelklage. Luxemburg. Laura schwirrte der Kopf nur vom vagen Hinhören.
»Gott sei Dank treffe ich dich hier!« Berta war hereingestürzt, in der Hand mehrere prall gefüllte Einkaufstaschen. Anscheinend war auch sie damit beschäftigt, Weihnachtseinkäufe zu tätigen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
Laura runzelte die Stirn. Der Satz aus Bertas Mund kam ihr mittlerweile schon fast vertraut vor, auch wenn sie die Sorge nicht begriff.
»Man hört und sieht nichts von dir«, klagte Berta. »Geht es dir wirklich gut?«
Nicht mehr und nicht weniger als jedes Jahr zur Weihnachtszeit, ging es Laura angesichts des täglichen Ansturms von Kunden durch den Kopf. Johannas Interesse an ihrer Unterhaltung im Rücken, antwortete sie: »Alles in Ordnung. Warum soll es mir nicht gut gehen?«
Berta schien Johannas Aufmerksamkeit ebenfalls zu spüren. Sie lehnte sich über die Theke und senkte die Stimme: »Ich habe etwas herausgefunden. Über diese Frau, die neulich bei dir zu Gast war.«
Laura blieb fast das Herz stehen. Was, wenn Berta mehr über Tosca wusste als diese selbst? Wenn sie die Erklärung lieferte für die blutverschmierte Bluse?
Berta ließ ihr keine Zeit, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. »Sie hat dich angelogen. Sie hat gar keine Galerie in Düsseldorf!«
»Woher weißt du das?«
»Peter hat im Internet geforscht … damit kenne ich mich ja nicht aus. Aber es gibt überhaupt nichts über eine Tosca Raimund. Peter sagt, dass sei seltsam. Jeder in eurem Alter sei jetzt im Internet zu finden. Sogar über dich gibt es einen Eintrag!«
»Was?« Laura wusste im ersten Augenblick nicht, was sie mehr schockierte: dass Berta und Peter ihr hinterher schnüffelten, oder dass sie in irgendeiner Weise über das Internet auszuforschen war.
»Ja, du bist auf der Home-Seite oder wie das heißt angeführt … auf der des Karolinums. Aber über diese Tosca gibt es, wie gesagt, nichts! – Laura, diese Frau ist nicht ehrlich!«
Ihr erster Schock schlug um in Ärger. Was bildete sich Berta eigentlich ein? Ihr sagen zu können, mit wem sie Umgang haben durfte? Berta hatte kein Recht, in Mutters Fußstapfen zu treten, und sie hatte auch kein Recht, über Dinge zu urteilen, die sie nichts, aber auch gar nichts angingen!
»Tosca ist eine sehr gute Freundin von mir«, erklärte sie so kaltschnäuzig wie möglich. »Ich habe durchaus keinen Grund, ihr zu misstrauen. Sie war bisher in jeder Hinsicht ehrlich zu mir.«
Berta verzog unwillig das Gesicht. »Sag bitte nicht, ich hätte dich nicht vor ihr gewarnt! Vertrau einer alten Frau. Irgendetwas stimmt da nicht.«
Trotz der heftigen Ablehnung, die sie in diesem Moment gegenüber Berta empfand, umspielte ihre Lippen plötzlich ein feines Lächeln. Über Bertas Haupt schwebte einer der schweren Luster, die seit gestern zum Verkauf angeboten waren, wie ein funkelnder Heiligenschein. Was, wenn ihn der Haustechniker nun nicht fest genug angeschraubt hatte?
»Ich nehme doch an, wir sehen uns am Donnerstag?« Vielleicht konnte Berta Gedanken lesen, denn sie klang nun sehr frostig. »Beethoven und Schubert stehen auf dem Programm.«
Die Antwort fiel Laura leichter, als sie erwartet hätte. »Nein, tut mir wirklich leid. Diesmal nicht. Ich bin schon verabredet.«
»Nun gut. Wenn du meinst. Dann noch einen schönen Tag.« Bertas Doppelkinn zitterte, als sie sich dem Ausgang zuwandte. An der Schwelle zum Foyer blieb sie nochmals stehen. »Wenn das deine Mutter noch erleben würde! Der Schlag würde sie treffen!«
Laura erwiderte nichts. Als sie die Prospekte, die sie die ganze Zeit umklammert hatte, nun endlich auf dem Tresen platzierte, zitterte ihre Hand. Warum erledigte der Haustechniker seine Arbeiten auch immer so dermaßen gründlich!
»Schön, dass Sie Ihr Privatgespräch jetzt beendet haben«, kam es bissig von der Dame, die anscheinend schon eine ganze Weile neben ihr gestanden hatte. »Es sind mindestens zehn Kunden im Verkaufsraum, aber Sie halten es für angebracht, hier Besuch zu empfangen. Dafür werden Sie nicht bezahlt!«
»Entschuldigung, Frau Dr. Burger. Es war nicht geplant.«
Hastig stürzte Laura auf den nächstbesten Kunden zu und fragte nach dessen Wünschen. Die Ringe und Broschen, die sie ihm präsentierte, verwandelten sich in ihrer Phantasie in kleine tödliche Geschosse, die Frau Dr. Sabine Burger durchsiebten, bis ihr die Beine unter dem Körper wegknickten und sie vor der Verkaufstheke zusammenbrach.
Johanna hatte sich eine halbe Ewigkeit mit Frau Winkler unterhalten, während Laura ihrer Arbeit nachgegangen war. Kaum hatte Berta sie für fünf Minuten in ein Gespräch gezwungen, auf das sie gerne verzichtet hätte, kam diese elende Chefin und maßregelte sie.
Immer war sie es, die auf der Schattenseite des Lebens stand!
»Laura, darf ich dich etwas fragen?« Tosca blickte sie über den Rand ihres Weinglases ernst an.
»Bitte«, erwiderte Laura arglos. Sie war in Gedanken noch immer bei Berta und der ungerechten Behandlung, die ihr wieder einmal widerfahren war, nicht hier im Wohnzimmer. Dass sie Tosca ihr Einverständnis möglicherweise zu rasch erteilt hatte, wurde ihr erst klar, als diese nachschob: »Etwas Persönliches.«
»Und was?«
»Wie ist deine Mutter eigentlich gestorben?«
»Ein Schlaganfall. Sie starb quasi im Schlaf.«
Es war, als würde sie über das Wetter plaudern. Laura war selbst erstaunt, wie wenig sie die Erinnerungen daran inzwischen berührten. »Sie war schon alt«, fuhr sie fort. »Ich meine: nicht uralt, natürlich hätte sie älter werden können als siebenundsiebzig.«
»Das heißt, du bist aufgewacht, hast dich gewundert, warum sie nicht zum Frühstück kommt, und hast sie dann tot im Bett entdeckt?« »Hmm, ja.« Laura nahm einen tiefen Schluck Wein. Diese Erinnerung berührte sie nun allerdings sehr wohl!
»Das ist gruslig«, erwiderte Tosca auch prompt. Ihre Stimme klang nachdenklich. Laura dachte schon, die Fragestunde hätte sich damit erledigt, doch nach einiger Zeit nahm Tosca den Faden wieder auf.
»Deine Mutter war ziemlich alt, als sie dich geboren hat.«
»Ja. Einundvierzig.«
»Was war mit deinem Vater?«
Laura hob die Schultern.
»Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht.«
»Hast du sie nie danach gefragt?«
»Natürlich. Aber die einzige Antwort, die ich darauf bekam, war die, dass es mich nicht zu interessieren hätte.«
»Und das hast du akzeptiert?«
Laura seufzte.
»Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich war damals vierzehn, und du kanntest meine Mutter nicht. Sie war … sehr strikt, sehr autoritär. Ich habe auch später nicht mehr gefragt. Es hätte keinen Sinn gehabt. – Als Mutter tot war, hatte ich Zugang zu ihren persönlichen Unterlagen. Jahre lang hatte sie diese persönlichen Dinge in einer Lade in diesem Kasten dort. Versperrt. Nach ihrem Tod habe ich das Schloss aufbrechen lassen, es waren da ja alle wichtigen Dokumente verwahrt. So bekam ich erstmals meine eigene Geburtsurkunde zu Gesicht. Vater unbekannt, hieß es da … wenn du meine Mutter gekannt hättest, wüsstest du, dass das völlig unmöglich ist. Meine Mutter hätte niemals mit jemandem Verkehr gehabt, ohne nicht mindestens den sozialen Status, die Vermögensverhältnisse oder einen Teil des Familienstammbaums zu kennen! Sie war nicht so … leichtfertig.«
»Na ja.« Tosca ließ den Wein langsam im Glas zirkulieren und betrachtete nachdenklich die Schlieren, die er bildete. Sie mied Lauras Blick, als sie vorsichtig hinzusetzte: »Vielleicht geschah es ja nicht auf freiwilliger Basis.«
»Du meinst, eine Vergewaltigung?« Laura sah keinen Grund, es nicht direkt anzusprechen. »Ich habe das Zeit meines Lebens in Betracht gezogen. Es hat mich gequält, besonders als ich ein Teenager war. Inzwischen schließe ich die Möglichkeit aus. In den persönlichen Unterlagen meiner Mutter habe ich ein Foto entdeckt. Es zeigt sie und einen Mann an Bord eines Schiffes. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen; es war völlig zerkratzt, wahrscheinlich mit einem Messer oder einer Zirkelspitze. Auf der Rückseite des Fotos steht ›Anna und Sergio 1971‹. 1971 ist das Jahr, bevor ich geboren wurde, meine Mutter hieß Anna und befand sich in diesem Jahr auf einer mehrwöchigen Kreuzschifffahrt im Mittelmeer. Ich gehe davon aus, dass dieser Sergio mein Erzeuger ist.«
»Ein Italiener also.« Sie fühlte Toscas Blick erst über ihr Gesicht gleiten, dann über ihren Körper. Ihr wurde heiß. Schnell senkte sie den Kopf. »Das könnte schon stimmen. Dein Teint ist dunkler, und du hast irgendetwas Südländisches an dir … das ist mir gleich aufgefallen. Deine Augenbrauen, dein volles Haar, dein zierlicher Körper – das könnte tatsächlich passen. Hast du wirklich nie versucht, Details über diesen Sergio herauszufinden? Und was ist mit deinen Großeltern? Oder irgendwelchen Passagierlisten von damals, in denen du nach dem Nachnamen des Mannes suchen kannst?«
Laura lächelte müde.
»Ich habe nach Mutters Tod tatsächlich darüber nachgedacht, Nachforschungen anzustellen. Ich habe mich dann aber entschieden, es bleiben zu lassen. Wer auch immer dieser Sergio ist – die Geschichte mit meiner Mutter ist über 36 Jahre her und hatte offensichtlich kein besonders glorreiches Ende. Möglicherweise war er verheiratet oder hat dann geheiratet. Egal. Ich gehe nicht davon aus, dass er über mein plötzliches Auftauchen besonders begeistert wäre. Ich will keine unnötige Unruhe in sein Leben bringen. Meiner Mutter traue ich zu, dass sie ihm nicht einmal von der Schwangerschaft erzählt hat. Sie war sehr eigenwillig. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie es mit einem Mann unter einem Dach ausgehalten hätte. Im Grunde war sie nicht der Typ für eine Partnerschaft.«
Tosca ließ den Wein im Glas kreisen, hielt ihn gegen das Licht. Eine ganze Weile galt ihr ausschließliches Interesse der Farbe des Tropfens. Plötzlich stellte sie das Glas auf den Tisch und warf forsch ihre Haare in den Nacken. »Wie ist das mit dir? Bist du auch nicht der Typ für eine Partnerschaft?«
Laura schluckte. Ihr Magen zog sich zusammen. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich ganz leer an. Sie faltete die Hände ineinander, spürte, dass ihre Handflächen feucht geworden waren, und legte sie schließlich auf die Knie. Sie starrte auf ihre Fingerspitzen und sagte einfach nichts. Weil es nichts zu sagen gab und weil sie nichts sagen wollte, weil Toscas Frage in Wahrheit impertinent und aufdringlich war, weil es ihr überhaupt nicht zustand, derartige Fragen zu stellen, weil alle Leute ständig irgendetwas fragten, nach den Toiletten, nach neuen Graphiken, nach dem Weg zum Stephansdom, nach ihren Zeitplänen für Donnerstagabend, nach der Frau, die keine Galerie hatte, nach ihrer Mutter, nach …
»Ist das so eine schlimme Frage für dich?«
Toscas Stimme klang sehr sanft und erstickte ihre aufkeimende Wut. Sie schob die Hände wieder ineinander, starrte auf ihre Fingerkuppen.
»Findest du mich merkwürdig, weil ich nicht verheiratet bin und mindestens fünf Kinder habe?« entgegnete sie, ohne eine gewisse Bitterkeit verbergen zu können. »Denkst du, mit mir stimmt was nicht? Fragst du mich deshalb diese Sachen?«
»Nein!« Tosca runzelte irritiert die Stirn. »Wie kommst du darauf? – Ich frage dich aus reinem Interesse! Es interessiert mich, weshalb ein so liebenswerter, großzügiger und auch eloquenter Mensch wie du alleine ist, das ist alles!«
Liebenswert. Großzügig. Eloquent.
Laura schluckte erneut. Die Beklommenheit, die sie in sich verspürt hatte, wurde vom Klopfen ihres Herzens überlagert. Trotzdem schaffte sie es nicht, Tosca anzusehen, als sie ihre Frage nun doch beantwortete.
»Ich hatte ein-, zweimal eine Beziehung, aber es hat nicht funktioniert. Dann ist Mutter gestorben und ich hatte erst mal andere Sorgen. So ist das.«
»So ist das«, wiederholte Tosca langsam. »Eigentlich keine schwierige Antwort, oder doch? – Und ich bin ganz erstaunt, dass es dir offenbar doch einige Zeit lang gelungen ist, Beziehungen zu führen, obwohl dir deine Mutter ständig im Nacken saß. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr das gefiel, nach allem, was du mir von ihr erzählt hast.«
»Oh, sie wusste nicht alles von mir.« Die Erinnerung an jene Dinge, die sie vor ihr verheimlicht hatte, rief selbst jetzt noch das Hochgefühl erfolgreicher Rebellion in Laura wach. »Ich habe sie oft belogen, um mir Freiraum zu schaffen. – Ich habe ihr beispielsweise erzählt, dass abends im Karolinum Ausstellungen stattfinden, bei denen ich mitarbeiten muss. Und ich habe so gewisse Dinge getan – in meinem Zimmer. Wenn die Türe zu war.«
Unweigerlich dachte sie wieder an den Verlust ihrer Weinflaschen. Ihre Miene verfinsterte sich.
»Was denn für Dinge?«
Ein amüsiertes Lächeln lag auf Toscas Lippen, als ihr Laura nach einiger Zeit wieder den Blick zuwandte. Ihr Tonfall verriet deutlich, an was sie dachte. Laura errötete.
»Nicht das, was du denkst!«, stellte sie verlegen klar.
»Was, etwa nicht?« Tosca grinste sie breit an. Es war offensichtlich, dass sie es in diesem Moment genoss, sie so verlegen zu sehen. »Wenn du das nicht in deinem Zimmer getan hast, wo denn dann? – Du machst mich wirklich neugierig!«
Auch ohne in den Spiegel zu sehen, wusste Laura, dass ihr Kopf inzwischen die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte.
»Nein!!!«
Ein gellender Schrei riss Laura aus dem Schlaf. Sie knipste die Nachttischlampe an. Tosca saß aufrecht. Sie zitterte am ganzen Körper; ihr Gesicht war aschfahl.
Laura streckte vorsichtig den Arm nach ihr aus und berührte sie an der Schulter. Tosca zuckte zusammen. Sie schien durch Laura hindurchzusehen.
»Da war ein Mann«, stieß sie dann plötzlich bebend hervor. »Mit einer Pistole. Er hatte sie auf mich gerichtet!«
»In deinem Traum?«
»Ich … ich war in diesem Keller. Es …war … es war stockdunkel. Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann kam herein. Er hatte eine Pistole! Laura!« Tosca war so aufgewühlt, dass ihr sogar das Sprechen schwer fiel. Sie warf sich Laura in die Arme, die ihren schnellen, aufgebrachten Herzschlag spürte, als wäre es ihr eigener. Vorbei war es mit der Selbstsicherheit, die Tosca noch wenige Stunden zuvor ausgestrahlt hatte, als sie sie über ihr Leben ausgefragt hatte. Jetzt herrschte in Tosca offensichtlich nur noch Angst. Todesangst.
