Es war egal, wo ich wohnte – Mid-City, Mid-Wilshire oder Miracle Mile. Es war egal, wo ich arbeitete; eine Schwachsinnsfabrik in Hollywood glich der anderen. Was zählte, war allein, was ich aß, wann ich aß und wie ich aß.
Jeden Tag um halb acht ging mein Wecker. Dann nahm ich das nachtdurchweichte Stück Nikotinkaugummi aus dem Mund, legte es auf den Nachttisch und ersetzte es durch ein frisches. Ich hatte mit sechzehn angefangen zu rauchen, danach gab es bei mir keinen Moment mehr ohne Zigarette. Aber als ich im Talentmanagement anfing, konnte ich nicht mehr den ganzen Tag rauchen. Ich wechselte zu Nikotinkaugummis; auf diese Art konnte ich meine Zigaretten kauen und ständig meiner Sucht frönen. Jetzt gab es bei mir keinen Moment mehr ohne Kaugummi. Es half mir, meine Nahrungszufuhr geschickt zu beschränken, es war gleichzeitig Beschäftigung für meinen Mund und schneller Appetitzügler. Ich kaufte die Kaugummis auf eBay, abgelaufen und heruntergesetzt, damit ich sie mir leisten konnte. Zu regulären Marktpreisen hätte mich meine Sucht dreihundert Dollar die Woche gekostet.
Nachdem ich einen neuen eingeworfen hatte, stellte ich mich unter die Dusche und trank ein bisschen Wasser aus der Leitung, vermischte es mit dem Überzug des Kaugummis. Die mit Überzug mochte ich am liebsten, Fruit Chill oder Mint Blast, und ich rechnete den Überzug nicht in meine tägliche Kalorienzufuhr mit ein. An manchen Tagen machte ich mir Sorgen, wie viele Kalorien durch den Überzug dazukamen. Nach der Dusche warf ich mir noch einen Kaugummi ein. Zwei weitere folgten, wenn ich mit voll aufgedrehter Heizung zur Arbeit fuhr. Diese Kaugummiprozession war Frühstück eins.
Zwischen Frühstück eins und Frühstück zwei lag eine Zeitspanne. Manchmal fiel mein Blutzuckerspiegel so weit ab, dass mir schwindlig wurde und ich Panik bekam. Es lohnte sich trotzdem, Frühstück zwei, mein erstes richtiges Essen des Tages, bis halb elf oder elf hinauszuzögern. Je später ich mit dem Essen anfing, desto mehr Essen konnte ich für die zweite Tageshälfte horten. Besser jetzt leiden und sich auf etwas freuen, als einen großen Batzen meines täglichen Essens im Rückspiegel verschwinden zu sehen. Das war eine schlimmere Art des Leidens.
Wenn ich es bis elf ohne Essen schaffte, fühlte ich mich sehr gut, fast heilig. Wenn ich um halb elf aß, fühlte ich mich schlecht, schmuddelig, auch wenn alle negativen Gefühle schnell dem Rausch Platz machten, Frühstück zwei zu verspeisen. Die Mahlzeit bestand aus einem Zweihundertzwanzig-Gramm-Becher griechischem Joghurt mit null Prozent Fett, in den ich zwei Packungen Süßstoff rührte, und einer Portion kalorienreduzierter Schoko-Muffin-Glasur, die man nur bei Gelson’s Supermarket kaufen konnte. Ich war so emotional abhängig von dieser Muffin-Glasur, dass ich Angst davor hatte, was im Fall eines Lieferengpasses passieren könnte. Ich kaufte immer sechs Schachteln auf einmal und lagerte sie in meinem Gefrierfach.
Die Muffin-Glasur hatte hundert Kalorien und der Joghurt neunzig: ein perfekter Doppelschlag an Cremigkeit und Süße, eine Geschmackssymphonie, die mir nicht wehtun konnte. Meine schönste Zeit des Tages war dieser Augenblick, in dem ich das erste Mal den Löffel in den Joghurt tauchte, gleich nachdem ich ihn mit einem halben Päckchen Süßstoff bestreut hatte. Zu diesem Zeitpunkt war noch so viel zu essen da, die Muffin-Glasur noch nicht einmal angerührt, nur ein Versprechen auf Schokolade. Danach wünschte ich mir immer, ich hätte langsamer gegessen, damit ich noch etwas hätte, worauf ich mich freuen konnte. Das Ende von Frühstück zwei war ein trauriger Moment.
Ich aß Frühstück zwei an meinem Schreibtisch, direkt gegenüber von Andrew, einem anderen Assistenten, der auf NPR stand, auf natürliche Erdnussbutter und auf schwer verständliche skandinavische Filme, eben weil sie schwer verständlich waren. Andrews Kopf war eine Größe zu klein für seinen schlaksigen Körper. Er hatte schmale Nasenflügel, die schon von Natur aus missbilligend aussahen, und stylte sich die Haare zu einer kunstvollen Indie-Rocker-Wolle, die auf seinem winzigen Kopf saß wie eine Faschingsperücke der Coolness. Ich wusste, er verurteilte meine chemischen Süßstoffe, deshalb baute ich aus Aktenordnern, IKEA-Kakteen und einem Bataillon aus Kaffeetassen vorn an meinem Schreibtisch eine Barriere, um so seine neugierigen Blicke abzublocken. Ich hatte wenigstens ein bisschen Privatsphäre verdient, damit ich mein Ritual voll und ganz genießen konnte.
