Kapitel 24

Ich stand vor dem Golden Dragon, kaute Nikotinkaugummis Kette und wartete auf Miriam. Die Abendluft war kühl, die Gehwege, Autos und Busse in rosafarbenes Licht getaucht. Es war L. A.s magische Stunde. Das Golden Dragon sah aus, als wäre es auch einmal magisch gewesen, aber jetzt war es baufällig: der Leichnam von jemandes Fifties-Hollywood-Traum mit ein bisschen Regency und Tiki.

Die Fassade war Gipsputz im Ranch-Stil, bemalt mit Bananenblättern. Sie hatte den Kalten Krieg überlebt, nur um dann dem Schwarzschimmel zum Opfer zu fallen. Zwei Löwen mit gesprungener Lackierung, einem fehlte ein Ohr, standen vor dem roten Pagodeneingang Wache. Ein türkises Neonschild über der Pagode blinkte: G LDE DRA N.

Aber der Laden war überraschend beliebt. Ständig gingen Frauen mit Perücken hinein und kamen mit Takeaway-Tüten wieder heraus. Eine Gruppe von zehn betrunkenen chassidischen Männern schob sich hinein. Es gab auch nicht religiöse Gäste: ein alterndes Hollywood-Rocker-Pärchen mit komplett tätowierten Armen, eine Gruppe in farbverschmierten Jeans, die nach Bühnenbildnern aussahen. Jedes Mal, wenn die Türen aufgingen, hörte ich das Summen angeregter Stimmen, das hawaiianische Gitarrenmusik übertönte.

Ich wartete zehn Minuten, dann ging ich hinein. Es war dunkel und duftete nach frittiertem Essen, ein Gruselkabinett aus goldenen Bambusspiegeln und rosafarbenen Lederbänken. Ich sah Miriam nicht, also setzte ich mich an die Rattan-Bar unter Lichterketten in Pink, Blau, Gelb und Grün. Über meinem Kopf hing ein goldener Drache von der Decke. Ungefähr jede Minute stieß der Drache einen Strom von Licht und Dampf aus.

Was tat ich hier? Es war, als existierte der Laden nur als Chiffre – null Yelp-Bewertungen, eine Internetseite, auf der nur ein Name und die Speisekarte standen, und dann der Laden selbst –, ein leuchtendes schwarzes Loch. Ich hatte schon immer in ein schwarzes Loch fliehen wollen. Ich fühlte mich eingeschüchtert von dem Leuchten. Und wer war diese willkürliche Person, mit der ich mich an der Bar eines chinesischen Restaurants traf? Genau genommen war es weniger willkürlich als ein Tinderdate oder so was. Aber es erschien mir schräger, mit meiner Yogurt-Verkäuferin auszugehen, als mit jemandem, von dem ich bisher nur online ein Foto gesehen hatte.

Beruhige dich, ermahnte ich mich.

Ich bin ruhig, erwiderte ich.

Der Barmann brachte eine Schüssel knusprig frittierte Nudeln mit süßsaurer Soße und scharfem Senf. Ich hatte diese Nudeln seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gegessen und schob mir schnell eine Handvoll nach der anderen hinein, tunkte und knusperte und tunkte wieder. Ich hatte ganz vergessen, wie gut sie waren. Dann kam Miriam herein. Eilig leckte ich mir die Finger ab und winkte.

Sie kam zwanzig Minuten zu spät. Aber die Zeit schien ihr völlig egal zu sein, als sie lässig auf mich zuging, opulent korpulent in ihrem gelben geblümten Wickelkleid mit Kimonoärmeln, ein Lächeln auf ihrem blassen Gesicht.

Sie existiert wirklich, dachte ich, als hätte ich den Yogurtladen bis zu diesem Moment für ein Paralleluniversum gehalten, das mit allem, was darin war, verschwand, wenn ich durch die Tür ging.

»Das ist irgendwie lustig«, sagte ich, als sie sich neben mich setzte.

»Was?«, fragte sie.

»Das hier«, sagte ich und zeigte auf sie, dann auf mich.

»Hast du schon in die Speisekarte geschaut?«, fragte sie, ohne auf meine Beurteilung der Lage einzugehen.

»Nein«, log ich.