Zögernd legte Laura die Arme um ihren Oberkörper. Sie war nicht geübt darin, andere Leute zu trösten.
»Kanntest du den Mann?« Sogar in ihren eigenen Ohren hörte sich die Frage hölzern an.
»Ich weiß nicht.« Tosca vergrub ihr Gesicht in Lauras Halsbeuge. »Ich weiß überhaupt nichts.«
»Vielleicht war es einfach nur ein Traum«, warf Laura vage ein. »Keine Erinnerung.«
»Ich bin sicher, dass es wirklich geschehen ist«, murmelte Tosca an ihrem Hals. »Ich spüre, dass es nicht bloß ein Traum ist. Ich spüre diesen Hass auf mich, den der Mann in sich trägt … und ich will weglaufen, aber meine Beine gehorchen mir nicht!«
»Wie sah der Mann in deinem Traum aus?«
»Ich weiß es nicht.« Trotzdem schien sie zu überlegen. Laura spürte, dass ihre Tränen versiegten. »Er hatte eine Glatze. Das ist das einzige, woran ich mich erinnere.«
»Immerhin«, meinte Laura. »Ein Anhaltspunkt mehr.«
»Ich will mein Leben zurück!« Tosca schluchzte verzweifelt auf. »Ich will wissen, wer ich bin, warum ich in diesem Keller war, was dazu geführt hat, dass ich hier in Wien bei Eiseskälte auf der Straße saß! Ich will wissen, warum mich dieser Mann umbringen wollte … und was mit ihm geschehen ist. Ich kann es nicht ertragen, hier länger untätig herumzusitzen und darauf zu hoffen, dass irgendwann meine Erinnerung zurückkommt! Das bin nicht ich, Laura, das fühle ich! Ich will endlich etwas tun … ich will mich erinnern!«
Laura strich ihr sanft über den Rücken. Sie fühlte sich in diesem Augenblick ebenso hilflos wie Tosca selbst. Sie wollte ihr helfen, wusste aber, dass es nicht in ihrer Macht lag.
»Du wirst dich erinnern«, sagte sie, ohne selbst daran zu glauben. »Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Dieses Herumsitzen macht mich träge und depressiv. Ich kann nicht einmal irgendetwas arbeiten, ohne Papiere! Ich lebe hier auf deine Kosten, ich esse hier mit dir, sogar Kleidung kaufst du von deinem Geld!«
»Mach dir darüber bitte keine Gedanken.«
»Ich kann nicht einmal ein Buch oder eine DVD ausleihen.«
»Sag mir, was du willst, und ich leihe es auf meinen Namen für dich aus.«
»Ich hasse es, so abhängig zu sein!«
»Ich weiß. Aber im Moment können wir das nicht ändern.«
Tosca löste sich aus der Umarmung und ließ sich nach hinten zurück ins Kissen fallen. Laura löschte das Licht. Eine Weile lagen sie still nebeneinander. Laura merkte jedoch, dass die Frau neben ihr weit davon entfernt war, Schlaf zu finden.
»Dieser Mann wollte mich umbringen«, sagte Tosca plötzlich in die Stille des Zimmers. »Was ist, wenn er hierher kommt, um sein Vorhaben zu vollenden?«
»Niemand weiß, wo du bist.«
Laura fragte sich selbst, woher sie die Stärke nahm, dies mit so großer Überzeugungskraft zu behaupten. In Wahrheit machte ihr der Gedanke, dass der Mann aus Toscas Traum ihr tatsächlich auf den Spuren war, ebenso große Angst wie dieser selbst.
»Hast du die Wohnungstüre gut abgeschlossen?«
»Natürlich. Wie jeden Abend.« Laura erinnerte sich noch gut daran, dass Tosca vor einiger Zeit noch über ihre Sicherheitsvorkehrungen gespottet hatte.
Tosca erwiderte nichts. Laura wühlte sich tief in die Bettdecke, den Kopf voller Bilder von glatzköpfigen Männern mit Pistolen, die nur darauf warteten, ihre Wohnung zu stürmen und ein Blutbad anzurichten.
»Laura?«
»Hmm?«
»Ich fühle mich so allein. Bitte, nimm mich in den Arm.«
Toscas Stimme klang wie die eines verzweifelten Kindes. Dünn und voller Furcht. Doch der Körper, den Laura in die Arme nahm, war der einer erwachsenen Frau. Tosca schmiegte sich vertrauensvoll an sie, bettete den Kopf in ihre Armbeuge. Ihr Atem wurde ruhig und gleichmäßig.
Laura starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Ihre Angst vor dem Mann mit der Pistole war nichts gegen die Furcht, die sie nun ergriff. Eine Furcht, gegen die auch keine drei Türschlösser halfen.
Sie war erleichtert, als Tosca irgendwann zur Seite rollte und ihr den Rücken zukehrte.
Einige Senioren gehen ständig zum Arzt, andere ins Karolinum, hatte Johanna einmal bemerkt und damit treffend auf den Punkt gebracht, was sich gerade in der Vorweihnachtszeit hier abspielte: Betuchte ältere Herren und Damen, die alleine lebten und sich einsam fühlten, kamen täglich, ließen sich Broschen, Porzellan und Graphiken zeigen und luden ihre Sorgen und Probleme beim Verkaufspersonal ab.
An diesem Tag ging es im Verkaufsraum jedoch nicht um die üblichen Krankheiten und Todesfälle im Bekanntenkreis, sondern um Emily, ein Mädchen mit blonden Zöpfen, Sommersprossen und ernstem Blick. Ihr Bild schmückte an diesem Tag die Titelseiten sämtlicher Tageszeitungen.
Bei Emily (7) kommt kein Christkind. So herzlos kann eine Mutter sein: Tochter bei Putzfrau zurückgelassen.
Tränen um die Betrüger-Mama: Emily (7) allein zu Haus –
So und so ähnlich lauteten die Schlagzeilen. Die Medien hatten ihr Weihnachtsdrama.
Während Laura zwei Vitrinen komplett neu dekorierte, diskutierte Dorothea Lowetschek in ihrer Nähe rege mit zwei Kundinnen.
»Bei all den Millionen, die dieses Paar an sich gerissen hat, hätten sie das Flugticket für das Kind auch noch zahlen können«, empörte sich eine der Damen. »Aber nein, die setzen sich ab nach Südamerika und lassen ihr eigen Fleisch und Blut zurück!«
»Ich hoffe, dass sie diese Leute endlich kriegen«, sagte die andere. »Mein Neffe hat dort Geld investiert; als Lehrer am Theresianum hat er wahrlich kein dickes Einkommen. Für die Pension wollte er vorsorgen, weil ja auf den Staat kein Verlass mehr ist. Und was nun? – Alles, was er einbezahlt hat, wird jetzt von diesen Finanz-Banditen in Südamerika verprasst. Und unsere Polizei tut nichts.«
»Na geh, Traudi, in Südamerika kann unsere Polizei ja nichts ausrichten«, warf die erste Rednerin ein.
»Es gibt aber einen internationalen Haftbefehl.« Dorothea Lowetschek wusste Bescheid. »Sie wissen nur nicht, wo die Siberius’ sich aufhalten! Südamerika ist ja bekanntlich groß.«
»Ich würde sie mit dem Kind erpressen«, erwiderte Traudi knallhart. »Man wird ja über die Medien international ver-breiten lassen können, dass die Kleine todkrank ist … oder eine Organspende braucht, oder was auch immer! Vielleicht bringt das die Frau dazu, freiwillig nach Österreich zurückzukehren. So kalt kann ein Mutterherz doch nicht sein!«
»Eine Frau, die ihr Kind bei ihrer slowakischen Putzfrau deponiert, um ihre eigene Haut zu retten, ist zu allem fähig!«, behauptete ihre Freundin im Brustton der Überzeugung.