Das Mittagessen war kniffliger. Mindestens an zwei Tagen die Woche musste ich mit meinem Boss – Brett Ofer – mit Kunden, Agenten und anderen Leuten aus der Branche zum Lunch gehen. Ich aß nicht gern mit anderen. Das Mittagessen war das Kronjuwel des Tages, und ich verkostete es bevorzugt solo und wollte es nicht auf Essen verschwenden, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Ofer zwang uns immer ins selbe Restaurant, ins Last Crush, mit dem sich unser Büro die Parkgarage teilte. Er bestand darauf, dass wir einen Haufen kleiner Gerichte bestellten und alles teilten, »wie eine Familie«, als würden sich unsere Kunden wie Brüder fühlen, wenn sie zusammen einen Fleischklops aßen. Wer wollte schon mit Ofer verwandt sein? Er tat so, als wäre Familie etwas Gutes.
Im Last Crush musste ich mit Makkaroni mit Käse, kleinen Burgern und Kalbfleischklößchen fertigwerden. Selbst das Gemüse war mit Fett verseucht: Rosenkohl, der in Butter ertrank, panierte Pilze, Blumenkohl mit glänzender Glasur. Der Rucolasalat, den ich als meinen Beitrag zu der bunten Mischung bestellt hatte, war nur ein glitschiger Kadaver: Tod durch Öl, adieu.
Bei diesen Ausflügen aß ich winzige Portionen von drei der Gerichte, ordnete jeder Portion hundert Kalorien zu und rechnete dann noch mal zusätzlich hundert obendrauf, falls ich nicht alles mitgezählt hatte. Die mathematische Formel war nicht perfekt, doch sie erlaubte die Illusion von Kontrolle. Aber Ofer versuchte immer, mich zu schikanieren, damit ich mehr aß.
»Wer möchte den letzten Mini-Burger? Rachel? Ich weiß, duuu denkst darüber nach«, neckte er mich und begann dann zu skandieren: »Tu es! Tu es! Tu es!«
Ofer war ein ewiger Verbindungsbruder. Er glaubte an Loyalität, Gemeinschaft – nicht, weil wir als Individuen eine echte Verbindung hatten, sondern weil wir Teil desselben Etwas waren. Wenn er mit glänzender Glatze die Tugenden unserer »kollaborativen Bürokultur« pries, ein Stückchen Kalbsfrikadelle an der Unterlippe hängend, stellte ich mir vor, wie er denselben Sermon zwei Jahrzehnte zuvor den Anwärtern seiner Studentenverbindung gehalten hatte.
»Wisst ihr, was für ein Glück ihr habt? Ihr könntet auch bei Management180 arbeiten, wo überhaupt nichts gemeinsam entschieden wird! Ihr könntet bei Delta Ypsilon sein und die Pisse eures Bruders trinken!«
Ofer hatte bei Gersh in der Poststelle angefangen und sich bis zum Agenten hochgearbeitet. Neun Jahre später hatte er die mörderische Agenturwelt verlassen, um eine Talentmanagementfirma zu gründen – The Crew –, wodurch er sich einbilden konnte, er habe eine Seele. Noch schlimmer: Seine Frau hatte gerade Zwillingstöchter geboren, und er bezeichnete sich jetzt als »Feminist«. Ofer eignete sich ein oberflächliches Wissen über soziale Gerechtigkeit an, wie es in Artikeln über Diversität, Inklusion und gleiche Bezahlung im Hollywood Reporter propagiert wurde. Ständig machte er Anspielungen auf seine »Privilegien« – und auf unser Privileg, hier arbeiten zu dürfen. Es störte ihn, dass ich mich nicht glücklich schätzte, zur Familie zu gehören. Talentmanagement war nicht mein Traum, und das verletzte ihn.
Wenn ich nicht gezwungen wurde, mit Ofer und den Kunden ins Last Crush zu gehen, war ich zum Mittagessen allein. Das waren die guten Tage. Zuerst ging ich zu Subway, wo es online für alles Kalorienlisten gab. Ich bestellte gemischten Salat mit doppelt Pute, Kopfsalat, Tomaten, Peperoni, Essiggurken und Oliven. Es war ein magischer Salat, eine Geschmacksexplosion mit einer moderaten Kalorienbilanz von hundertsechzig. Meistens war mein Sandwich Artist ein niedlicher kleiner Kerl von der USC, der seine Dreadlocks auf seinem Kopf auftürmte, damit er zehn Zentimeter größer aussah. Er fragte immer, ob ich Soße wolle, und ich sagte immer Nein. Dankenswerterweise stellte er meine Wahl nie infrage. Aber manchmal machte er zu wenig Kopfsalat rein, der dem Subway-Salat die entscheidende Masse verlieh.
