D er fünfzehnjährige Junge, der an einem verregneten Nachmittag Ende April 1945 in Essen-Rüttenscheid mit dem Rad von der Arbeit heimfuhr, beugte sich tief über den Lenker. Es war eine Art Reflex, er war machtlos dagegen. Ihn überkam zwischendurch immer wieder die Angst vor den Stukas, obwohl schon seit Wochen keine mehr flogen. Der Krieg war endlich vorbei, jedenfalls hier im Westen, trotzdem ließ die Angst sich nicht abschütteln.
Davon abgesehen war der Junge heilfroh, den ganzen Mist überlebt zu haben. Zuletzt waren immer mehr aus seinem Jahrgang als Flakhelfer eingezogen worden, er hatte einige gekannt. Reihenweise waren sie von den tödlichen Artilleriegeschossen der Alliierten in Stücke gerissen worden. Wie die hätte er auch enden können, als letztes Kanonenfutter für Adolf Hitler, doch der hatte zum Glück nichts mehr zu melden. Jetzt konnte man wieder nach vorne schauen, zumindest sagten das alle.
Dankbar war der Junge auch für den alten Drahtesel, mit dem er zur Arbeit fahren konnte. Er hatte seit Kurzem eine Lehrstelle, und zu Fuß hätte er hin und zurück Stunden gebraucht. Auch mit dem Rad war es wegen der Steigungen oft beschwerlich, aber er kriegte es jedes Mal hin. Da, wo es nötig war, trat er ordentlich in die Pedale, und auch bei den steilsten Stellen strampelte er sich lieber im Stehen ab, als vom Rad zu steigen und zu schieben. Das war für ihn Ehrensache. Außerdem ging es überall dort, wo er sich bei der Hinfahrt plagen musste, zum Ausgleich auf dem Heimweg in einem Affenzahn bergab, dann machte das Fahren richtig Spaß.
An diesem Nachmittag nieselte es in einer Tour. Der Junge fuhr mit eingezogenem Kopf, als könnte er so verhindern, allzu sehr durchnässt zu werden. Während er in Richtung Margarethenhöhe radelte, wurde der Regen stärker und peitschte ihm ins Gesicht, weshalb er fast in eine Gruppe von Männern hineingerast wäre. Er konnte gerade noch rechtzeitig abbremsen.
Die Männer brüllten durcheinander, sie schrien ihn an, obwohl doch überhaupt nichts passiert war. Einer baute sich drohend vor ihm auf, einen Knüppel in der Hand. Ein anderer richtete ein Gewehr auf ihn. Einige von ihnen waren Polen, das erkannte der Junge an ihrer Sprache. Die Stadt war voll von befreiten Zwangsarbeitern aus dem Osten, allesamt abgerissen, zerlumpt und verhärmt, manche halb verhungert. Neulich erst war ein Pole bei ihnen zu Hause aufgetaucht, er hatte um Essen gebettelt und dabei geweint. Die Mutter hatte ihm einen Teller Suppe gegeben, und der Mann hatte ihr auf Knien gedankt. Eine unerklärliche, brennende Scham hatte den Jungen bei dem Anblick erfüllt, fast so, als hätte er irgendwas Schlimmes angestellt. Etwas, für das er persönlich geradestehen musste, obwohl es nicht seine Schuld war.
An dieses Gefühl musste er denken, als er auf Geheiß eines der Polen sein Rad am Straßenrand ablegte. Halb und halb erwartete er, dass sie ihn nun davonjagten, aber dazu kam es nicht. Anscheinend hatten sie es gar nicht auf sein Fahrrad abgesehen. Sie führten irgendwas anderes im Schilde. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun.
Die Männer scheuchten ihn unter barschen Befehlen und einigen rüden Schubsern vorwärts, weg von der Straße und hinab in eine bewaldete Senke. Dort hatten sich, zusammengetrieben von weiteren bewaffneten Polen, auch schon andere Zivilisten eingefunden, ein Häuflein verängstigt wirkender Männer unterschiedlichen Alters.
Panik stieg in ihm auf, als er sah, was sie dort taten: Sie hoben Gräber aus. Manche mit Schaufeln, die meisten jedoch mit bloßen Händen.
Einer der Polen stieß ihn vorwärts und befahl ihm mit einer unmissverständlichen Geste, ebenfalls zu graben. Der Junge verharrte, starr vor Schreck und außerstande, auch nur einen Finger zu rühren, woraufhin der Pole ihm schweigend den Gewehrlauf gegen die Stirn drückte. Augenblicklich ging der Junge in die Hocke und begann, mit beiden Händen Lehmbrocken aufzuklauben und zur Seite zu werfen, davon überzeugt, dass er und die anderen Deutschen sich hier buchstäblich ihr eigenes Grab schaufeln mussten. In einer Aufwallung von selbstmörderischem Trotz überlegte er, einfach wegzurennen, dann würden die Polen ihn gleich abknallen, so konnte er sich wenigstens das Graben sparen und hätte sofort alles hinter sich.
Von den anderen Deutschen schien allerdings noch keiner auf diese Idee gekommen zu sein. Sie gruben und schaufelten ohne Unterlass. Einige von ihnen weinten und schluchzten dabei zum Gotterbarmen. Reden durften sie nicht. Sobald einer aufbegehren wollte, setzte es Knüppelhiebe.