»Polnisch«, verbesserte Dorothea Lowetschek. »In der Kronen-Zeitung stand, polnisch!«
»Ob slowakisch oder polnisch, was macht das schon für einen Unterschied! – Kann mir nicht vorstellen, dass das Kind sich da wohlfühlt, ohne die Mama!« Die Dame senkte ihre Stimme. »Ich bin einmal neben der Siberius gestanden, bei den Salzburger Festspielen! Sie ist ja eine halbe Salzburgerin, die Siberius. So eine arrogante Person! Kein Wort hat sie zu mir gesagt! Nur Champagner getrunken und durch die Gegend gestarrt. Und der Mann hat ausgeschaut wie ein Zuhälter. Kahl geschoren und mit Muskeln bepackt wie ein Boxer! Wie die das Vertrauen so vieler Anleger gewinnen konnten, ist mir ein Rätsel. Denen würde ich nicht einmal meine Einkaufstasche anvertrauen!«
Dorothea Lowetschek stimmte ihr in jedem Punkt zu, obgleich Laura stark bezweifelte, dass Dorothea diesem Herrn Siberius tatsächlich den Zugriff auf ihre Finanzen verweigert hätte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihn unlängst mit glänzenden Augen als großen, starken Mann beschrieben hatte.
Die Kundinnen hatten sich endlich verabschiedet und Laura sich eben Dorothea zugewandt, um das Thema zu vertiefen, als wie aus dem Boden gewachsen Frau Dr. Sabine Burger vor ihnen stand.
»Frau Eisner, Frau Lowetschek! Schon wieder fleißig beim Tratschen! Es stört ja auch nicht, dass vorne ein russisches Ehepaar seit mindestens zehn Minuten auf Bedienung wartet und sich Herr Dr. Baumgarten schon beinahe bei der Geschäftsleitung beschweren wollte, weil sich keiner um ihn gekümmert hat. Zum Glück konnte ich ihn noch aufhalten! – Wo ist denn überhaupt Frau Fraunberger?«
»Seit zweieinhalb Stunden im Lager«, erwiderte Laura und hegte die leise Hoffnung, dass zumindest auch Johanna Tadel ernten würde. Schließlich war es eine absolut unsinnige Idee, das Lager neu zu sortieren, während im Verkaufsraum zahllose Kunden ihre Weihnachtsbesorgungen erledigen wollten.
»Na, wenigstens eine von ihnen, die etwas tut!«, lautete der bissige Kommentar ihrer Vorgesetzten, und Laura gab wieder einmal alle Hoffnung auf. Diese Frau war ihr einfach fremd und würde ihr immer fremd bleiben. Vielleicht würde sie ja irgendwann von einer russischen Verbrecherbande nach Sibirien entführt werden, wenn schon der Aufzug im Karolinum anscheinend zu gut gewartet war, um mit ihr in die Tiefe zu rasen. Allerdings, was machte die Burger schon als Entführungsopfer attraktiv? – Sicher fand sich niemand, der bereit war, für sie auch nur einen Cent Lösegeld zu zahlen!
Das Licht war gleißend hell. Sie blinzelte. Sie lag in einem Bett und hatte ein kompaktes Bündel aus Stoff und Decken im Arm. Es fühlte sich fremd an.
»Ihr Mann ist da«, sagte eine Gestalt in Weiß.
Sie wusste, dass das nicht sein konnte.
Der Mann, der das Zimmer betrat, hielt einen Strauß bunter Blumen in der Hand, deren Sorte sie nicht kannte. Aber sie kannte den Namen des Mannes. Albert. Sie fühlte, dass er nicht hierher gehörte.
»Fünf Minuten«, sagte der Mann. »Ich weiß, dass du das nicht willst, aber ich finde, ich habe ein Recht darauf.«
»Das sehe ich anders«, sagte sie.
Er beugte sich zu ihr. Sie roch an seinem Atem, dass er getrunken hatte. Irgendwo begann ein Baby zu schreien.
»Mir tut alles weh«, klagte Laura, als sie sich auf dem Sofa niederließ. Ihr Blick fiel auf Tosca, die im Lehnstuhl saß und wieder einmal vor sich hinstarrte. Kaum ein paar Worte der Begrüßung waren über ihre Lippen gekommen.
Laura spürte wieder jene Wut in sich aufkeimen, die sich ihrer in letzter Zeit des Öfteren bemächtigt hatte. Das Sofa fühlte sich noch härter an als sonst.
»Wir haben heute 28.000 Euro Umsatz gemacht, so viel wie noch nie in diesem Jahr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es heute bei uns zugegangen ist. Es herrschte ein Betrieb wie in einem Ameisenhügel. Überall waren Kunden. Johanna hat mich nicht einmal Mittagspause machen lassen. Ich war gerade dabei, meine Semmel auszupacken, als sie mich wieder in den Verkaufsraum delegierte.« Laura schnaufte. »Und die Burger war zum Ende des Tages nicht einmal in der Lage, uns ein Dankeschön zu sagen. Von Johanna hat sie sich wenigstens verabschiedet. Aber mich hat sie völlig ignoriert. – 28.000 Euro nehmen wir ein, und dann bekomme ich weder eine Prämie noch ein Wort des Dankes!«
Sie boxte mit ihrem Ellbogen gegen die Rückenpolster, nahm den Arm zur Seite und stieß sich dabei an der hölzernen Seitenlehne an. »Ich hasse dieses Sofa!«
Tosca sagte nichts, sah sie aber ausdruckslos an.
»Hast du etwas zum Essen gemacht? – Ich habe solchen Hunger.«
»Nein«, erwiderte Tosca.
»Warum nicht?«
»Darum nicht.«
Tosca sah an ihr vorbei an die Wand.
»Toll«, entgegnete Laura bissig. »Was hast du denn eigentlich getan, während ich in der Arbeit war? Hier herumgesessen und Staubkörner gezählt?«
Tosca richtete den Blick auf sie. Diesmal war es ein direkter, keinesfalls leerer Blick. »Was soll das hier jetzt werden?«
»Nichts. Ich finde es nur eigenartig, wenn ich nach Hause komme und du sitzt da, so gemütlich und erholt … und mir tut alles weh … und du redest nichts mit mir …«
»Laura.« Tosca richtete sich im Lehnstuhl kerzengerade auf. »Ich rede mit dir. Aber du, du jammerst nur. Das ist in Wahrheit das einzige, was du willst: jammern. Du willst nichts ändern, du willst nicht aktiv werden – willst nicht einmal mit deiner Vorgesetzten sprechen, weshalb du keine Prämie bekommen hast. Nein, denn es ist viel einfacher, die Füße hochzulegen und im Selbstmitleid zu baden. Du möchtest dich nicht auseinandersetzen, weder mit dieser komischen Frau Dr. Burger noch mit deinen Kolleginnen. Du lässt dich lieber tagtäglich demütigen, als dich zu wehren. Du bist nicht in der Lage, um etwas zu kämpfen, was dir wichtig ist, sondern lässt deine innere Wut stattdessen an Mülleimern und Möbelstücken aus. Als ob sich irgendetwas ändern würde, nur weil du auf ein Sofa einschlägst! – Und, ja, wo du mich jetzt mit großen Augen ansiehst: Natürlich habe ich diese Wutanfälle bemerkt. Ich bin ja nicht blind. Aber das ist für dich anscheinend besser, als endlich einmal die Zügel in die Hand zu nehmen und etwas an deinem Leben zu ändern. Klar. Das würde ja auch Energie kosten und du müsstest deinen bevorzugten Zustand der Lethargie verlassen.«
»Was?« Die Farbe war aus Lauras Gesicht gewichen. Sie stand auf. Ihre Knie zitterten, sie fühlte sich, als hätte ihr Tosca mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weggezogen. »Das … das ist doch überhaupt nicht wahr!«
»Doch, das ist wahr.« Tosca wirkte völlig ruhig. »Schau dich um, Laura. Du wohnst wie eine alte Frau – mit Möbeln, die alt, aber alles andere als Antiquitäten sind, sondern simples, altmodisches Gebrauchsmobiliar. Um nicht zu sagen: Sperrmüll. Die Tapete im Wohnzimmer ist eine farbliche Zumutung, außerdem ist sie an einigen Stellen eingerissen. Du hörst Musik, die einem Klassik-Kränzchen im Altenheim gut anstünde, und deine einzige engere Bekannte ist offenbar eine alte Freundin deiner Mutter. Du schaffst es nicht einmal, deine leeren Weinflaschen regelmäßig zu entsorgen! – Wenn ich sage, du verharrst in Lethargie, dann ist das wahr. Wahrscheinlich wirst du noch weitere zwanzig Jahre täglich über das Karolinum klagen, und wenn du dann endlich in Pension bist, wirst du darüber jammern, dass du diesen täglichen Wahnsinn nicht mehr hast! Du wirst immer jammern, weil es dir lieber ist, als die Initiative zu ergreifen, um etwas zu ändern.«
»Das …« Laura schnappte nach Luft. »Das ist überhaupt nicht wahr! So darfst du nicht mit mir reden!« Die Wut brach aus ihr heraus wie ein Vulkan und machte sie stark. »Du hast kein Recht, so über mich zu urteilen! – Schau dich doch einmal selbst an! Du ergreifst auch keine Initiative, um herauszufinden, wer du bist! Du sitzt auch nur hier herum, hoffst, dass dich irgendwann der Blitz der Erkenntnis trifft, und versinkst einstweilen in Depressionen! Du wirfst mir Lethargie vor und bist selbst kein bisschen besser! – Und wer sagt denn überhaupt, dass du im Berufsleben anders bist als ich? Vielleicht hängst du auch seit Jahren in einem miesen Job, vielleicht erträgst du ja auch Demütigungen am laufenden Band! Woher willst du überhaupt wissen, ob du dich in deinem Leben durchgesetzt hast?« Ihre Stimme kippte. Schnell ging sie zur Tür.
