Kapitel 45

»Ich glaube, ich mag Bette lieber als Audrey«, flüsterte ich Miriam im Schein der Kinoleinwand zu.

Alles über Eva hatte vor ungefähr einer Viertelstunde angefangen. Sie lutschte an einer Gummischnur aus der großen Tüte, die wir uns teilten. Außerdem hatten wir eine Tüte Erdnuss-M&Ms und beides im Becherhalter zwischen uns geparkt.

»Ich habe darüber nachgedacht«, flüsterte sie mit aus dem Mundwinkel baumelnder Gummischnur. »Bette ist innerlich und äußerlich hart, stimmt’s? Was in Ordnung ist. Super. Audrey wirkt äußerlich ein bisschen zerbrechlich, aber man weiß, dass sie innerlich hart ist. Wie ein Erdnuss-M&M. Sie ist besonderer.«

»Aber sollen Erdnuss-M&Ms nicht im Mund schmelzen und nicht in der Hand, oder so?«

»Jeder weiß, dass das nicht stimmt.«

»Ja, stimmt.«

Wir snackten weiter und schauten den Film. Dann flüsterte ich noch eine Frage.

»Was ist mit Händchenhalten im Kino?«

»Was?«, flüsterte sie zurück.

»Was ist mit Händchenhalten im Kino? Dürfen sich Mädchen im Kino an den Händen halten?«

Sie sagte lange nichts. Ich überlegte, ob sie die Frage einfach ignorieren würde. Jetzt war es mir peinlich, dass ich gefragt hatte – als hätte ich eine Grenze überschritten. Ich tat unschuldig und naiv, als wüsste ich nicht, was orthodoxe Mädchen tun durften. Aber die Leute hielten im Kino nicht Händchen, wenn es nichts Romantisches war. Das wusste jeder.

Etz chayim hi lamachazikim ba, vetomecheha me’ushar, dachte ich bei mir.

Auf der Leinwand saß eine schwarz-weiße Anne Baxter mit einer schwarz-weißen Marilyn Monroe auf einer Treppe und säuselte einem schwarz-weißen Gary Merrill zu: »Ich finde, es genügt schon der Applaus. Ich habe hinter der Bühne oft dem Beifall gelauscht. Er ist … wie eine Liebeswoge und flutet zärtlich vom Zuschauerraum über die Rampe.«

Plötzlich drehte sich Miriam zu mir. Ich spürte ihre Kopfbewegung, ihren Atem dicht an meinem Ohr.

»Ja«, flüsterte sie. »Mädchen dürfen sich im Kino an den Händen halten.«

Ich sah starr geradeaus auf die Leinwand und wagte nicht, mich zu rühren. Ich versuchte, sie aus dem Augenwinkel anzusehen, und es sah im Profil aus, als lächelte sie vielleicht. Ich war mir nicht sicher. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich einen Vorstoß wagen, wie es Typen bei mir gemacht hatten – das Ding mit dem Armausstrecken? Sollte ich so tun, als wollte ich nach einem M&M greifen, und dann einfach meine Hand auf ihre legen?

Ich zählte von zehn rückwärts und schob dabei meine Hand in Richtung der M&Ms. Doch als ich bei drei ankam, vermurkste ich meine Mission. Statt die Tüte zu umrunden und mein eigentliches Ziel anzusteuern, bekam ich Panik und griff stattdessen in die Süßigkeiten. Ich nahm ein paar und stopfte sie mir in den Mund. Dann holte ich meine Hand ins Basislager auf meinem Schoß zurück.

»Warum?«, flüsterte Miriam plötzlich.

»Warum was?«

»Warum willst du das wissen?«

Ich sah ihr im Schimmer der Leinwand ins Gesicht, breite Streifen aus Licht und Schatten flackerten auf ihrer blassen Haut. Sie war wie ein Mond, der im Schnelldurchlauf seine Zyklen abspulte.

»Oh«, sagte ich. »Weil – ich wollte deine halten.«

Und einfach so nahm ich ihre Hand.

Es war so aufregend, ihre Hand zu halten. Mit dieser schlichten Geste fühlte ich mich ihr näher als irgendjemand anderem. Ihre Hand in meiner zu spüren war von tieferer Intimität als jeder Sexualakt, als all meine früheren Lustperformances. Ich fühlte mich mutig, fürstlich, fiebrig bis ins Mark, elektrisiert bis in die Zehen. Ich hielt ihre Hand, und sie ließ es zu. Ich hatte gleichzeitig das Gefühl, Glück zu haben und sie in der Dunkelheit des Kinos beschützen zu müssen. Ich blieb komplett reglos. Ich war so still und mir so bewusst, dass wir hier so zusammen waren, dass jede noch so winzige Bewegung, die eine von uns machte, laut übertragen wurde: das Zucken ihres Fingers, das Geräusch, wenn sie schluckte. Ich hätte geschworen, ich konnte mein eigenes Blut hören. Der Film lief nicht mehr auf der Leinwand, sondern zwischen uns.

Dann ließ sie plötzlich los. Mein Arm fiel auf meinen Sitz. Eine Welle der Enttäuschung wogte in mir auf. Das Händchenhalten hatte sich angefühlt wie ein Ankommen, eine Antwort auf eine Frage, ein schallendes Ja. Aber das Fallenlassen meiner Hand wirkte wie eine weitere, endgültigere Antwort.

