Als der Wecker klingelte, wachte ich mit schrecklicher Angst auf. Ich erinnerte mich nicht mehr genau, was am Vortag passiert war, aber ich wusste, es war schlimm. Während ich rekonstruierte, was ich gegessen hatte, konnte ich einen Teil davon in meinem Mund schmecken, die sauren, ätzenden Stücke unverdautes Essen, die hochkamen: ein Hauch von Salsa, eine einzelne Nudel. Mein Bauch tat von unten bis oben weh, als müsste ich einen riesigen Haufen scheißen, der sich in Schleifen und Knoten dahinschlängelte und niemals enden würde. Doch der schlimmste Schmerz saß in der Mitte, wo ich eine seltsame Leere spürte, trotz des ganzen unberechenbaren Essens. Ich hatte meinen Magen gedehnt, zu viel Platz gemacht. Ich hatte das Gefühl, ich bräuchte trotzdem noch mehr Essen, als müsste ich zu dem zurückkehren, was mir Schmerzen bereitete, um zu lindern, was ich getan hatte.
Tu etwas in mich, sagte mein Magen. Gib mir etwas Beruhigendes.
Doch ich konnte und würde nicht gehorchen. Ich hatte keine Waage mehr in meiner Wohnung. In meinen Abführmitteljahren hatte ich mich zehnmal am Tag gewogen: jedes Mal, wenn ich schiss oder pisste. Wenn ich eines aus dieser Selbstquälerei gelernt habe, dann, dass ich nicht von der Waage herunterkam, wenn ich eine besaß. Doch jetzt hatte ich das Gefühl, als hätte ich mindestens fünf Kilo zugenommen. Ich beschloss, in den nächsten drei Tagen nur Proteinriegel zu essen, damit ich meine Kalorien komplett im Griff hatte. Ich fühlte mich eklig. Ich stellte mir vor, wie das Essen in meinem Magen simmerte, wie es gerade anfing, sich langsam auf verschiedene Teile meines Körpers zu verteilen: meine Hüften, meinen Bauch, meine Arme. Würde ich irgendwann aussehen wie Miriam? Wurde ich zu einem Frozen-Yogurt-Girl: weich, labberig, zerlaufend?
Ich dachte an Dr. Mahjoub und die verschwundene Skulptur. Ich glaubte nicht an Vision Boards, kreative Visualisierung und dieses ganze L. A.-Gelaber. Und doch fragte ich mich, ob ich diese Frau womöglich irgendwie gevisionboarded hatte.
An diesem Abend googelte ich Voodoo-Puppe. Ich landete auf irgendjemandes Etsy-Seite, auf der es eine ganze Reihe hässliche, nach Lebkuchenmann aussehende Stoffpuppen zu kaufen gab – angeblich in Brooklyn handgemacht. Ich googelte jüdische Voodoo-Puppe und fand einen Artikel über Antisemitismus in der Türkei. Ich googelte jüdischer Frankenstein und las eine Biografie von Mel Brooks. Dann googelte ich jüdisches Monster.
Ein Golem (/’go l m/ GOH-l m; Hebräisch: גולם) ist ein belebtes Wesen mit menschlicher Gestalt in der jüdischen Folklore, das durch Magie aus unbelebter Materie erschaffen wird – üblicherweise aus Ton oder Schlamm. Der Golem besitzt eine unendliche Zahl von Bedeutungen und kann als Metapher für etwas dienen, wonach sein Schöpfer in seinem Leben sucht.
Tja, ich hatte jedenfalls keine Yogurt-Eisbecher gesucht, das war mal sicher. Ich las weiter:
Der berühmteste Golem soll im späten 16. Jahrhundert von Judah Löw ben Bezalel geschaffen worden sein, einem Prager Rabbi, der einen Golem formte, um die Juden vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Manche halten den Golem für echt. Andere glauben, er sei ein Symbol, das sich auf eine spirituelle Erweckung bezieht.
Auf einem Bild sah der Golem aus wie King Kong. Auf einem anderen sah er aus wie eine Art Hulk: der Jolly Green Giant oder André the Giant. Auf keinem Bild sah der Golem auch nur im Entferntesten Miriam ähnlich oder mir oder einer jungen Version von mir oder der psychedelischen Frau, die ich geknetet hatte, oder Dr. Mahjoub oder auch nur einem Frozen Yogurt.
Ich googelte Rabbi Judah Löw ben Bezalel und fand ein Gemälde von ihm. Er war alt und hatte einen Bart bis hinunter zu den Füßen. Er lächelte. Er sah nett aus.