Ich hatte Angst, ihr zu sagen, dass ich mich auf unsere gemeinsame Zeit gefreut hatte. Aber sie schien an der Situation nichts unangenehm zu finden, denn sie sagte fröhlich: »Tja, in dem Fall bestelle ich für uns beide.«

Sie schnippte gebieterisch mit den Fingern nach dem Barmann. Das kam mir merkwürdig vor für jemanden, der in der Dienstleistungsbranche arbeitete. Die Leute machten das bei ihr vermutlich den ganzen Tag.

»Zwei Scorpion Bowls«, sagte sie.

Die Drinks wurden uns in riesigen grünen Keramikschüsseln in Form halber Wassermelonen gebracht, bis zum Rand gefüllt mit Maraschinokirschen, Ananas, Orangenstücken. Eine dieser Schüsseln hatte wahrscheinlich mehr Kalorien, als ich mir selbst in zwei Tagen zugestand.

»Probier!«, sagte Miriam lächelnd.

Ich nahm den rosa Strohhalm in den Mund und schlürfte. Es war köstlich, wie eine Neon-Airbrush-Darstellung einer Früchtepunsch-Insel. Es war ein ganz eigener tropischer Kosmos, inklusive Kokosnüssen, Meer und Sonnenuntergang. Der Drink wärmte mir sofort Brust und Bauch. Plötzlich fühlte ich mich wohler.

»Na, dann Aloha«, sagte ich.

Sie lachte. »Flieg mir nicht weg!«

»Das Zeug macht mich fertig.«

»Es ist ein Segen.«

»Ich fühle mich tatsächlich auserwählt«, sagte ich und nahm noch ein paar Schlucke.

»Was für eine Jüdin bist du noch mal?«

»Ich war reformiert«, sagte ich. »Aber jetzt bin ich eher gar nichts.«

»Bist du gern gar nichts?«, fragte sie.

»Das ist keine Frage des Mögens. Ich habe mich dem Judentum … spirituell nicht verbunden gefühlt.«

»Das ist lustig«, sagte sie. »Ich hab nie darüber nachgedacht, ob ich es fühle. Vielleicht, weil ich es immer gefühlt habe. Du glaubst aber doch an Gott, oder?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Das wurde hier ziemlich ernst für ein erstes Date, oder was auch immer wir hier taten. Ich trank weiter.

»Nicht?«, fragte sie.

»Ich meine, wie kann ich das wissen? Gott schreibt mir schließlich keine SMS oder so was.«

»Was glaubst du, was das alles hier ist?« Lachend deutete sie auf die Lampen und die Drachen und Spiegel und Laternen und die anderen Gäste und auf sich und mich.

Ich schwieg.

»Das ist Gott«, sagte sie, als wäre das offensichtlich.

»Ist das auch Gott?«, fragte ich und deutete auf die Scorpion Bowl.

»Oh, auf jeden Fall!« Sie kicherte. »Das ist vielleicht das Heiligste von allem. Meine halbe Familie besteht aus Säufern.«

»Ehrlich?«

»Nein. Aber alle trinken gern. Meine Leute kommen am Sabbat her und hängen hier ab, und wir trinken alle zu viel. Passiert jeden Freitag. Komm doch auch mal. Es würde dir wirklich gefallen.«

Warum war sie sich bei allem so sicher?

»Lebst du mit deiner Familie zusammen?«, fragte ich.

»Natürlich«, sagte sie, als wäre es das Normalste auf der Welt. »Vermisst du deine nicht, so weit entfernt?«

»Kein bisschen«, sagte ich beiläufig, als wäre es wahr.

»Oh«, sagte sie leise.

Ich betrachtete die Formen und Tönungen ihres Gesichts, studierte sie. Alles daran war eine eigene bewohnbare Welt. Ihre Haare hatten die Farbe von Vanilleeis oder Papyrusrollen mit Streifen von Nachtlicht. Ihre Augenbrauen hatten die Farbe von Löwen, von faulen Löwen, die in der Sonne dösten oder nachts mit den Pfoten im Laternenlicht Butter aßen. Ihre Augen: Eisberge für Schiffsunglücke. Wimpern: Rauch und Platin. Ihre Haut war die Jungfrau Maria und gleichzeitig sehr babyhaft. Ihre Nase: hinreißend, atmend. Oberlippe: rosa Pfingstrose. Unterlippe: Rose. Die Zähne waren komplizierter, aber das Innere ihres Mundes war einfach: Valentinsherzen und Hölle.

