Ich hatte mir gewünscht, das Sabbat-Mittagessen am Samstag genießen zu können, zusammen mit allen um den Tisch versammelten Schwebels. Aber der Tscholent schmeckte diesmal anders, fade. Ich fand ihn schwer zu schlucken und überlegte, ob das Gericht überhaupt mal Geschmack gehabt hatte.
»Schaut euch meinen Soldaten an«, sagte Mrs Schwebel und verwuschelte Adiv die Haare. »Tut Gottes Werk. Geistlich und körperlich.«
Was, dachte sie, tat Adiv in Israel? Wie konnte sie so sicher sein, was Gott von Soldaten und der Besatzung hielt?
»Wissen wir das wirklich?«, murmelte ich.
Miriam, die neben mir saß, stieß mich unter dem Tisch mit dem Bein an. Aber Mrs Schwebel hatte mich gehört.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Nichts«, sagte ich.
Alle am Tisch schwiegen. Sie sahen mich an. Ich spürte meinen Puls in den Schläfen.
»Bitte, Rachel«, sagte Mrs Schwebel ruhig. »Ich wüsste gern, was du gesagt hast.«
Ich holte tief Luft. Ein winziges Stück Gemüse flog von meinem Backenzahn in meinen Hals. Ich hustete es wieder in meinen Mund, dann schluckte ich es.
»Na ja, ich frage mich nur, woher wir das wissen können«, sagte ich. »Also, wirklich wissen. Was Gott will.«
»Gott möchte den Staat Israel beschützt wissen«, sagte sie. »Glaubst du nicht, dass Gott Israel beschützt wissen möchte? Glaubst du nicht, dass Gott will, dass Israel floriert?«
Was hatte ich getan?
»Ich meine nur … Ich habe wahrscheinlich nur Schwierigkeiten zu glauben, dass Gott glücklich ist, wenn Menschen leiden«, sagte ich. »Sie wissen schon. Mit der Besatzung und allem. Die Bedingungen in Gaza und all das.«
»Warst du in Gaza?«, fragte Mrs Schwebel.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Das dachte ich mir. Du hast uns erzählt, dass du noch nie in Israel warst.«
»Sie haben recht«, sagte ich.
»Also dann.«
Zufrieden machte sie sich wieder ans Essen.
Halt einfach den Mund, ermahnte ich mich.
Na gut, antwortete ich.
»Aber was ist mit der Geschichte des Landes?«, hörte ich mich selbst laut sagen. »Was für ein Gott soll glücklich sein, wenn er sieht, dass Hunderttausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben werden?«
»Rachel!«, sagte Miriam wütend.
Sie hatte den Zeigefinger im Mund und kaute an ihrem Fingernagel. Ich bemerkte, dass ihr Daumennagel und der Ringfinger auch bis auf die Haut abgekaut waren. Wann hatte sie angefangen, an den Nägeln zu kauen?
Mir dämmerte, Miriam könnte vielleicht gar nicht wissen, wie die Palästinenser vertrieben worden waren – vielleicht hatte sie nie etwas davon gehört. Mir hatte man das in meiner jüdischen Schule auch nicht beigebracht.
Mr Schwebel sah mir in die Augen. Es schien, als wüsste er, wovon ich sprach. Dann schaute er schnell wieder auf seinen Teller und stach seine Gabel in ein zartes Stück Rindfleisch.
»Es gibt etwas, das die Palästinenser Nakba nennen«, sagte ich. »Es bezieht sich darauf, wie sie aus ihren Häusern ins Exil getrieben wurden – als Israel ein Staat wurde. Das rückt die israelische Unabhängigkeit irgendwie in ein anderes Licht. Ich meine, mir hat man beigebracht, die Palästinenser hätten einen Krieg gegen uns angefangen. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Wenn du aus deinem Zuhause geworfen wirst, finde ich nicht, dass du einen Krieg anzettelst, wenn du zurückschlägst. Du verteidigst nur dein Zuhause.«
Am Tisch herrschte Schweigen. Adiv stand auf und ging ins Bad. Miriam kaute immer noch an ihrem Zeigefingernagel. Ich überlegte, ob ich diese Angewohnheit irgendwie auf sie übertragen hatte, ob sie sie sich bei mir eingefangen hatte.
»Das ist nicht wahr«, sagte Mrs Schwebel. »Ich weiß nicht, wo du diese Informationen herhast, aber das ist falsch.«
Ich war nie gut in Diskussionen gewesen, und ich konnte nicht genau sagen, woher ich meine Informationen hatte. Hauptsächlich aus dem Internet. Studenten für ein freies Palästina. Streitgespräche zwischen bekifften Leuten auf Collegepartys. Ein halbes Hörbuch mit dem Titel Umstrittene Vergangenheit: Der israelisch-palästinensische Konflikt einfach erklärt.
»Welchen Teil?«, fragte ich. »Dass sie nicht zuerst dort lebten? Dass sie nicht aus ihrem Land geworfen wurden? Dass es kein Angriff, sondern Verteidigung ist, wenn jemand versucht, sich zurückzuholen, was ihm gehört?«
»Alles«, sagte sie. »Das Land gehörte Großbritannien. Es gehörte niemandem sonst. Es gehörte den Palästinensern nicht mehr, als es den Christen gehörte, die dort lebten. Die Briten haben es uns geschenkt. Es war eine Wiedergutmachung für den Holocaust, weil wir sonst nirgends hinkonnten und weil es nie wieder passieren sollte, dass wir nirgends hinkonnten.«
»Aber dort haben Palästinenser gelebt«, sagte ich.
