Kapitel 25

»Wir fangen mit Wan-Tan-Suppe an«, sagte Miriam zu dem Kellner, nachdem wir auf eine der rosafarbenen Bänke umgezogen waren. »Dann nehmen wir das Pfeffersteak, das Sesamhuhn, die gebratenen Nudeln nach Art des Hauses und gebratenen Reis mit Ente.«

Der Kellner pustete durch die Lippen, als hätte er Zweifel, dass wir das alles essen würden – oder als wäre er besorgt, dass wir es wirklich tun könnten.

»Oh«, sagte Miriam. »Außerdem nehmen wir noch eine Pu-Pu-Platte. Bringen Sie die nach der Wan-Tan-Suppe, aber vor den restlichen Gerichten. Sagen Sie dem Koch, er soll sich ein bisschen Zeit lassen.«

»Es tut mir leid, die Pu-Pu-Platte ist nur für vier oder acht Personen«, sagte der Kellner.

»Vier ist gut«, sagte Miriam und zwinkerte mir zu.

Inzwischen hatte sie keinen Lippenstift mehr an den Zähnen, aber dafür war er jetzt überall an ihrem Strohhalm. Irgendwie gehörte er dort auch hin, mit dem Wassermelonenbecher und den Cocktailschirmchen, wie ein Retro-Pin-up-Girl auf Streifzug durch die Nacht, das alle umhaut.

»Brauchst du sonst noch was, Rach?«, fragte sie.

»M-mm.« Ich schüttelte den Kopf.

»Und noch zwei von denen hier«, sagte Miriam zu dem Kellner und zeigte auf die Scorpion Bowls. »Sehr kalt.«

»Oh, mir reicht meiner«, sagte ich.

»Also gut, dann einen. Sie kann bei mir mittrinken«, sagte sie.

Dann sah sie mich an.

»Zu viel für dich?«, fragte sie grinsend.

Mit meiner Reaktion auf die Wan-Tan-Suppe war sie zufriedener. Als ich meinen ersten Bissen nahm, wich der weiche Nudelteig dem knoblauchigen Inneren, gab einen Strom salziger Brühe in meinen Mund frei, und ich stöhnte laut auf.

»Gut, oder?«, fragte sie.

»Oh mein Gott«, sagte ich mit vollem Mund.

»Ich hab dir doch gesagt, die sind super hier«, sagte sie. »Nur weil es koscher ist, muss es ja nicht schlecht sein.«

»Nein, das habe ich auch nicht gedacht«, sagte ich.

Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich jedes chinesische Essen, gut oder schlecht, unglaublich gefunden hätte, weil ich es so viele Jahre nicht geschmeckt hatte.

»Sie machen die Wan-Tans komplett mit Hühnchen«, sagte sie stolz. »Kein Schwein.«

»Wow.«

Ich sah zu, wie sie ihren Löffel führte, jeden Bissen orchestrierte. Zuerst gab sie scharfen Senf in die Schale mit der Brühe. Dann ging sie methodisch vor, Wan-Tan um Wan-Tan teilte sie in der Mitte, tunkte die Hälften in süßsaure Soße, bevor sie sie in den Mund steckte. Ich tat es ihr nach, kopierte ihre Methode. Die Wan-Tans explodierten in meinem Mund, eine süß-scharfe Party.

Dann kam die Pu-Pu-Platte.

»Macht Platz, macht Platz«, rief Miriam, als eine Tiki-Schale aus Holz vor uns hingestellt wurde, in deren Mitte ein Feuer loderte.

Wir begannen, alles darauf doppelt zu tunken: Egg Rolls, Frühlingsrollen, Frühlingszwiebel-Pfannkuchen, Dumplings.

»Wir brauchen mehr süßsaure Soße«, rief sie dem Kellner zu. »Viel mehr.«

Und dann noch einmal, als unsere Hauptgerichte serviert wurden.

»Mehr süßsaure Soße«, sagte sie und reckte ihm die Schale entgegen, als sei es sein Versäumnis, nicht zu wissen, dass wir beschlossen hatten, darin zu baden.

Ich wollte in all diesen Soßen untertauchen. Das Pfeffersteak war so gut, die Bratensoße hätte ich auch ohne alles gegessen. Ich seufzte hörbar, als ich einen Bissen von dem butterweichen Fleisch in den Mund steckte, begleitet von einem Stück Zwiebel. War da Wein in dieser Unverschämtheit?

»Und?«, fragte Miriam.

»Zart«, sagte ich.

»Und?«

»Saftig.«

Aber mein Lieblingsgericht war das Sesamhuhn. Ich mochte, wie die Süße mit der Schärfe kontrastierte und auch dass kein Gemüse drin war. Gemüse brauchte ich eigentlich sowieso nie wieder. Es war so dekadent, Sesam und Mehl auf Hähnchenfleisch zu tun und es in einer kalorienreichen Soße zu braten. Das machte es so köstlich – das Wissen, dass unter all diesen Kohlehydraten und dem Fett Hähnchenfleisch war, das auch gesund hätte sein können, es aber um des Geschmacks willen nicht war. Es war wie ein an Hähnchenfleisch gerichtetes Fuck you. Es war ein Fuck you an alles!

»Fuck me!«, sagte ich fröhlich und nahm zur Feier des Tages noch einen großen Bissen.