Tosca sollte sie nicht weinen sehen. Es war genug, dass sie ihr all die Schrecklichkeiten ins Gesicht geworfen hatte. An der Türschwelle zum Schlafzimmer packte sie noch einmal die Wut.
»Weißt du was? Es ist gar kein Wunder, dass dich dieser Mann erschießen wollte! So, wie du mit Menschen umgehst, machst du dir zwangsläufig Feinde!«
Sie knallte die Türe hinter sich zu, warf sich auf ihr Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hasste diese Frau! Was bildete die sich ein! Sie gewährte ihr Unterkunft, versorgte sie mit Essen … und das alles dankte sie ihr mit bösen Worten! Nichts davon war so, wie Tosca es sah! Wie sollte sie denn kündigen, wenn sie keinen anderen Job hatte? Sie brauchte das Geld! Sie konnte es sich schließlich nicht leisten, über Monate noch weniger oder gar nichts zu verdienen!
Voller Wut schlug sie auf das Kissen ein, die Hände zu Fäusten geballt. Das Leben war so verdammt ungerecht … und Tosca einfach unverschämt!
Sie hielt sie also für lethargisch. Gut, sie würde ihr zeigen, wie lethargisch sie war! Nämlich immerhin nicht so lethargisch, dass sie sich das alles widerstandslos bieten ließe. Sie würde Tosca rausschmeißen. Lady Namenlos hatte eine Grenze überschritten. Sollte sie doch sehen, wo sie zukünftig unterkam!
Endlich würde ihr Leben wieder in geregelten Bahnen verlaufen, ohne eine Mitbewohnerin, die ihr Frechheiten sagte!
In Gedanken sah sie sich nach einem harten Arbeitstag in ihre Wohnung kommen, den Mantel in den Garderobenschrank hängen, ihre Schuhe in einer der zahlreichen Schachteln im Regal zu ihrer Rechten verstauen … ins Wohnzimmer schreiten, die Stille genießen … Sie stellte sich vor, wie sie sich später ein Gläschen Wein einschenkte, eine Symphonie auflegte … sich auf ihr Sofa sinken ließ …
Das Sofa. Sie hatte diese breite rote Couch gewollt, aber Mutter hatte darauf bestanden, das alte unbequeme Sofa aufzupolstern und neu zu beziehen. Natürlich. Mutter hatte ja auch nie auf diesem Sofa gesessen! Ihr Platz war der Lehnstuhl gewesen, immer schon. Dieser hässliche roséfarbene Lehnstuhl, der sich mit dem altrosa Blumenmuster der Tapete schlug. Und dann dieser wuchtige Esstisch. Warum verstellte man sich mit einem derartigen Monster einen Großteil seines Wohnzimmers? Obendrein war die Tischplatte zerkratzt.
Die Wohnung ist gut so, wie sie ist. Die Stimme ihrer Mutter erfüllte den Raum. Das Karolinum ist das Beste, was dir passieren kann! Wo willst du denn sonst arbeiten, wenn nicht dort! Dieser Niklas ist kein Künstler, sondern nur ein armseliger Orchestermusiker! Was willst du mit dem? Der wird dich nie ernähren können! Geschweige denn eure Kinder.
Sie setzte sich auf und putzte sich die Nase.
Abends bist du wieder zu Hause. Es gehört sich nicht für eine junge Frau, bei einem unverheirateten Mann zu übernachten!
Trotz der Tränen, die noch in ihren Augen waren, musste sie lächeln.
Zumindest in diesem Punkt hatte Mutter geirrt. Niklas war verheiratet gewesen. Nur eben nicht mit ihr.
Sie hatte genug von all diesen mütterlichen Lebensweisheiten. Und vor allem genug von diesen Möbeln. Sie verspürte den plötzlichen Drang, ihrer Mutter alles ins Gesicht zu werfen, was sie stets für sich behalten hatte: dass sie die Enge nicht aushielt. Nicht einmal mehr nach ihrem Tod.
Dass sie lieber etwas viel Spannenderes gemacht hätte, als Germanistik zu studieren – zum Beispiel eine Ausbildung mit Spezialisierung auf Kriminalistik. Oder einen Job als Reisekauffrau – sicher hätte sie dann inzwischen mehr von der Welt gesehen als nur Wien und Umgebung. Damals, kurz nach der Matura, hätte sie gewiss auch noch den Mut gehabt, in fremde Länder zu reisen. Stattdessen verkaufte sie seit Jahren in einem trostlosen überdachten Innenhof des Karolinums Porzellan an einsame Rentner.
Dass sie es als Jugendliche wie eine Folter erlebt hatte, den ganzen Tag mit dem Klassiksender berieselt zu werden. Sie hatte die düstere Stimme des Radiosprechers noch gut im Gedächtnis. Schon damals hatte sie sich gefragt, weshalb Klassik immer im Trauertonfall angekündigt werden musste.
Tosca saß noch immer in Mutters Lehnstuhl. Sie hatte den Kopf in den Händen verborgen, als Laura zu ihr trat.
»Du irrst dich«, sagte Laura. »Es hat sich was geändert! Seit Mutter tot ist, höre ich immerhin keine Symphonien in Moll mehr.«
Tosca hob den Kopf. Sie sah an ihren geröteten Augen, dass auch sie geweint hatte.
»Aber sicher hast du die CDs noch immer in den Tiefen dieses Schranks verstaut«, sagte sie mit kratziger Stimme. Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln. Es sah aus wie eine klägliche Grimasse. Das Lächeln, das Laura erwiderte, gelang dagegen weit besser.
»Irrtum.« Sie kostete Toscas überraschten Gesichtsausdruck aus, bevor sie hinzufügte: »Sie lagern im Keller.«
Diesmal war Toscas Lächeln überzeugender. Sie griff nach Lauras Hand und drückte sie leicht. Laura wusste in diesem Moment genau, dass das, was sie für Tosca empfand, mit Hass nichts zu tun hatte.
»Du kannst ein ganz schöner weiblicher Macho sein«, sagte Tosca und ahmte Lauras Tonfall von zuvor nach: »Hast du etwas zu essen gemacht?«
Verlegen wollte Laura sich abwenden, doch Tosca hielt noch immer ihre Hand fest und zog sie an sich. Laura verlor das Gleichgewicht, taumelte – und landete auf Toscas Schoß. Sie wollte sofort wieder aufstehen, doch Tosca legte den Arm um sie.
»Bleib«, sagte sie, und fügte leise hinzu: »Du bist nicht die einzige, die einen schrecklichen Tag hatte. Mir geht es auch nicht gut. Ich habe mich an etwas erinnert …«
Sie erzählte Laura von dem gleißenden Licht, der Gestalt im Zimmer und dem Mann mit dem Blumenstrauß, der ihr als ihr Mann angekündigt worden war, obwohl sie sicher war, dass dies nicht sein konnte.
