Kapitel 44

Miriam saß schon an der Bambusbar und nippte unter den bunten Lampen an ihrem Drink. Es war keine Scorpion Bowl, sondern irgendetwas anderes in einer Kokosnuss mit einem Schirmchen und einem Haufen Obst.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich hätte auch was für dich bestellt, aber mir war heute einfach nicht nach Scorpion Bowl, und ich wusste nicht, was du magst. Der Mai Tai ist gut und der Blue Hawaii auch.«

»Was trinkst du?«, fragte ich.

»Eine Piña Colada.«

»Sieht sahnig aus.«

»Keine Sahne, nur Kokosmilch. Wenn es Sahne wäre, könnten sie es nicht mit dem Fleisch servieren.«

»Ich nehme auch eine«, sagte ich.

Sie mied die Scorpion Bowl. Sie wollte sich nicht betrinken. Das hieß, sie versuchte, wachsam zu bleiben, weil sie Angst hatte, was passieren könnte, wenn sie sich zu sehr entspannte. Aber Moment mal, das war vielschichtiger. Hätte sie wirklich Angst davor, was zwischen uns passieren könnte, wäre sie gar nicht gekommen. Insgeheim wollte sie, dass etwas passierte. Und gleichzeitig überhaupt nicht. Sie war ich, wenn ich in eine Bäckerei ging und versuchte, mich nicht kopfüber in die Auslage zu stürzen. Oder ich analysierte einfach zu viel, und der Drink hatte überhaupt nichts mit ihren Gefühlen für mich zu tun.

»Du riechst gut«, sagte sie.

Ich grinste sie an, und meine Gedanken begannen wieder zu rasen. War das eines dieser zurückhaltenden kleinen Komplimente, die eine Person machte, wenn sie die andere Person nicht ermuntern wollte, ihr Avancen zu machen? Ich war eine Kobra, schlängelte hinter jedem ihrer Worte her.

Hör verdammt noch mal für eine Sekunde auf zu denken und versuch, Spaß zu haben, sagte ich mir.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie Spaß gehabt, erwiderte ich.

Das stimmte: Ich hatte eine ungute Beziehung zum Baum des Lebens. Ich goss ihn nicht richtig, stutzte ihn zu viel. Ich musste ihn düngen oder so was, Freude finden. Ich hatte gerade angefangen, mich selbst zu belehren, als Miriam sagte: »Hör mal, ich hab eigentlich gar keinen großen Hunger.«

»Oh«, sagte ich.

Ich muss am Boden zerstört ausgesehen haben.

»Tut mir leid«, sagte sie schuldbewusst. »Bestell du doch, was du möchtest, und ich esse ein bisschen davon.«

Das war Häresie! Sie wollte mich hier einfach allein durch die Speisekarte stolpern lassen? Was war mit unseren Stäbchenspielen? Mit unseren Soßenpartien? Ich brauchte ihr Selbstbewusstsein, ihre kulinarische Weisheit und auch ihren Schutz vor dem Urteil des Kellners. Ich konnte nicht zu viel bestellen. Aber man konnte nicht ins Golden Dragon kommen und nicht zu viel bestellen. So viel zum Thema Neuauflage unseres letzten Besuchs. Sie war vom Drehbuch abgewichen, und ich wollte nicht improvisieren.

Dann bemerkte ich, dass sie das Ruský Rouge trug. Sie gab mir ein Zeichen! Oder hatte es nichts zu bedeuten? Ich hatte Herzklopfen, und alles war unbeantwortbar.

»Der Lippenstift sieht hübsch an dir aus«, sagte ich.

»Danke«, sagte sie. »Ich habe herausgefunden, wie man ihn richtig aufträgt, und es hat nur vier verpfuschte Versuche gebraucht.«

»Ich finde es schön, dass du ihn trägst. Ich schenke dir gern Sachen.«

»Warum?«

Ich konnte mich nicht überwinden zu sagen, was ich sagen wollte, also: Weil ich mich in deiner Nähe einfach wohlfühle.