Na gut, dachte ich. Das war’s dann wohl.

Ich sah ihre Hand in der Tüte mit den Gummischlangen herumtasten. Hatte sie meine Hand nur losgelassen, weil sie eine Gummischlange wollte? Sie steckte das Ende der Süßigkeit in den Mund und kaute darauf herum. Dann griff sie wieder nach meiner Hand. Ich drückte Miriams Hand ein klein wenig, und die Funken in mir flammten wieder auf, jeder Zentimeter meiner Haut, jedes Haar auf meinem Kopf wie im Fieber.

Wir saßen sehr lange so da, ganz still, Miriams Hand in meiner. Keine von uns sah die andere an. Das einzige Zeichen für voneinander getrennte Persönlichkeiten war, wenn eine von uns kurz die Hand der anderen losließ, um in die Tüten zu greifen oder sich anders hinzusetzen. Das erste Mal, als ich ihre Hand losließ, um mich an der Stirn zu kratzen, hatte ich furchtbare Angst. Was, wenn sich, während meine Hand weg war, die Regeln änderten und ihre Hand plötzlich verboten war? Was, wenn sie nicht mehr da war, wo ich sie zurückgelassen hatte? Ich kratzte mich schnell am Kopf, dann schnappte ich ihre Hand, erleichtert, dass ich sie wiederhatte. Jedes Mal, wenn sich unsere Hände wieder vereinten, fühlte ich die Seligkeit noch mal ganz neu.

Ich hoffte, meine Hand war nicht zu feucht. Ihre wurde nie schwitzig. Ihre Haut war weich und pudrig, und ihre Textur erinnerte an Löschpapier von früher, an violette Zuckerpastillen, das Blütenblatt einer Teerose. Die Haut zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger bildete die trompetenförmige Öffnung einer Calla. Ganz sanft und langsam zeichnete ich mit dem Zeigefinger den Rand dieser Öffnung nach. Ich zeichnete vorsichtig und leicht, als wollte ich ein bisschen Pollenstaub davon sammeln. Als ich genug Pollen von der Öffnung gesammelt hatte, tauchte ich meine Finger behutsam in die Stelle, wo ihr Daumen und Zeigefinger sich zusammenrollten. Langsam drang ich in den Rachen dieser Blume ein, als wollte ich vorsichtig noch mehr Pollen aus dem Inneren herausheben.

In dem Moment, als ich in die Blume eindrang, fiel mir wieder ein, dass es überhaupt keine Blume war. Es war Miriams Hand. Und ich hatte gerade nicht nur ihre Hand gestreichelt, ich hatte mich in sie hineinbewegt – auf eine sanfte Art, eine beruhigende Art, aber auch auf eine unleugbar sexuelle Art. Ich hielt inne und ließ meine Finger in ihrer Blütenöffnung ruhen, in diesem süßen kleinen Loch, ohne zu drängen, ließ einfach meinen Finger da, damit sie etwas von dieser Fülle spüren konnte. Ich merkte, dass ich meine Zunge immer wieder von innen gegen die Zähne schnellen ließ wie einen Kolibriflügel – als wollte meine Zunge mein Finger sein und als wollte ich, dass ihre Hand etwas anderes von ihr sei. Meine Zunge fühlte sich wund an. Ich fragte mich, wie lange ich das schon machte.

Beim nächsten Mal, als sie nach einer Gummischlange griff, änderte sie die Ausrichtung unserer Hände. Jetzt formte ihre Hand keine kleine Blütenöffnung mehr, sondern meine rundete sich zu einem Kreis und ihre Finger waren das eindringende Objekt. Ich war überrascht, wie schwanzartig sich ihre Hand anfühlte, als sie in meiner ruhte: fett, hart, zufrieden, warm. Als sich der Schwanz bewegte, überlegte ich kurz, ob er versuchen würde, meine Hand zu ficken. Aber dann flachte sich ihre Hand wieder zu einer Hand ab, meine auch, und jeder ihrer Finger suchte die Haut meiner Handfläche.

Als sie meine Lebenslinie fand, strich sie sacht mit einem Finger daran entlang – eigentlich war es eher ein Kitzeln, auf und ab, als täte sie es gedankenlos, wahllos. Sie tat es auf die sanfteste Art – wie ein Geist einen Ort heimsucht, flüchtig, nur als Flattern wahrnehmbar. Das Kitzeln stimulierte mich so sehr, dass ich mich fragte, ob ich meine Kleidung durchweichte, ob etwas von mir auf dem Kinositz zurückbleiben würde.

Etz chayim hi lamachazikim ba, vetomecheha me’ushar, dachte ich.

Ich spürte jede Bewegung ihres Fingers da unten, und als sie sich dem Ende meiner Lebenslinie näherte, war es mir, als strich sie ganz leicht über meine Klit, als zeichnete sie meine inneren Lippen nach, auf und ab, als dränge sie fast, aber nie ganz in mich ein. Nein, sie drang noch nicht einmal nur fast in mich ein. So weit ging es nicht, nicht annähernd.