»Aber du kanntest ihn?«
Tosca nickte langsam. »Ja, eindeutig. Ich wusste, wer er war, und dass er nicht hätte dort sein sollen. Allerdings weiß ich nicht einmal, wo ich zu diesem Zeitpunkt war.«
»Vielleicht in einem Krankenhaus«, schlug Laura vor. »Ein Besucher, der Blumen bringt, eine weiße Frauengestalt, die möglicherweise Krankenschwester oder Ärztin ist. Das würde doch passen.«
»Ja«, meinte Tosca nachdenklich. »Aber weißt du, ich fühlte mich nicht krank. Ich war müde. Und ich war auf seltsame Weise glücklich.«
Laura überlegte.
»Vielleicht war es ja doch kein Krankenhaus, sondern zum Beispiel ein Wellness-Center. Vielleicht hattest du Urlaub und warst daher glücklich.«
»Vielleicht. Wer weiß.«
Toscas Arm lag um ihre Taille. Die Berührung und das Schweigen, das sich nun zwischen ihnen auftat, wurde Laura unheimlich.
»Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass du dich erinnerst?«, fragte sie, nur um die Stille zwischen ihnen zu durchbrechen.
»Ich war in der Innenstadt in einem Kaufhaus. Ich wollte sehen, ob ich etwas wiedererkenne. Es kam mir alles fremd vor. Über dem Wühltisch mit den Strümpfen hing eine Neonlampe. Ich sah kurz ins Licht, und plötzlich war diese Szene vor meinen Augen.«
»Dann bringt es doch etwas, nach draußen zu gehen«, stellte Laura pragmatisch fest.
»Möglich.« Tosca wirkte dennoch unschlüssig. »Aber es sind nur Bruchstücke. Es ist, als müsste ich aus vielen Einzelteilen das Puzzle meines Lebens zusammensetzen. Und dabei weiß ich nie, wie viele Teile überhaupt noch fehlen.«
»Irgendwann wirst du es wissen. Ich bin sicher.«
Laura erhob sich. Es war seltsam, auf dem Schoß einer erwachsenen Frau zu sitzen.
»Ich werde das Wohnzimmer neu streichen. Mit weißer Farbe«, Laura richtete ihren Blick auf die Tapete. »Hilfst du mir?«
»Wie bitte?« Das Erstaunen stand Tosca ins Gesicht geschrieben.
»Ja.« Laura war sich einer Sache noch nie so sicher gewesen. »Ich will das. Ich wollte es eigentlich schon weiß haben, als ich noch ein Teenager war. Also, hilfst du mir?«
»Ja, natürlich. – Wann willst du starten?«
»Am liebsten gleich jetzt.« Laura grinste, als sie Toscas Irritation bemerkte. »Allerdings muss ich erst Farbe besorgen. Also sollten wir das Wochenende ins Auge fassen. Vorausgesetzt, du hast keine anderen Pläne.«
Tosca legte den Kopf schief. »Tja, mal überlegen. Ich glaube, mein Terminkalender schaut im Moment recht leer aus. Ja, ich glaube, das Wochenende wäre für mich in Ordnung. – Aber dann bist du heute Abend offenbar noch frei. Vielleicht hast du ja Lust, diesen Abend mit mir zu verbringen?«
»Hmm.« Laura runzelte gekünstelt die Stirn. »Das wäre sogar möglich. Meine zehn Verehrer sind heute schon anderweitig ausgebucht.«
»Ach, dann komme ich an Stelle Nummer elf? Da bin ich aber enttäuscht!«
Tosca stand dicht vor ihr. Lauras Augen waren auf derselben Höhe wie Toscas Lippen, die sie überrascht betrachtete. Ein Lächeln umspielte sie, das in den Mundwinkeln zuckte, und zum ersten Mal wurde Toscas Lächeln so breit, dass sich Grübchen bildeten.
»Mit welchem Listenplatz hattest du denn gerechnet?«
»Nummer zwei. Direkt hinter Berta.«
Laura schmunzelte.
»So bescheiden. – Falls es dir schon aufgefallen ist: ich habe Berta schon länger nicht mehr getroffen. Sie hat wohl schon Ersatz für mich gefunden.«
»Das kann nicht sein.« Tosca verringerte den Abstand zwischen ihnen auf ein Minimum. In Laura begannen Alarmglocken zu schrillen. »Es gibt keinen Ersatz für dich.«
Sie beugte sich kurz nach vorne und drückte Laura, die sich schlagartig dem Tod näher fühlte als dem Leben, einen kleinen Kuss auf die Stirn.
»Also, was machen wir heute Abend? Schauen wir noch bei einem Weihnachtsmarkt vorbei?«
Ihre Worte erreichten Laura, die sich noch immer in einem Schockzustand befand, erst nach und nach. »Ja … warum nicht«, sagte sie dann hastig und strebte schon zur Garderobe. »Gehen wir!«
Es war nach dem dritten Glühwein, als Tosca wieder sehr ernst wurde. »In diesem hellen Raum lag etwas, was mich glücklich machte. Ich habe mich noch nie so vollkommen gefühlt. Seit ich die Erinnerung an dieses Gefühl habe, ist mir, als wäre mir etwas entrissen worden … als würde etwas fehlen.«
»Was glaubst du, was es war?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das Gefühl, es verloren zu haben, noch unerträglicher ist als die Ungewissheit, nicht zu wissen, wer ich bin.«
Sie stand auf freiem Feld. Sie wusste nicht, warum sie dort stand. Es war dunkel. Sie hatte starke Kopfschmerzen. Um sie herum heulte der Wind. Es war eiskalt. Sie fror. Sie trug nur ein Kostüm, an den Beinen eine dünne Strumpfhose. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Sie zitterte am ganzen Körper, aber ihr Zittern kam nicht nur von der Kälte. Sie hatte das Gefühl, als würde sich diese Dunkelheit jeden Moment auftun und sie verschlingen.
Eng schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie wusste, sie konnte hier nicht bleiben.
In der Ferne entdeckte sie Licht. Sie setzte sich in Bewegung. Der Wind und ihre Angst trieben ihr die Tränen in die Augen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Boden war uneben; das Gehen fiel ihr schwer. Mehrmals knickte sie um.
Das Licht gehörte zu einem großen Haus. Das Haus stand auf einer leichten Anhöhe inmitten eines Parks. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie von genau diesem Ort gekommen war. Sie zögerte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es nicht gut sein konnte, dorthin zurückzukehren. Ihre Ratio war stärker. Sie würde die Nacht nicht überleben, wenn sie weiterhin in der Kälte stand.
Eine Baumwurzel brachte sie jäh zu Fall. Der Boden war feucht und kalt. Mühsam rappelte sie sich auf.
Humpelnd erklomm sie die Treppenstufen zur Terrasse, tastete sich die raue Hausmauer entlang und spähte durch das Fenster. Sie blickte in einen geräumigen Wohnsalon mit offenem Kamin. Der Raum war hell erleuchtet; im Kamin brannte Feuer. Auf dem kleinen Tisch vor dem Kamin standen zwei Gläser und eine Weinflasche.
Die Terrassentür stand einen kleinen Spalt offen, so als hätte jemand in Eile das Haus verlassen. Sie trat ein, sah sich um. Die schweren Brokatvorhänge zogen ihren Blick auf sich.
Mit langsamen Schritten bewegte sie sich entlang der Fensterseite des Raums, die Vorhänge nicht aus den Augen lassend. Zeichnete sich hinter einem von ihnen etwa eine Silhouette ab?
Hinter ihr ächzte der Parkettboden. Ruckartig blieb sie stehen und fuhr herum. Sie war allein im Zimmer. Zumindest sah es so aus. Sie lauschte. Sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag und das Pochen in ihrem Kopf. Klopf. Klopf. Es war, als ob jemand mit einem Holzhammer von innen gegen ihre Schädeldecke schlagen würde.
Langsam setzte sie ihren Weg fort, die Vorhänge immer im Blick. Etwas zog sie in Richtung des Kamins. Sie war sich nicht darüber bewusst, was es war, sondern folgte dem, was ihr Inneres dirigierte.
Sie machte einen weiteren, langsamen Schritt – und erstarrte. Ihr Bein stieß auf Widerstand. Vor Schreck vergaß sie, den Vorhängen weiter Aufmerksamkeit zu schenken, und blickte zu Boden.
Als erstes sah sie Beine. Die Beine steckten in einer dunklen Herrenhose, die Füße in Schuhen aus schwarzem Leder.
