Kapitel 28

Meine Mutter rief nicht mehr an. Sie schickte keine familiären Abgesandten mehr, keine Wetterwarnungen und auch keinen historischen Roman meiner Erziehung. Was ich jetzt täglich erhielt, war reiner Text. Der Text lautete schlicht: Hi.

Am Freitag war es: Hi.

Samstag: Hi.

Sonntag: Hi.

Montag: Ich hab dir zwei Coupons für Bed Bath & Beyond geschickt. 20 % auf den GANZEN EINKAUF und 20 % auf einen Artikel!! Nutze sie in Gesundheit und Wohlstand!!!

Dienstag: Bitte nutze die Coupons wirklich fpr Großes. Vielleicht einen Staubsauger?? Hast du einen Ataubsauger??

Mittwoch: Hi.

Das Hi war verführerisch. Ich wollte unbedingt auf das Hi antworten. Was war falsch daran, ein kleines Wie geht’s Dir? zurückzuschreiben oder Hey oder sogar Du fehlst mir?. Das Hi war so simpel, so beiläufig. Das Hi suggerierte, ich könnte eine einfache Beziehung mit meiner Mutter haben – als wäre es keine Falltür zu einem Angriff auf meine Gefühle, einem Bombardement, einer PowerPoint-Präsentation der Schuld –, als wären meine Mutter und ich Freundinnen, gute Freundinnen, als wäre ich eine dieser Töchter, die sagen: Oh ja, meine Mutter ist meine beste Freundin. Diese Frauen waren verstörend.

Mütter, die in ihre Töchterchen vernarrt waren, machten mich auch kaputt. Ich wollte mich nicht von ihnen zwingen lassen, ihnen zu bestätigen, wie süß ihr Baby sei. Ich sah eine Mutter mit ihrem Kleinkind auf der Straße, das Kleinkind plapperte irgendwas, die Mutter lächelte das Kleinkind an und schaute dann mich an und erwartete, dass ich ihr süßes Kleines pries. Ich konnte nicht zurücklächeln.

Als ich mich am Tag nach dem Kino mit Ana zum Tee traf, war mir nach Weinen zumute.

»Es tut mir leid«, wollte ich sagen, als sie mir eine Tasse heißen Harney & Sons gab und unsere Finger sich berührten. »Es tut mir leid« und außerdem: »Bitte hilf mir!«

Es ging nicht, es nicht zu wollen: die Bestätigung, das Gefühl, wenn nach dem Nachmittagstee mein Magen knurrte und ich stolz war auf sein Knurren, weil ich genau wusste, was in ihm war. Jetzt schien es mir, dass diese kalkulierten Löcher die totale Sicherheit gewesen waren, auch wenn ich wusste, dass ich nie ganz in Sicherheit war. Die Löcher im Bauch trösteten über eine andere Art von Leere hinweg, die voller Angst und Rätseln war. Jetzt lauerte das Unbekannte auf mich.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Wovon?« Ich grinste.

Ich hoffte, wir würden über Andrews neuen Haarschnitt lästern. Dem Indie-Rocker-Wuschelkopf waren über Nacht Stirnfransen gewachsen.

»Dem Tee«, sagte sie. »Darjeeling. Normalerweise trinke ich Earl Grey.«

Ich bemerkte, dass sie ich sagte und nicht wir. Ich pustete auf die Tasse und nahm einen Schluck, ließ von der warmen Flüssigkeit den Überzug des Nikotinkaugummis schmelzen, den ich zwischen Backenzahn und Wange geparkt hatte.

»Super«, sagte ich.

Dann musste wohl ich mit dem Lästern anfangen.

»Also«, sagte ich. »Nach der sorgfältigen Lektüre von Ofers E-Mail über internalisierte Misogynie und Safe Spaces bin ich zu dem Schluss gekommen, dass kein Space safe ist … vor ihm.«

»Hab’s nicht gelesen«, sagte sie. »Ich hab in der ersten Zeile Feingefühl gelesen und die Mail sofort gelöscht.«

»Glaubst du, es war deine internalisierte Misogynie, die das Löschen übernommen hat?«

»Es war mein internalisiertes Irgendwas.«

»Er ist zu einem echten Bro-Choice-Aktivist geworden«, sagte ich.

»Hmmm.«

Verlor ich den Kontakt zu ihr? Mochte sie mich nicht mehr? Ich konnte nie sagen, wie andere mich sahen. Meistens hatte ich das Gefühl, in einem Auto mit beschlagener Windschutzscheibe herumzufahren, die es schwierig machte, die Wahrnehmung anderer zu entschlüsseln. Sie machten da draußen nur irgendwelche Gesten und gaben unverständliche Laute von sich, während ich unaufhörlich die Scheibenwischer laufen ließ. Aber egal, wie schnell sie wischten, die Windschutzscheibe blieb beschlagen.

Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass Ana jetzt etwas an mir zurückwies. Ich wurde rausgedrängt, war der Einbeziehung in ihren fröhlichen Ausschluss aller anderen nicht mehr würdig. Unser Wir hatte sich in ein Die da verwandelt. Sie spürte, dass ich mich veränderte und – ja, was wurde?

In mir wuchs ein großes Fickt euch. Ich wusste nicht, ob dieses Gefühl Kapitulation, Freiheit oder eine riesige Täuschung war, die mich am Ende verletzen würde. Dieses Gefühl hatte Miriam auf mich übertragen, wie eine Infusion – oder eine Krankheit. Es war aufregend. Aber gleichzeitig machte es mir Angst.

Ich googelte Wie stoppt man den Golem.

Einigen jüdischen Erzählungen zufolge wird ein Golem aus Lehm oder Erde lebendig, wenn sein Schöpfer um ihn herumgeht und eine Kombination von Buchstaben aus dem Alphabet und Gottes geheimen Namen rezitiert. Um den Golem zu stoppen, muss sein Schöpfer in die Gegenrichtung gehen und alles rückwärts rezitieren.

»Mairim Mairim Mairim Mairim«, flüsterte ich. »Lehcar Lehcar Lehcar Lehcar. Ana Ana Ana Ana. Rettum Rettum Rettum Rettum.«

Ich fühlte mich nicht weniger tot.