Ich stand in der Büroküche und trank Lipton, denn Ana hatte mir keinen Harney & Sons angeboten. Der Lipton war verdammt gut. Ich hatte vergessen, wie sehr ich Lipton liebte.
»Du wirkst glücklich«, sagte sie misstrauisch und pustete auf ihren Tee.
»O Gott, das ist ja schrecklich, so etwas kannst du doch zu niemandem sagen!«, sagte ich.
»Ich meine es ernst.«
Aber es stimmte. Ich konnte meine Freude nicht verbergen. Die Veränderung war offensichtlich. Ich gab Milch in meinen Lipton und normalen Zucker, viel davon, und verrührte alles mit einer schwungvollen und doch kreisförmigen Bewegung zu einem milchshakeartigen Gebräu. Von einem Meeting waren noch Kekse übrig. Ich nahm mir einen, tunkte ihn in den Tee und biss hinein.
»Sind die gut?«, fragte Ana mit gerümpfter Nase.
»Sie sind nicht schlecht«, sagte ich.
»Du bist glücklich«, sagte sie. »Jetzt erzähl mir, warum.«
»Kein wirklicher Grund«, sagte ich.
»Ach, komm schon! Das hat doch nicht etwa mit einem gewissen Jemand zu tun?«
»Jace?«, flüsterte ich. »Nein, den habe ich nicht gesehen.«
Sie sah enttäuscht aus.
Ich hatte Angst, ein Wort über Miriam zu sagen. Ich hatte ihr nie erzählt, dass ich Frauen mochte. Ich hatte den Verdacht, sie würde es nicht gut aufnehmen. Sie würde lachen und sagen, das sei nur eine Phase. Sie könnte sogar gemeine Sachen über Miriam sagen. Aber ich wünschte, ich könnte ihr erzählen, was los war. Ich wollte, dass sie wusste, wer ich war.
Meine Mutter hatte mich auch nie gekannt, aber nicht, weil ich ihr keine Chance gegeben hätte. Ich hatte ihr massenhaft Chancen gegeben. Das Traurigste war, dass sie mich anscheinend nicht kennen wollte, nicht so, wie ich im Inneren war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie kapierte, dass ich ein Inneres hatte, dass ich real war. Manchmal schien es unmöglich, dass sie mich überhaupt je geboren hatte. In anderen Momenten ergab es völlig Sinn, dass ich so lange in ihr gelebt hatte. Es erklärte, warum sie mich nur als eine Erweiterung von sich selbst sehen konnte.
Von meiner Mutter aus herrschte jetzt komplettes Schweigen, keine Kommunikation. Dennoch trug ich sie in mir: ihre Stimme, ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Vorstellungen von Essen, Körpern, der Welt, Frauen und Männern. Sie hatte sich vor langer Zeit auf Zellebene in mich eingepflanzt, sich in meinen Organen ausgebreitet – in meinem Gehirn, meinem Herz –, bis nicht mehr zu unterscheiden war, was ihres war und was meins.
Ich überlegte, ob es einen Stichtag gab, ab wann eine Person endlich aufhören musste, ihrer Mutter die Schuld für die eigenen Gedanken zu geben. In manchen Momenten meines Lebens hatte ich gedacht, ich hätte dieses Alter erreicht, und dann wieder und wieder. Mit neunzehn, zwanzig beschloss ich: Okay, das reicht. Du bist erwachsen. Wird Zeit, selbst die Verantwortung für dein Denken zu übernehmen. Mit einundzwanzig: Ich bin drüber weg. Mit zweiundzwanzig: Ich verstehe, warum sie getan hat, was sie getan hat. Mit dreiundzwanzig: Ich vergebe. Mit vierundzwanzig dieses auferlegte Schweigen. Aber was jetzt?
Mich selbst für frei zu erklären war eine Sache. Die Freiheit umzusetzen war eine andere. Allein beim Gedanken an Freiheit wurde mir schlecht, ich fühlte mich verloren, schwindlig, verirrt in einer gewaltigen Grenzenlosigkeit, null Mauern. Ich hatte Angst, einfach dahinzutreiben, frei, aber allein. Meine Berechnungen, egal, wie sehr sie mich von allem isolierten, hatten mir Gesellschaft geleistet. In diesem eingeschränkten Leben hatte ich Regeln, Grenzen, Gewissheit – selbst wenn allein schon die Vorstellung, innerhalb des unendlichen Mysteriums der menschlichen Existenz Gewissheit zu erreichen, in sich falsch war. Ich wollte Mauern. Ich wollte sie weich und wie einen Mutterleib, aber ich begnügte mich mit einer eisigen Gruft. Meine Mutter hatte mir geholfen, die Gruft zu bauen. Aber jetzt war es meine eigene.