Kapitel 33

Ich wusste nicht, was ich am Sabbat tragen sollte. Ich wollte nicht, dass Miriams Familie mich respektlos fand, deshalb machte ich früher Feierabend und ging kurz zu Saks Off 5th rüber, wo ich ein langes schwarzes Baumwollkleid mit Knöpfen an den Ärmelbündchen kaufte, das mir bis zu den Knöcheln ging. Ich hatte mich kulturell gesehen immer jüdisch gefühlt, auch wenn ich nicht religiös war. Aber in meinem Unwissen über orthodoxe Bräuche fühlte ich mich wie die typische weiße, angelsächsische Protestantin. In gewisser Weise mochte ich dieses Gefühl: stromlinienförmig, unabhängig.

Ich ging bei Schwartz Bakery vorbei und kaufte einen Zimtkranz, dann parkte ich mein Auto und lief entlang der Formosa den restlichen Weg zu Miriams Haus zu Fuß. Ich wollte nicht, dass sie wussten, dass ich am Sabbat Auto fuhr, denn ich wusste, das galt als Arbeit – auch wenn die Sonne noch nicht untergegangen war. Es war irgendwie nett, bis Sonnenuntergang mit allem fertig sein zu müssen, vom Leben entschuldigt zu werden. Es war wie ein Entschuldigungsbrief, geschrieben von der höchsten Autorität.

Das Haus war ein für L. A. typischer zweistöckiger Mischmasch auf einem kleinen Grundstück, das aussah, als wäre es vor den 1940ern gebaut, in den 60ern renoviert und dann seit den 80ern vernachlässigt worden. Es bestand aus Putz und Ziegeln und Verschalung und Stein, mit schmiedeeisernen Verzierungen – manche schwarz gestrichen, andere weiß. Neben der Haustür hing natürlich eine Mesusa, und an der Tür hing eine aus Holz ausgesägte Eule, auf der stand: DIE SCHWEBELS. Das war also ihr Nachname: Miriam Schwebel. Ich roch etwas Gebratenes, irgendein Fleisch, und dachte sofort: Dreh um. Lauf. Die Intimität, der Geruch des Lebens einer anderen Familie war Furcht einflößend.

Miriam hatte wohl gewartet. Bevor ich überhaupt klopfte, öffnete sie die Tür und scheuchte mich herein. Ich war der Ehrengast. Sie hatte den Großteil ihrer Familie am Eingang aufgereiht. Eitan war fünfzehn, Noah neun – und beide hatten Schläfenlocken. Ihr Vater hatte auch welche, aber ich war überrascht, dass er keinen Bart trug. Ich streckte ihm die Hand entgegen, und er rührte sich nicht. Da fiel mir ein, dass er mich nicht berühren durfte. Miriam hatte eine drei Jahre jüngere Schwester, Ayala, von der sie sagte, sie sei oben. An Miriams Fuß klammerte sich außerdem ein Kleinkind.

»Sie ist so süß«, sagte ich über das Kleinkind.

»Ezra ist ein Er«, flüsterte Miriam.

»Oh«, sagte ich. »Tut mir leid!«

»Das macht doch nichts«, sagte Miriams Mutter lächelnd. »Wir schneiden ihnen die Haare erst mit drei.«

Ich mochte Mrs Schwebel, weil sie mich nicht verurteilte – und weil sie so tat, als könnte dieser Fehler ganz leicht jedem passieren. Sie sah Miriam so ähnlich. Sie waren beide auf die gleiche Art rund: der dicke Bauch, der ausladende Hintern, die Plumpheit unterm Kinn. Ihre Mutter trug kein Make-up, war aber stylischer, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie hatte ein hübsches langes schwarzes Kleid an und rote Slipper, die aussahen, als könnten sie von Gucci sein. Ihre Perücke war Rita-Hayworth-rot, schulterlang und an der Seite gescheitelt.

»Wir wohnen hier, seit ich zwei war«, erklärte Miriam, während sie mich durchs Haus führte, das riesig war, aber auch ein bisschen dreckig.

»Oh«, sagte ich. »Wo bist du geboren?«

»In Monsey«, antwortete sie, als wir das Wohnzimmer betraten. »New York. Meine Eltern kamen her, damit mein Vater mit meinem Onkel Lavie ins Gewerbeimmobiliengeschäft einsteigen konnte.«

Das Wohnzimmer war im 60er-Jahre-Feuerstein-Chic eingerichtet, mit Teppichboden und Möbeln in Avocadogrün und einem Kamin aus künstlichen Steinen. Es waren die gleichen künstlichen Steine wie die an der Fassade meines Apartmentgebäudes. Aber während dieses Zimmer mit Dingen gefüllt war, die aussahen wie Nippes aus einem ganzen Jahrhundert – drei Schofaroth, zwei Menora, eine Standuhr, eine Kuckucksuhr, ein kaputtes Ms.-Pac-Man-Arcade-Spiel, eine Sammlung von Rabbi-Figuren –, war mein Apartment frisch renoviert, weiß gestrichen und führte seine Existenz in einem zeitlosen Vakuum des Nichts. Ich hatte nur mein weißes IKEA-Bett, meinen weißen IKEA-Nachttisch, mein schwarzes IKEA-Sofa, und das war alles. Ich hatte überlegt, mir einen Teppich zu kaufen, aber ich konnte mich nicht entscheiden. Ich hatte das Gefühl, mich auf einen Teppich festzulegen würde bedeuten, dass ich mehr auf diesem Planeten existierte, als ich tatsächlich existieren wollte.