Für einen kurzen Augenblick spielten Angst und Kopfschmerzen keine Rolle mehr. Sie kniete sich neben den leblosen Körper. Es war ein Mann mittleren Alters mit dichtem braunen Haar. Er hatte die Augen geschlossen. Eigentlich sah er aus, als würde er schlafen. Doch sie wusste: Niemand würde so am Boden schlafen, reglos, gekleidet in Anzug und Krawatte, schräg unter einem Klavierhocker. Sie kniete sich neben ihn, legte ihre Finger an seinen Hals. Spürte keinen Puls. Die Situation kam ihr vor wie ein Déjà-vue: als hätte sie schon einmal keinen Puls gefühlt, als sie einen Menschen angefasst hatte.
Sie beugte sich über ihn, ganz dicht, um ein Lebenszeichen zu spüren. Ihr Oberkörper berührte den seinen. Dann packte sie ihn an den Schultern, schüttelte ihn. Sein Kopf fiel zur Seite. Sie erstarrte. Ein kleines Rinnsal Blut floss aus seinem Mund.
Die Angst kam zurück und erfasste sie mit Macht. Mit zitternden Händen knöpfte sie seine Anzugjacke auf. Sein Hemd war rot, vollgesogen mit Blut. Auf Bauchhöhe klaffte ein Loch. Sie hatte noch nie eine Schusswunde gesehen und wusste trotzdem sofort, dass es sich um einen Einschuss handelte.
Die Angst wurde zur Panik. Sie starrte zur Tür. Hatte sie im Nebenzimmer etwas gehört?
Sie sprang auf. Ihr Blick fiel auf eine weitere Tür. Sie hatte Angst, in das Zimmer zurückzugehen, aus dem sie gekommen war. Vielleicht war sie nicht allein hier! Vielleicht war derjenige, der diesen Mann erschossen hatte, noch in der Nähe! Vielleicht trachtete er auch ihr nach dem Leben!
Die zweite Tür führte direkt in den Vorraum. Dort sah sie nur noch den Hauseingang. Sie musste hier raus. Schnell. Sie griff nach dem nächstbesten Mantel, den sie fand, und einem Hut.
Draußen schlug ihr die kalte Luft entgegen. Doch nun hatte der Wind für sie etwas Beruhigendes. Er stand im Kontrast zur Totenstille, die drinnen geherrscht hatte. Sie wollte nur fort, weit weg von diesem Haus und allem, was in ihm war.
Sie hastete los. Dass sie einen ihrer Schuhe verloren hatte, merkte sie erst, als sie den rauen Belag der Straße unter der Fußsohle spürte.
»Entschuldigen Sie, Uhren. Wo finde ich denn die im Haus? – Es ist alles sehr schlecht beschriftet!«
»Im zweiten Stock oder in den Juwelierfilialen.«
»Bekommen Sie vor Weihnachten noch Schiele-Graphiken?«
»Nein, ich gehe nicht davon aus. Erst nächsten Frühling wieder.«
»Dieser Siebdruck von Rockenschaub – ist da eine Reduzierung möglich? Der Preis kommt mir überzogen vor.«
»Ich werde beim zuständigen Experten nachfragen. Kleinen Moment.« Laura schwirrte schon der Kopf vor lauter Fragen. Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten. Gott, war sie froh, wenn dieser Wahnsinn endlich sein Ende fand!
»Nein, leider ist keine Reduzierung möglich. Der Einbringer besteht auf dem ausgeschriebenen Betrag.«
Der Kunde zog enttäuscht von dannen. Und schon stand die nächste Person vor ihr.
»Wohin kann ich eine schöne, fleißige Frau in die Mittagspause entführen?«
Laura sah auf. Ihr Gesicht erhellte sich schlagartig, als sie Tosca erkannte. »Was … du kommst hierher?«
Tosca ließ ihren Blick im Verkaufsraum umherschweifen.
»Ich wollte mal sehen, wo du arbeitest.«
»Und?«
»Sieht aus wie auf einem Flohmarkt für Begüterte.«
Laura kicherte. Das hatte noch niemand so treffend gesagt.
»Also, was ist? Kannst du eine kleine Pause machen?«
Laura sah auf die Uhr. »Eigentlich geht um diese Zeit immer Dorothea. Aber vielleicht kann sie mit mir tauschen.«
»Ich kann auch warten.«
»Nein … ich werde lieber fragen.«
Sie wollte vermeiden, dass Tosca länger im Verkaufsraum stand als notwendig. Die Burger konnte jederzeit auftauchen und kontrollieren, ob sie auch arbeiteten wie Roboter. Wenn sie sie nun schon wieder bei einer privaten Plauderei ertappte!
Dorothea bog bereits um die Ecke, einen Wagen mit neuen Ausstellungsstücken vor sich her schiebend. Sie hielt inne, als sie die schlanke, hochgewachsene Frau sah, mit der sich Laura unterhielt. In ihrem Gesicht stand Irritation, aber auch Neugierde. Ehe Laura sich versah, gesellte sie sich ungebeten zu den beiden. »Kann ich helfen?«
»Nein«, sagte Laura kurz angebunden.
»Ja«, sagte Tosca mit einem charmanten Lächeln. »Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie Ihre Mittagspause ausnahmsweise etwas verschieben. Ich würde sehr gerne mit Frau Eisner einen Kaffee trinken gehen.«
»Mit Laura?« Dorothea machte ein Gesicht, als hätte direkt neben ihr der Blitz eingeschlagen. Toscas Lächeln ruhte unbeeindruckt auf ihr. »Ähm … ja, natürlich. Selbstverständlich.« Laura hatte Dorothea noch selten so verwirrt erlebt.
Wenige Minuten später saßen sie sich in einem altmodischen Kaffeehaus gegenüber. Laura löffelte Suppe, Tosca den Milchschaum einer Melange. War sie eben noch genervt von den vielen Kundenfragen, tanzten jetzt Schmetterlinge in Lauras Laune.
Tosca strahlte. Sie strahlte auch, wenn sie nicht lächelte. Die Aura an Trübsinn und Depression, die sie sonst umgeben hatte, war wie weggeblasen.
Laura ließ den Löffel sinken.
»Ist etwas passiert?«
»Ja.« Toscas Augen sprühten vor Energie. »Ich weiß jetzt, dass ich keine Mörderin bin. Ich weiß, wie das Blut auf meine Bluse kam!«
In wenigen Sätzen erzählte sie Laura, woran sie sich nun erinnern konnte. Laura hörte ihr aufmerksam zu.
»Wir sollten noch einmal systematisch die Zeitungen nach Mordfällen durchsuchen, die sich zu der Zeit ereigneten, als ich dich gefunden habe«, meinte sie dann. »Wenn du darüber liest – vielleicht macht es plötzlich klick und deine gesamte Erinnerung kommt zurück.«
»Ja!« Tosca nickte. »Ich werde in die nächste Bibliothek gehen; dort dürften alte Tageszeitungen archiviert sein. Über einen Mord wird immer groß berichtet. – Und ich kann das Haus beschreiben, in dem dieser Mann lag. Eine Villa. In einem Park. Mit einer blauen Haustüre.«
Laura ließ den Suppenlöffel auf halbem Weg zum Mund sinken. Eine Villa mit blauer Haustüre, umgeben von Bäumen.
Sie sah das Haus deutlich vor sich.
»Stand die Villa auf einer leichten Anhöhe?«
»Ja!« Tosca wurde blass. Sie griff nach Lauras Handgelenk. »Woher weißt du das?«
Laura atmete tief durch.
»Tosca! Das hast du aus irgendeinem Film. Ich weiß zwar nicht, aus welchem, aber ich kenne diese Villa mit der blau gestrichenen Haustüre auch. Und ich war ganz sicher nie selbst dort.«
Der Glanz in Toscas Augen verschwand. Sie gab ihr Handgelenk frei und lehnte sich zurück.
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
Es tat Laura selbst weh, ihre Enttäuschung zu sehen, aber es hatte keinen Sinn, falsche Hoffnungen zu nähren.