Ich zog den Lippenstift, den ich für sie gekauft hatte, aus meiner Handtasche. Ich wollte das Innere dieses Mundes nach außen holen, alles rot machen.

»Ich hab dir was mitgebracht«, sagte ich und gab ihn ihr.

Der Lippenstift steckte in einer kleinen Tüte mit ein bisschen Seidenpapier.

»Ach, wie nett«, sagte sie, wie es eine spießige alte Touristendame vor einer malerischen Blumenwiese sagen würde.

Das wurde hier von Minute zu Minute bizarrer. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Drink und beobachtete, wie sie sich über die Unterlippe leckte, während sie das Päckchen aufmachte. Ihre Papyrushaare leuchteten unter der Barbeleuchtung.

»Oh«, sagt sie, als sie den Lippenstift herauszog.

»Ich habe bemerkt, dass du kein Make-up trägst, aber …«

»Ich weiß nicht, wie man es richtig macht. Meine Mom kommt mir manchmal damit, dass ich welches tragen soll. Sie sagt, wenn ich einen Ehemann finden will, muss ich es lernen. Sie hat selbst keine Ahnung, wie man das macht, deshalb kann sie es nicht beurteilen.«

Oh, super, ein Ehemann, dachte ich.

»Findest du, ich brauche Lippenstift?«, fragte sie.

»Nein, nein«, antwortete ich.

»Dann trag du ihn mir auf.«

»Okay.«

Ich wickelte die Plastikhülle ab und holte das Röhrchen aus der Pappschachtel. Ich ließ es aufschnappen.

»Spitz die Lippen«, sagte ich.

Sie teilte ihre Lippen. Ich war ihrem Gesicht noch nie so nah gewesen. Ihr Duft war sehr sauber, seifig. Die Art, wie sie den Mund öffnete, nur ganz leicht, machte mich verrückt. Ich wollte meinen Finger da hineinstecken. Ich wollte ihren Speichel anfassen, damit den ausgeprägten Bogen ihrer Oberlippe nachzeichnen, sie mit ihrer eigenen Spucke zeichnen. Ihre Lippen waren schon so nass. Um genau zu sein, waren sie zu nass, um den Lippenstift richtig aufzutragen.

»Warte«, sagte ich. »Lass mich was machen.«

Sanft tupfte ich ihr mit meiner Stoffserviette die Feuchtigkeit von den Lippen. Dann trug ich den Lippenstift auf, erst leicht, dann fester, tupfte einen sanften Rhythmus, dann noch einen. Ich trug viel mehr auf als nötig, denn ich wollte nicht aufhören.

»Okay, okay«, sagte sie.

Ich lehnte mich auf dem Barhocker zurück und sah sie an. Es war Hexerei. Sie war verändert. Mit ein paar Strichen hatte ich sie von einem keuschen Lamm in einen schmollmündigen, säugenden Welpen und dann in eine Obsttorte verwandelt. Wo ihre Schönheit vorher in ihrer Reinheit lag, machte der Lippenstift sie zu einer Art vamp-geküsstem Tramp mit Straßenhurenlippen. Aber das Heißeste war, dass ihre Unschuld immer noch von ihr abstrahlte, wie bei einem kleinen Mädchen, das an die Make-up-Tasche einer Frau geraten war und nicht sicher war, ob es dafür Ärger bekam – dem es aber trotzdem gefiel.

»Wow«, sagte ich und hielt ihr die verspiegelte Seite der Lippenstiftschachtel hin.

»Hmmmmm«, sagte sie schüchtern, während sie das kleine Spiegelbild betrachtete. »Es sieht wirklich hübsch aus.«

»Sehr erotisch«, sagte ich.

Sie lächelte breit und schmierte sich dabei Lippenstift an die Zähne.

Darf ich sie sauber lecken?, dachte ich.

»Und?«, fragte ich lässig. »Was ist hier zu empfehlen?«