»Wann hat deine Familie mit dem Yogurt angefangen?«, fragte ich Miriam.

»Später. Als ich zwölf war.«

»Oh.«

»Eigentlich war es die Idee meiner Mutter«, sagte sie und führte mich ins Esszimmer, das älter war und antiker aussah als das Wohnzimmer, mit dunkler Holzvertäfelung und weißen Zierleisten. »In Monsey wäre sie wahrscheinlich nie darauf gekommen. Dort arbeiten Frauen eigentlich nicht – oder, na ja, sie sollen zumindest keine Geschäftsideen haben. Meine Eltern stammen beide aus ultra-ultra-orthodoxen Familien. Aber hier sind wir einfach modern orthodox. Onkel Lavie praktiziert fast gar nicht. Er ist der jüngere Bruder meines Vaters. Er hat die Jeschiwa verlassen, um hier rauszuziehen und eine Frau aus Israel zu heiraten. Sie haben nur zwei Kinder. Sie sind Reformjuden oder so.«

»Wer ist Reformjude?«, fragte eine junge Frau, die das Esszimmer betrat. Sie war schön, mit dunklen Haaren, glatt und glänzend, und Augen, die fast schwarz waren. Ihre Knöchel in den flachen Schuhen waren schmal, ihr Gesicht geformt wie das eines Rehs.

»Onkel Lavie«, sagte Miriam.

»Die sind konservadox.«

»Oh«, sagte Miriam. »Konservadox. Rachel, das ist meine Schwester Ayala.«

»Hallo«, sagte ich.

Ayala hob cool die Hand zu einer Art Winken, sagte aber kein Wort mehr. Ich konnte sie auf der Stelle nicht leiden. Ich war froh, als sie genauso plötzlich, wie sie hereingekommen war, den Raum verließ. Ihre Schönheit war eine Erinnerung an die Welt da draußen, von der Art, die ich immer für die wertvollste gehalten hatte. Ich wünschte, sie wäre überhaupt nicht da.

Die Küche war eine 60er-Jahre-Angelegenheit mit Holzvertäfelung, Linoleumboden, gelben Arbeitsplatten und Eichenholzoberschränken an jedem Zentimeter Wand.

»Kann ich Ihnen bei etwas helfen?«, fragte ich Mrs Schwebel.

»Nisht«, sagte sie. »Ist schon alles fertig.«

Noah und Ezra saßen mit einer Schachtel Schneckennudeln an einem kleinen Küchentisch.

»Wenn ihr die aufmachen wollt, macht sie jetzt auf«, sagte Mrs Schwebel. »Ich will nach Sonnenuntergang keine einzige Packung knistern hören.«

Dann drehte sie sich zu mir um und erklärte: »Die Packungen aufzumachen gilt als Arbeit. Wenn es Nacht wird, war’s das. Kein Aufmachen, keine Schneckennudeln.«

Sie drehte sich wieder zum Herd um. Noah und Ezra begannen, die einzeln verpackten Schneckennudeln herauszuziehen und alle Packungen aufzureißen.

»Wie viele macht ihr auf?«, schalt sie scherzhaft, immer noch mit dem Rücken zu ihnen. »Wenn das so ist, brauchen wir einen Schabbes-Goi.«

»Wir wollen die alle essen, Mama!«, sagte Ezra.

Ezra das Wort Mama benutzen zu hören versetzte mir einen sehnsüchtigen Stich. Ich sehnte mich nicht wirklich nach meiner Mutter, die ganz sicher keine Mama war. Ich wollte eine andere Mama, eine erfundene. Ich dachte darüber nach, wie die Mama meiner Träume aussehen und sich anfühlen würde. Wäre sie wie Mrs Schwebel? Wäre sie wie Ana? Gäbe es die Möglichkeit, die Mama zu schaffen, die ich mir wünschte, hätte ich nicht einmal sicher gewusst, wer sie wäre. Mein Wunsch nach dieser Mama war immer eine Reaktion auf eine Abwesenheit gewesen. Ich wusste nicht, wie man im Sinne von Anwesenheit an eine Mama dachte. In meinen Fantasien hatte ich Schnipsel zusammengeschustert – Fragmente von Frauen, die meinen Weg gekreuzt hatten. Ich hatte nie bei null angefangen, wenn ich mir eine Mama ausgedacht hatte.

»Wir helfen ihnen mit den Schneckennudeln«, sagte Miriam, nahm eine in die Hand und biss hinein.