»Möglicherweise hast du das alles aus einem Krimi.«
»Nein …« Tosca schüttelte den Kopf. »Der einzelne Schuh, das Blut an meiner Bluse. Ich weiß genau, wie das alles passiert ist. Es war so realistisch! – Ich weiß, dass ich mich über diesen toten Mann gebeugt habe. Und ich kann ihn beschreiben.« Sie senkte ihre Stimme. »Es war derselbe, der in dieses Zimmer mit dem hellen Licht gekommen ist. Der mit dem Blumenstrauß.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, widersprach Laura. Die Schmetterlinge in ihr schlugen nun nicht mehr mit den Flügeln. Stattdessen hatte sich ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend eingenistet. Ein leichter Druck, der ihr den Appetit auf Suppe nahm. »Der Mann kann wohl kaum in ein Zimmer kommen, wenn er tot unter einem Klavierhocker liegt.«
»Ich habe keine Ahnung, in welche Reihenfolge meine Erinnerungen zu bringen sind«, erklärte Tosca. »Aber was ist eigentlich mit dir los? – Ich hatte erwartet, dass du dich freuen würdest.«
Laura winkte dem Kellner. Ihre halbe Stunde Mittagspause war fast um. Zu dem Druck im Magen gesellte sich Schuldbewusstsein. Es war nicht ihre Absicht gewesen, Toscas Euphorie zu bremsen.
»Ich will nur nicht, dass du noch trauriger bist«, sagte sie, als sie sich vor dem Lokal voneinander verabschiedeten. »Ich will dir lediglich eine Enttäuschung ersparen.«
»Ich weiß zugegebenermaßen noch nicht gerade viel über mein Leben«, erwiderte Tosca. »Aber eines weiß ich sicher: Du bist nicht meine Mama. Nur Mütter haben den Drang, ihren Kindern Enttäuschungen zu ersparen.«
»Freundinnen auch!«
»Freundinnen?« Tosca zog die Augenbrauen hoch. »Bisher dachte ich, ich sei der Parasit in deinem Leben.«
Laura schaute auf die Straße. »Du weißt, dass ich nicht so denke«, murmelte sie dann verlegen.
»Ja, weiß ich.« Tosca beugte sich vor und küsste sie zum Abschied auf die Wangen. »Ich weiß es, aber ich wollte es so gerne hören.«
Obwohl Toscas Lippen kaum ihre Haut berührt hatten, wurde es Laura ziemlich heiß. Mit geröteten Wangen brach sie auf und prallte fast gegen einen Vespa-Fahrer, als sie sich auf den Weg machte. Kaum zurück am Karolinum, fragte sie sich, wie sie jemanden vermissen konnte, von dem sie sich gerade erst verabschiedet hatte.
»Jedenfalls bin ich keine Handwerkerin.« Tosca stand mit verschränkten Armen in Lauras Wohnzimmer und betrachtete die Wände, an denen immer noch Tapetenreste klebten. Seit dem Morgen waren sie damit beschäftigt gewesen, die Schrankwand auszuräumen und abzubauen, die anderen Möbel ins Schlafzimmer zu stellen oder in die Mitte des Zimmers zu schieben und die alte Tapete zu entfernen.
Die Tapete ließ sich schwerer lösen als der hilfsbereite Mitarbeiter vom Heimwerker-Markt in Aussicht gestellt hatte. Seine Aussage »einfach befeuchten und abziehen« entpuppte sich als gar nicht so leichtes Unterfangen. Der alte Wandbezug löste sich an einigen Stellen leicht, an anderen trotz einer Unmenge Wasser gar nicht. Sie mussten kräftig mit dem Spachtel nachhelfen. Während Laura hartnäckig eine Stelle nach der anderen in Angriff nahm, gab Tosca bald auf.
Sie kniete sich stattdessen vor den Schrankinhalt, der in der Mitte des Zimmers zu einem Haufen aufgeschichtet war.
»Du lieber Himmel, Laura, du hast hier Programmhefte von Vorstellungen am Burgtheater von 1975! Wieso hebst du das auf?«
»Die sind nicht von mir, die sind von Mutter«, erwiderte Laura automatisch.
»Natürlich«, meinte Tosca nüchtern. »Ich habe nicht erwartet, dass du als Dreijährige schon Programmhefte studiert hast. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Laura seufzte.
»Das alles da gehörte Mutter.« Sie deutete auf die mit verschiedenen Papieren und Krimskrams gefüllten Schubladen und den losen Stapel von Heften. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, es auszusortieren.«
»In drei Jahren bist du nicht dazu gekommen, dir Platz zu schaffen?« Tosca runzelte die Stirn.
Laura ließ den Spachtel sinken. Ihr Arm schmerzte von der ungewohnten einseitigen Belastung. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie den Kulturteil der Tagespresse studierte, einzelne Artikel ausschnitt und in die Schubladen einsortierte. Als die Schubladen voll waren, war sie ins Vorzimmer ausgewichen. Ihre zahlreichen Pappschachteln im Regal ließen kaum mehr Platz für Schuhe.
»Schmeiß die Sachen weg.« Sie war überrascht über die Radikalität in ihrer eigenen Aussage. Trotz der Verwunderung, die auch in Toscas Gesicht zu lesen war, behielt sie den eingeschlagenen Weg bei. »Du kannst alles Altpapier aussortieren. Du hast Recht, niemand braucht das mehr.«
»Wenn du meinst … Ich möchte nicht dein Leben umkrempeln. Ich bin ja nur Gast.« Trotzdem begann Tosca unverzüglich mit der Arbeit. Offenbar hatte sie Sorge, dass der Entschluss auf schwachen Füßen stand.
Laura war dankbar für Toscas Hilfe. Sie wusste, dass sie sich alleine niemals aufgerafft hätte, etwas zu verändern. Gleichzeitig war sie froh, eine Aufgabe für Tosca zu haben. Deren Euphorie darüber, keine Mörderin zu sein, war längst wieder in Resignation übergegangen. Sie hatte Stunden mit alten Zeitungen in der Bibliothek verbracht, war aber bei ihren Recherchen kein bisschen schlauer geworden, was ihre Vergangenheit betraf. Keinen der Artikel, der in dem Zeitraum erschienen war, brachte sie mit sich selbst in Verbindung. Weitere Erinnerungen wollten sich nicht einstellen.
Laura spürte Toscas Verzweiflung darüber, wusste aber nicht, wie sie ihr hätte helfen können. Sie war derzeit genug mit sich selbst beschäftigt. Der Gedanke, dass die linke Bettseite irgendwann wieder leer wäre, wenn sie in der Früh die Augen aufschlug, und dass niemand auf sie wartete, wenn sie abends von der Arbeit zurückkam, machte ihr Angst.
Sie entfernte gerade den letzten Tapetenrest, als Tosca plötzlich innehielt.
»Laura. Da ist ein altes Sparbuch!«
Laura stieg von der Malerleiter herunter und warf einen flüchtigen Blick auf das kleine Büchlein, das Tosca in den Händen hielt.
»Das ist von Mutter. Viel ist da nicht drauf, soweit ich mich erinnern kann. Ich hab es mir behalten, als Notgroschen, falls einmal schlechtere Zeiten kommen.«
»125.000 Schilling«, stellte Tosca fest, als sie das Büchlein aufschlug. »Immerhin, etwas über 9.000 Euro, würde ich sagen. Andere machen damit eine Traumreise!«
»Darauf lege ich keinen Wert. Wie gesagt, das ist ein Notgroschen. Wenn ich beispielsweise im Karolinum gekündigt werde, kann ich damit überleben. Zumindest eine Zeit lang.«
»Wenn du gekündigt wirst, bekommst du erst einmal Arbeitslosengeld. Außerdem, warum sollten sie dir kündigen?«
Laura schwieg. Sie dachte an Barbara. Damals war es fast soweit gewesen. Doch davon wollte sie Tosca auf keinen Fall erzählen.
»Laura!« Tosca wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Sieh mal … Diese 9.000 Euro, das entspricht der Summe, die 1970 auf diesem Sparbuch war! Seitdem ist nichts mehr abgehoben worden. Inzwischen muss es also weit mehr sein, die Verzinsung war damals noch ziemlich gut.«
Laura zuckte mit den Schultern. »Ich kann ja gelegentlich einmal zur Bank gehen und nachfragen«, meinte sie.
»Manchmal verstehe ich dich nicht. Ich hätte mehr Begeisterung über diese Entdeckung erwartet«, erwiderte Tosca.
»Ich wohne in einer abbezahlten Eigentumswohnung, ich habe einen Job«, sagte Laura. »Was soll ich denn noch wollen?«
»Eine tolle Urlaubsreise?«