Deshalb sagte ich: »Ich weiß nicht. Einfach so.«

Ich beschloss, für ein Zeichen zu beten. Aber ich wusste nicht recht, wie man betete: noch so eine Unzulänglichkeit meiner jüdischen Schulbildung. Ich konnte mich erinnern, eine Miniatur-Laubhütte aus Vollkornkeksen, Zuckerguss und Süßigkeiten gebaut zu haben, wobei ich die Hälfte der Zutaten klaute und in meinen Rucksack stopfte, um sie später zu Hause in meinem Zimmer alle auf einmal aufzuessen. Aber nichts darüber, wie man richtig mit Gott sprach.

Ich stellte mir vor, wie ich googelte: Wie bringe ich einen Golem dazu, sich in mich zu verlieben? Vielleicht war Beten auch ohnehin genau das – kosmisches Googeln. In dem Fall konnte jedes iPhone eine Synagoge sein. Ich wünschte mir, ich könnte mit Rabbi Judah facetimen.

Der Kellner kam, und ich bestellte eine Pu-Pu-Platte und das gleiche Sesamhühnchen-Gericht wie beim letzten Mal und hoffte, Miriam würde es mit mir essen.

»Hattest du mal einen Freund?«, fragte Miriam, als der Kellner wieder ging.

»Ja natürlich!«, sagte ich lachend, als wäre das offensichtlich. Dann wurde ich nachgiebiger. Es war eine ehrliche Frage, und für Miriam war es durchaus möglich, dass ich noch nie einen hatte.

»Oh«, sagte sie.

»Du hattest noch keinen, oder?«, fragte ich. »Ich nehme mal an, das stimmt.«

»Nein«, sagte sie. »Natürlich nicht.«

»Was ist mit einer Freundin?«, fragte ich.

»Was meinst du?«, sagte sie.

»Ich meine, hattest du je eine Freundin?«

Sie wurde rot. Ich konnte erkennen, dass sie genau wusste, was ich meinte.

»Ich war natürlich schon mit Mädchen befreundet. Aber nie so

Und mehr sagte sie nicht. Sie sagte nicht Ich bin nicht gay oder Ich bin nicht lesbisch. Sie sagte nicht, das sei etwas, was sie auch in Zukunft nie haben könnte. Ich wagte es nicht, weiterzubohren.

Als die Pu-Pu-Platte kam, sagte sie mir, ich solle anfangen, wenn ich hungrig sei, dass sie nur ein bisschen essen werde. Die Lage wurde langsam tragisch. Es ging schließlich ums Teilen!

»Na ja, ich esse bestimmt nicht beide Egg Rolls«, sagte ich. »Also kannst du auch gleich eine davon nehmen.«

»Okay«, sagte sie und nahm sich eine Egg Roll. Als sie hineinbiss, schien sie sich ein bisschen zu entspannen. Dann lud sie mehr von der Platte auf ihren Teller.

Ich liebte es, ihr beim Essen zuzusehen, wie sie sich ein bisschen Soße von der Lippe leckte, wie sie sich die Finger leckte. Sie aß wie eine Frau, für die Essen kein Dilemma war, keine Turbulenz, keine Not. Aber während ich zusah, wie sie mit jedem Bissen ruhiger wurde, merkte ich, dass es nicht das Vergnügen allein war, das sie dazu trieb, so zu essen.

»Also, Jungen und Mädchen dürfen sich bei den Orthodoxen nicht berühren, auch nicht bei den modernen Orthodoxen, stimmt das?«, fragte ich sie.

»Das stimmt«, sagte sie.

»Also ist Küssen definitiv verboten, aber auch Umarmen und Händchenhalten.«

»Ja, ich halte definitiv mit Jungs nicht Händchen.«

»Was ist mit Mädchen? Dürfen sich Mädchen umarmen?«

»Mädchen dürfen sich umarmen.«

»Und an den Händen halten?«

»Natürlich, Freundinnen dürfen sich an den Händen halten, wenn sie wollen.«

Sie kniff die Augen zusammen, legte ihre Stäbchen ab.

»Ich war nur neugierig«, sagte ich. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dir solche Fragen stelle, oder?«

»Nein«, sagte sie und sah mir in die Augen.

Ich wollte wissen, ob Mädchen einander küssen durften. Aber ich sagte nichts. Stattdessen nahm ich einen Bissen Hühnchen. Es fühlte sich hart im Mund an, und ich wusste nicht so recht, wie ich es schlucken sollte. Ich kaute und kaute. Ich kaute es über den Moment hinaus, wo Kauen noch möglich schien. Dann kaute ich es noch ein bisschen länger.