Kapitel 12

Der Mülleimer-Vorfall war der Beginn einer neuen Phase: die Ära des Yogurt interruptus. In den folgenden Tagen kam der orthodoxe Junge nicht wieder zur Arbeit. An seiner Stelle war immer das zaftig Mädchen da, und sie war nicht zu bändigen.

Jedes Mal, wenn sie den Becherrand erreichte, rief ich aufgeregt: »Okay!« oder »So ist gut!« oder »Woah, ganz ruhig!«

Aber meine Hilfeschreie spornten sie nur an, mehr Gas zu geben. Dann brachte sie mir meinen Yogurtberg und erinnerte mich: »Wir berechnen nach Bechergröße, nicht nach Gewicht.«

Ich versuchte es noch einmal mit Yogurt World. Der Becher dort war so groß wie ein scheiß Fingerhut.

Ein Amuse-Bouche, sagte ich mir. Klein, schick, nur eine Kostprobe, auf Pariserinnen-Art hübsch. Aber ich war keine Pariserin.

Ich kehrte mit einem neuen Plan zu Yo!Good zurück. Wenn ich meinen Yogurt serviert bekäme, würde ich in die Gasse hinter dem Laden gehen und den Überschuss in dem Müllcontainer beseitigen. Dann könnte ich meinen Nachtisch selig genießen, umgeben von Fliegen und dem Gestank von Abfall in der Hitze.

Es war eine ekelhafte, geniale Lösung, und sie funktionierte wie gedacht – bis ich dabei erwischt wurde, wie ich eine Erdnussbutter-Kuchenteig-Haube köpfte.

»Ist der Yogurt heute nicht gut?«, fragte das zaftig Mädchen.

Sie trug zwei große Müllsäcke.

»Nein«, sagte ich schnell. »Ich hätte wohl besser bei Kaffee-Cheesecake bleiben sollen.«

Sie nickte, dann zog sie eine Zigarette heraus und steckte sie in den Mund. Es war seltsam, in L. A. jemanden rauchen zu sehen. Es war eine Nelkenzigarette, die hatte ich immer gern geraucht. In meiner Anorexie-Hochphase hatte ich Nelkenzigaretten zu kalorienarmer heißer Schokolade geraucht und es als Mahlzeit gezählt. Aber diese Frau rauchte vermutlich nicht statt einer Mahlzeit. Sie rauchte, weil … sie es mochte.

Ich starrte den Rauch an, der sich in ihren Mund und wieder heraus bewegte. Es sah aus, als atmete sie den Umriss eines Baums aus, ein dicker Strom wie ein Stamm, und dann kleinere, davon ausgehende Ströme, wie Äste.

»Willst du eine?«, bot sie an.

Ich wollte wirklich eine und sagte Ja. Sie zündete sie mir an, und ich dachte darüber nach, dass sie mir immer Sachen gab, die man in den Mund steckte. War diese Frau mein schlimmster Albtraum?

Mein Blick wanderte zu den drei Muttermalen an ihrem Hals. Mich überkam ein eigenartiger Wunsch, daran zu saugen.

Als Kind hatte ich auch drei solcher Muttermale gehabt. An der Innenseite meines rechten Arms, unter der Ellbogenbeuge. Ihre Muttermale waren größer als meine, aber sowohl ihre als auch meine sahen – wenn man sie mit einem Stift verband – aus wie der Große Wagen.

Ich hatte diese Muttermale gehasst: dass sie so vorstanden, ihr komisches Aussehen, dass ich das Gefühl hatte, sie lenkten die Aufmerksamkeit auf meinen Armspeck. Ich wünschte mir immer, sie wären stattdessen an der Außenseite meines Arms. Die Innenseite war so weich, so ungeschützt, schambehafteter als die Außenseite.

Es tat weh, als die Hautärztin mir Novocain spritzte und sie dann mit etwas herausstanzte, das aussah wie ein Locher. Aber ich fühlte mich in Hochstimmung, weil ich sie los war, frei. Jetzt hatte ich an der Innenseite meines Arms drei kleine weiße Narben – jede eine winzige Wolke. Ich hatte sie seit Jahren nicht bemerkt.

»Arbeitest du hier jetzt Vollzeit?«, fragte ich sie im Versuch, die Lage zu durchschauen.

»Ich mache die Vertretung für meinen Bruder Adiv«, sagte sie. »Er reist gerade durch Israel.«

Das war alles, was sie darüber sagte: Er reist gerade durch Israel. Sie gab keine Erklärung ab. Es gab kein: Er hat gemischte Gefühle zur politischen Lage oder Er ist nicht mit Birthright unterwegs oder so was oder Ich persönlich bin für Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen.

»Meiner Familie gehört der Laden hier«, sagte sie. »Alle Yo!Good-Läden. Ich helfe aus, wenn sie mich brauchen. Ich bin übrigens Miriam.«

Das war mein hebräischer zweiter Vorname. Ich hieß Rachel Meredith und auf Hebräisch Rachel Miriam. Ich sagte es ihr nicht.

»Ich bin Rachel«, sagte ich. »Es überrascht mich, dass du rauchst.«

»Weil ich religiös bin?«

»Ja«, sagte ich. »Und weil wir hier in L. A. sind. Es ist schön, jemanden kennenzulernen, der keine Angst vor Krebs hat. Ich meine, das Leben ist lang genug.«

»Du bist witzig«, sagte sie, ohne zu lachen. »Orthodoxe Leute rauchen. Und trinken Alkohol. Ich trinke sehr gern. Mai Tais.«

»Mai Tais?«

»Die sind tropisch.«

»Ich weiß, was das ist. Es ist nur eine interessante Wahl.«

»Bist du Jüdin?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete ich. »Aber eine schlechte. Ich bin eine sehr, sehr schlechte Jüdin.«

»Ich auch.« Sie lachte. »Aber du lebst koscher?«

»Nein«, sagte ich und sog eine Nelkenwolke ein: warm, süß und zimtig.

»Oh«, sagte sie. »Ich schon.«

Als sie sagte, sie sei eine schlechte Jüdin, meinte sie es definitiv nicht so wie ich.

»Auf der Fairfax gibt es ein koscheres chinesisches Restaurant, das macht die besten Mai Tais. Das Golden Dragon. Warst du mal da?«

Ich schüttelte verneinend den Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, sie zu sein: alles Mögliche zu essen und zu trinken. Ich überlegte, ob sie Egg Rolls bestellte, Frühlingszwiebel-Pfannkuchen, den ganzen guten fettigen Scheiß. Ich wettete, das tat sie.

»Trinkst du?«, fragte sie.

»Auf jeden Fall«, sagte ich, auch wenn ich es eigentlich nicht tat, denn ich wollte mir die zusätzlichen Kalorien sparen.

»Ich liebe es«, sagte sie. »Vor allem mich mit meiner Familie betrinken. Wir sind zu acht, sechs Kinder. Das macht großen Spaß.«

Ich hatte orthodoxes Judentum nie als Spaß betrachtet – eher als Sexismus und Regeln.

»Klingt so«, sagte ich.

»Es ist total meschugge.« Sie lachte.

Dann atmete sie noch einen Baum aus Rauch aus.

»Und«, sagte sie. »Verstehst du dich gut mit deiner Familie?«