Miriam lachte und trank einen Schluck aus ihrer Scorpion Bowl. Dann schnitt sie sorgfältig mit der Seite ihrer Stäbchen in ein Stück Hähnchen, elegant und mit langsamer Präzision, weil sie es nicht halb verhungert inhalieren musste. Es gab reichlich, und es würde auch zukünftig reichlich geben. Sie betrachtete ihren Teller, entwarf Strategien, kartierte. So würde es passieren, dann das und dann das. Sie nahm eine Nudel und wickelte sie um das Hähnchenstück, dann legte sie ein Stück Ei von dem gebratenen Reis darauf. Das alles tunkte sie in Hähnchensoße mit Sesam an ihrem Tellerrand. Dann hob sie es an die Lippen, schloss die Augen, öffnete sie wieder und biss hinein. Ich sah zu, wie sie bedächtig kaute.

»Du wirkst interessiert an meinen Stäbchen«, sagte sie.

»Ich mag es, wie du isst.«

»Ja, mir geht es wirklich gut«, sagte sie.

»Das stimmt.«

»Soll ich dir einen Bissen machen?«

»Okay.«

Mit ihren Stäbchen stellte sie den gleichen Bissen für mich zusammen: Hähnchen, Nudel, Ei, Soße. Dann nahm ich ihn mit meinen Stäbchen von ihrem Teller und steckte ihn in den Mund.

»Jetzt kau«, sagte sie.

»Mmmmm.«

»Was schmeckst du?«

»Es ist ein Wunder«, sagte ich. »Eine simultane Huhn-Ei-Situation. Ich meine, was war zuerst da? Keins von beidem!«

»Ja.« Sie lachte. »Und?«

»Ich meine, wie sich die Nudel um beides schmiegt.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Und jetzt schluck.«

Ich schluckte.

Stolz machte sie noch einen Bissen für sich selbst. Als sie ihn an die Lippen hob, sah sie mich mit diesen eisblauen Augen an. Scheiße, dachte ich. Kann sein, dass ich sie liebe.

Neben ihr brannte die Pu-Pu-Platte immer noch. Es war eine große Holzschüssel mit einem gusseisernen Rost in der Mitte, aus dem gleichmäßig eine blaue Flamme strömte. Das Blau hatte einen roten Rand.

Ich starrte in das Feuer. Ich blinzelte es an, bis es zu zwei Flammen wurde, Zwillingen. Dann blinzelte ich, und es war wieder eine. Ich sah etwas darin brennen, etwas Kleines, Verkohltes, wahrscheinlich ein Stück Egg-Roll-Hülle. Aber je länger ich starrte, desto lebendiger sah das Ding aus – wie eine kleine, eingesperrte Gestalt. Sie hatte einen Oberkörper und einen Hals. Sie hatte einen Schädel. Ich hoffte, die Gestalt war kein böses Omen.

Das ist nur ein Egg-Roll-Krümel, sagte ich mir. Du bist betrunken.

Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Gestalt ein Mensch war, ein Symbol für etwas Unheilverkündendes. War ich die Gestalt? Wurde ich von dem Feuer verbrannt? Ich fühlte mich losgelöst, getrennt von mir selbst. All meine Gedanken und Glaubenssätze, meine kleinen Machenschaften und Pläne, was bedeuteten sie schon? Um mich zu beruhigen, versuchte ich, im Kopf Zahlen zu addieren: 365 plus 780 plus 1250 plus 195. Ich wusste nicht mehr, wie man rechnet. Ich konnte nichts zusammenzählen. Meine Sicherheit dessen, was was war, wurde zu Asche.

Mitten in diesem vollen Restaurant spürte ich plötzlich eine seltsame und erschreckende Einsamkeit. Ich wollte aufstehen, zur Toilette rennen, versuchen, alles wieder auszukotzen. Aber meine Beine zitterten. Also blieb ich sitzen.

Ich stellte die Ellbogen auf den Tisch und atmete tief ein und aus. Ich hielt die Hände vor die Augen. Zwischen den Fingern konnte ich immer noch die Flammen sehen. Ich zählte acht.

»Geht es dir gut?«, fragte Miriam.

»Ich bin eine Menora«, sagte ich.

Sie lachte. Ich lachte auch. Dann ging es mir wieder besser. Ich war nicht zu Asche zerfallen. Ich fühlte mich sicherer.

In der Sitzecke neben uns sah ich die Bühnenbildner Nudeln von großen Tellern essen und sich angeregt unterhalten. In mir wallte Zärtlichkeit für sie auf. Ich mochte ihr Gerede. Ich mochte ihre Nudeln. Am Tisch der chassidischen Männer stand einer auf, um einen Trinkspruch auszubringen. Alle klirrten mit ihren Löffeln an die Gläser. Die Männer mochte ich auch. Ich hörte Musik aus dem Lautsprecher unterhalb der Decke. Die Musik klang schön. Ich überlegte, ob es Beethoven war oder Mozart oder so was. Als mir aufging, dass es eine Panflöten-Instrumentalversion von Santanas »Smooth« war, musste ich lachen.

Der Mann mit dem erhobenen Glas rief: »L’Chaim!« Der Tisch voller Männer antwortete im Sprechchor: »L’Chaim!« Der goldene Drache pustete noch eine Runde Rauch. Die Panflötenmusik schwoll an.

»Hey«, sagte Miriam. »Bist du satt?«

Ich dachte einen Moment über ihre Frage nach.

Dann sagte ich: »Ja.«