»Ah«, sagte Mrs Schwebel. »Dann fängst du wohl deine Diät nicht diesen Schabbes an.«

Mrs Schwebels Tonfall war scherzhaft, nicht grausam oder vorwurfsvoll. Aber mir wurde schlecht von ihrem Kommentar, ich bekam Panik, als müsste ich Miriam von dem Wort Diät absondern oder das Wort Diät von Miriam, damit es sie nicht kontaminierte.

»Ich fange wirklich eine Diät an«, sagte Miriam und biss beiläufig noch mal ab. »Die Kuchendiät. Die ist im Moment total in, sehr beliebt.«

»Eine Kuchendiät, ehrlich?«, fragte Mrs Schwebel.

»Ja«, antwortete Miriam und kaute nachdenklich. »Schneckennudeln, Biskuitrollen, Brownies, Cupcakes, Obstkuchen. Aber keine Twinkies.«

»Warum keine Twinkies?«, fragte ich.

»Nicht koscher«, erwiderte sie.

»Na gut, aber gib Rachel wenigstens auch was ab«, sagte Mrs Schwebel. »Sie ist so hübsch schlank.«

Miriam bot mir die halbe Schneckennudel an, und ich nahm sie, obwohl ich mich fühlte wie eine Verräterin. Wir beide hatten nie über Gewicht gesprochen. Ich mochte es nicht, dass sie mit mir verglichen wurde oder mit irgendwem.

Aber dann kam Mrs Schwebel herüber, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: »Alle meine Kinder sind schön.«

»Mund auf!«, sagte Miriam und hielt ihrer Mutter das letzte Stück Schneckennudel vor den Mund.

»Mmmm«, sagte Mrs Schwebel. »Die Kuchendiät.«

Mr Schwebel saß schon am Esstisch. Er trug eine Kippa, und ich sah eine Zizit aus seiner Tasche baumeln. Er lächelte mich an und nickte gütig, sagte aber kein Wort. Selbst als sich alle um den Tisch gesetzt hatten, sah er uns alle nur mit amüsiertem Blick an. Er schien sich in allem Mrs Schwebel anzuschließen.

Er öffnete sein Gebetbuch, und sie schickte ihn in die Küche, um eine fehlende Zutat zu holen. Als er wiederkam, schickte sie ihn nach einem neuen Satz Kerzen, um die beiden alten zu ersetzen, weil sie nicht zufrieden mit ihnen war.

»Beeil dich«, sagte sie zu ihm. »In sieben Minuten ist Sonnenuntergang.«

Als Mrs Schwebel endlich zufrieden war, gab sie das Zeichen, dass wir anfangen konnten. Dann unterbrach sie sich wieder und wandte sich Miriam zu.

»Oh, Mist«, sagte sie. »Das hab ich ganz vergessen. Miriam, geh mit Rachel nach unten und schalte das Licht im Keller ein, bevor die Sonne untergeht.«

Dann wandte sie sich an mich.

»Es hängt an einer Zeitschaltuhr und schaltet sich abends um elf von selbst aus. Aber wir wollen sichergehen, dass du heute Nacht genug Licht hast, damit du deinen Schlafanzug anziehen und es dir bequem machen kannst.«

»Oh«, sagte ich. »Ich hatte nicht vor, über Nacht zu bleiben.«

»Sie bleibt nicht über Nacht?«, fragte Mrs Schwebel Miriam.

»Natürlich bleibst du«, sagte Miriam. »Wie willst du dir die Kante geben und dann nach Hause fahren?«

Ihre Mutter lachte, widersprach ihr aber nicht.

»Morgen können wir ausschlafen, wenn die Jungs in die Synagoge gehen«, sagte Miriam und stand auf. »Dann essen wir alle zusammen schön zu Mittag, und du kannst ein paar von unseren Freunden kennenlernen, die vorbeikommen. Das sind schöne zwei Tage. Ohne Samstag ist es kein Sabbat.«

»Na ja, ich habe keine Klamotten zum Wechseln und gar nichts dabei, weil ich nicht daran gedacht habe … über Nacht zu bleiben.«

»Du kannst dir was von Ayala leihen«, sagte Mrs Schwebel. Dann wandte sie sich an Ayala.

»Rachel leiht sich ein paar von deinen Sachen, okay?«

Ayala warf ihr einen giftigen Blick zu.

Normalerweise hasste ich es, bei jemand anderem zu schlafen, vor allem, weil es hieß, dass ich weniger Kontrolle darüber hatte, was ich aß, aber auch weil ich allgemein Privatsphäre mochte. Ich schlief lieber zurückgezogen. Aber was konnte es für Miriam und mich bedeuten, wenn wir uns gemeinsam volllaufen ließen und ich über Nacht blieb? Ich war nervös, aber auf eine gute Art.

»Dann ist das also beschlossen«, sagte Mrs Schwebel. »Beeilt euch, Mädchen. Noch drei Minuten bis Sonnenuntergang.«