Ab und zu bediente mich ein anderer Sandwich Artist, ein rothaariger Teenie mit transparenter Zahnspange. Dieser Kerl machte einen Wahnsinnssalat, mit ordentlich Kopfsalat drin, aber er war viel zu interessiert an mir als Person. Sobald ich zur Tür hereinkam, rief er: »Hey! Doppelte Portion Pute!«, und ich dann: »Hallo, danke, keine Fotos.« Ich musste ihm nicht sagen, dass ich keine Soße wollte, denn er wusste es immer und murmelte: »Keine Soße, keine Soße.« Aber alle paar Salate hatte er das Bedürfnis, mich auszufragen: »Warum willst du keine Soße? Die ist kostenlos!«, worauf ich erwiderte: »Ich mag sie einfach nicht.« »Zu scharf? Zu nass?«, fragte er dann. »Einfach Pfeffer und Salz, bitte«, sagte ich.
Ich aß den Salat immer auf einem der kleinen Terrassentische draußen vor dem Subway, auch wenn das nicht ideal war. Andererseits hätte ich auf keinen Fall im Restaurant essen können, wo mich die Sandwich Artists beobachten konnten. Aber wenn ich draußen aß, wurde ich zur Beute aller Passanten, inklusive den Leuten aus meinem Büro.
Es war nicht so, als wäre es grundsätzlich blamabel, einen Subway-Salat zu essen. Aber ich wollte meine Essensrituale schützen – sie so weit wie nur möglich von meinem Arbeitsleben trennen. Sie gehörten mir und nur mir allein. Sie waren nicht zum Teilen gemacht. Also aß ich draußen mit dem Gesicht zur verputzten Wand. Ich aß hungrig und gierig, manchmal schaufelte ich mir die Puten-Gurken-Peperoni-Mischung gabelweise in den Mund, manchmal suchte ich mir eine einzelne Zutat heraus, zum Beispiel nur eine Olive.
Das Größte an meinem Mittagessen war, dass es zwei Gänge hatte: den großen Salat und dann einen Frozen Yogurt. Ich liebte Essen, das sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzte, das verlängerte das Erlebnis. Hätte ich endlos essen können, ich hätte es getan. Ich musste meine Nahrungszufuhr beschränken, sonst hätte ich pausenlos irgendwas in meinen Mund gesteckt.
Der Subway wurde flankiert von zwei Frozen-Yogurt-Läden: Yogurt World und Yo!Good. Bei Yogurt World gab es Selbstbedienung. Niemand pfuschte an deinem Yogurt oder den Toppings herum, und man konnte sogar automatisch bezahlen. Das Gute war: null soziale Interaktion. Bei Yo!Good musste man bei einer Bedienung bestellen, aber ihr Yogurt war es wert. Yo!Good hatte Geschmacksrichtungen wie Banane, Karamell und Kuchenteig, die fettfrei, zuckerfrei und low carb waren und auf einen halben Becher nur fünfundvierzig Kalorien hatten. Das hieß, ich bekam für hundertachtzig Kalorien eine Portion von vierhundertfünfzig Gramm. Bei Yogurt World hatten die kalorienärmsten Yogurts hundertzwanzig Kalorien auf hundertzehn Gramm. Ich musste die Kindergröße nehmen, um an die Zahlen von Yo!Good heranzukommen. Also opferte ich meine Privatsphäre der mathematischen Vernunft und Menge.
Ich war dankbar, dass der Thekentyp bei Yo!Good wenig Interesse hatte, mit mir zu reden. Er war ein orthodoxer jüdischer Junge, der aussah wie ungefähr neunzehn oder zwanzig. Er war sehr still und höflich und trug eine blaue Kippa und Schläfenlocken. Seine Freundlichkeit machte mich traurig – außerdem die Art, wie er das Wort Yogurt aussprach, Jo-gort. Ich hatte das Gefühl, ich würde zwischen den zwei Silben irgendwann noch zu weinen anfangen. In seinem Verhalten lag Unschuld, der ehrliche Wunsch, es den Kunden recht zu machen, eine Würdigung des Yogurts als Substanz von großer Wichtigkeit, und in der mathematischen Präzision, mit der er die Yogurtmaschine bediente, zeigte sich Fürsorglichkeit. So eine Hingabe fand man in der Gastronomie nicht alle Tage. Außerdem besaß er ein Gefühl für kontrollierte Distanz, gab mir den Yogurtbecher nie direkt, stellte ihn immer vor mir auf die Theke, deutete auf den Ladentisch, auf den ich dann mein Geld legte, es ging nichts von Hand zu Hand, unsere Welten berührten sich nicht. Es war, als wäre er ein Geist aus einer längst verloren gegangenen Zeit. Oder vielleicht war die Zeit auch nur für mich verloren.