»Deshalb wurden sie umgesiedelt«, sagte Mrs Schwebel. »Na und? Das ist Geschichte. So ist das eben.«
»Ach ja?«, fragte ich.
»Sie hatten viel Zeit, Frieden zu schließen. Sie bekamen Land bei der Teilung, und sie beschlossen, es nicht anzunehmen. Sie beschlossen, zu bleiben und zu kämpfen. Sie zogen die restliche arabische Welt mit hinein. Und das ist es ja: Wenn die Palästinenser der arabischen Welt so wichtig sind, warum haben sie ihnen dann nichts von ihrem eigenen Land gegeben? Wenn sie ihnen so wichtig sind, warum hat Ägypten dann nicht einfach ein Stück für sie abgeschnitten? Weil die Palästinenser Ägypten in Wahrheit gar nichts bedeuteten. Das ist einfach nur Antisemitismus.«
»Na ja, ich weiß nicht«, sagte ich.
»Was weißt du nicht? Dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird? Wie wäre es, wenn du sofort deine Wohnung aufgeben würdest? Das Land hier hat früher einmal den amerikanischen Ureinwohnern gehört, aber ich sehe jetzt niemanden kommen, um es sich zurückzuholen. Erst wenn Israel und die Juden beteiligt sind, machen die Leute Stunk, weil sie einen Grund suchen, Juden zu hassen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Die arabische Welt schert sich kein Stück um die Palästinenser, sonst würden sie ihnen einen Streifen von ihrem Land abgeben. Israel ist nur so groß wie New Jersey. Warum sollten wir aufgeben müssen, was rechtmäßig uns gehört?«, fragte sie.
»Aber gehört es rechtmäßig uns?«
Sie ignorierte meine Frage.
»Die Leute stellen sich nur auf die Seite der Palästinenser, weil sie die Juden hassen. Das ist die Wahrheit. Das gilt für jeden, der glaubt, Israel habe kein Existenzrecht.«
Jetzt schwieg ich. Adiv war immer noch im Bad. Miriam nahm ihr Glas und trank einen Schluck Wasser. Ihre Nagelhaut blutete. Sie mied meinen Blick.
»Lass mich dich etwas fragen«, fuhr Mrs Schwebel fort, »hasst du dich selbst? Denn ich kann mir nicht vorstellen, warum du sonst die Gegenseite wählen solltest. Mein Verdacht ist, das tust du. Du hasst dich selbst. Das muss es sein, warum würdest du dich sonst gegen dein eigenes Volk stellen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht hasse ich mich wirklich. Aber ich weiß, es ist komplizierter. Ich will nur … ich will nur wissen, was richtig ist, was die Wahrheit über diesen Teil der Welt ist. Ich habe das Gefühl, die Wahrheit nie gekannt zu haben.«
»Hasst du deine Familie? Hasst du uns?«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Natürlich hasse ich Ihre Familie nicht. Ich bin wirklich gerne hier. Ich bin dankbar, hier sein zu dürfen. Ich liebe es, wie Sie kochen und wie sich dieses Haus anfühlt und wie Sie mich als Jüdin willkommen geheißen haben.«
»Vielleicht war das dumm von uns«, sagte sie, »dich mit so offenen Armen willkommen zu heißen. Du hältst die Gastfreundschaft, die wir dir entgegenbringen, für selbstverständlich. Du findest, Israel sei nur eine Idee, mit der du herumspielen kannst. Aber du weißt nicht, wie es war, bevor es existierte, als es keinen Ort gab, kein Heimatland für die Juden. Was glaubst du, wie es damals war? Nein, ich bin mir sicher, du hasst dich selbst – und noch mehr musst du uns hassen.«
»Das tue ich nicht«, sagte ich. »Das stimmt nicht. Ich hasse Sie nicht.«
Ich holte tief Luft. Dann legte ich die Hand auf Miriams, auf ihre blutende.
»Ich habe Sie seit dem Tag gemocht, als ich Sie kennengelernt habe«, sagte ich und sah Mrs Schwebel direkt in die Augen.
Miriam zog ihre Hand unter meiner hervor. Sofort tat es mir leid, dass ich es getan hatte.
Das hatte ich nicht geplant. Ich war mutig, aber es war nicht an mir, mutig zu sein. Ich war mutig gegenüber der Familie einer anderen, es war das Gebiet einer anderen, nicht mein eigenes. Ich beanspruchte eine Person, die nicht beansprucht werden wollte. Ich war mutig, aber unter den falschen Bedingungen. Ich hatte noch nicht einmal meiner eigenen Mutter von Miriam erzählt.
»Ich glaube, du solltest gehen«, sagte Mrs Schwebel.
»Bitte«, sagte ich. »Bitte, es tut mir leid.«
Ich hatte das Gefühl, gleich weinen zu müssen. Miriam sagte kein Wort zu meiner Verteidigung, aber ich weiß auch nicht, was ich von ihr erwartet hatte. Ich an ihrer Stelle hätte auch nicht gewusst, was ich tun soll. Mr Schwebel stand vom Tisch auf. Ayala folgte ihm in die Küche.
»Du hast den Sabbat verdorben«, sagte Mrs Schwebel. »Ich bitte dich noch einmal im Guten: Geh bitte.«
Endlich sah mir Miriam in die Augen.
»Es tut mir so leid«, sagte ich zu ihr, dann senkte ich den Blick auf meine Hände.
Ein winziger Blutfleck, so groß wie eine Wimper, hatte sich von ihrem Finger auf meine Handfläche übertragen.
»Geh einfach«, sagte sie.