Der Junge fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, er konnte nichts anderes tun, als zu graben, immer nur zu graben. Seine Finger bluteten, wiederholt riss er sich die Haut an scharfkantigen Steinen auf.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er bereits dort gehockt hatte, den Blick fest auf seine wühlenden, blutenden, verdreckten Hände geheftet, bevor er endlich aufschaute und dabei bemerkte, dass nicht alle Deutschen um ihn herum mit dem Ausheben von Gräbern beschäftigt waren. Schaufeln und buddeln mussten alle, vielleicht war es ihm deshalb nicht gleich aufgefallen. Ein Teil der Männer, die ein Stück abseits von ihm beschäftigt waren, gruben … etwas aus. Nicht nur an einer Stelle, sondern an mehreren. Verteilt über die ganze Senke, die nach Form und Ausdehnung nur ein zugeschütteter Bombentrichter sein konnte.
Als er erkannte, was die Männer da aus der Erde holten, kam es ihm hoch. Plötzlich konnte er auch den grauenhaften Gestank zuordnen, der trotz des Regens immer stärker geworden war. Und dann fing auch er an zu weinen.
Er hatte schon viele Tote gesehen. Nach schlimmen Bombennächten hatten sie überall inmitten der Trümmer gelegen, zerfetzt, verbrannt, von manchen nur Körperteile übrig.
Doch die Menschen, die man hier ausgrub, waren nicht bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Man hatte sie erschossen, mit auf dem Rücken gefesselten Händen.
»Die verdammten Polacken, jetzt wollen sie uns diesen Mist anhängen!«, hörte er einen der Deutschen laut sagen.
Dafür setzte es einen weiteren Knüppelhieb, gefolgt von einer erneuten Salve aus einer MP , die dicht über die Köpfe der Deutschen hinwegfegte. Danach sagte lange niemand mehr ein Wort.
Die Männer gruben Stunde um Stunde. Um achtzehn Uhr hätten eigentlich alle daheim sein müssen, ab da galt für die Zivilisten Sperrstunde, doch die Arbeiten gingen weiter. Ein Leichnam nach dem anderem wurde aus dem Morast geborgen und am Rand der Grube abgelegt. Es waren Dutzende. Der Gestank, der von den verwesten, schlammbedeckten Körpern aufstieg, war unbeschreiblich. Der Junge, der mittlerweile seinen gesamten Mageninhalt von sich gegeben hatte, konnte nicht aufhören zu würgen, obwohl er sich, dem Beispiel einiger anderer Männer folgend, sein Taschentuch vor Mund und Nase gebunden hatte.
Eine der Leichen war eine Frau, er entnahm es dem Raunen, das durch die Reihen der Deutschen ging, und wieder musste er weinen. Inzwischen war ihm klar, dass die Gräber, die er hier zusammen mit den anderen Männern aushob, für diese Toten bestimmt waren. Wenn man nach dem Zorn der Polen ging, konnte es sich bei den erschossenen Menschen nur um Zwangsarbeiter handeln. Ihre Landsleute und Leidensgenossen, die man hier umgebracht und wie Tiere verscharrt hatte.
Der Junge hätte wütend sein können, weil er unter vorgehaltener Waffe so eine Drecksarbeit verrichten musste, obwohl er doch mit diesem Schlamassel überhaupt nichts zu tun hatte, genauso wenig wie die anderen hier. Doch er fühlte nur Erschöpfung und Trauer. Und eine ähnliche Scham wie neulich, als seine Mutter dem hungernden Polen die Suppe gegeben und der Mann zum Dank auf die Knie gefallen war.
In diesem Moment begriff der Junge, was es mit dieser Scham auf sich hatte. Was für ein Gefühl es in Wahrheit war. Schuld.
Er dachte darüber nach, wieso er sich schuldig fühlte, obwohl er selbst doch gar nichts getan hatte, und die ganze Zeit musste er weinen. Manchen der Männer schien es ebenso zu ergehen wie ihm, in ihren Zügen nahm er dieselbe entsetzte Betroffenheit über den Tod dieser Menschen wahr, die auch er verspürte.
Doch in den Gesichtern von mindestens ebenso vielen spiegelte sich nur die verbissene Wut über das Unrecht wider, das sie hier erlitten.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit durften die Deutschen nach Hause gehen, verbunden mit dem Befehl, am nächsten Tag wiederzukommen und weiterzumachen. Die persönlichen Gegenstände, die man ihnen vor der Arbeit weggenommen hatte, wurden einbehalten. So wollten die Polen sicherstellen, dass die Deutschen dem Befehl Folge leisteten.
Der Junge hatte keine Brieftasche und keinen Ausweis dabeigehabt, nur das Rad. Als er endlich spätabends müde und verstört heimkam, brach seine Mutter vor Erleichterung in Tränen aus. Nachdem er alles berichtet hatte, verbot sie ihm kategorisch, zu dem Massengrab zurückzukehren. In gewisser Weise war er froh, weil ihm so die Entscheidung darüber abgenommen wurde, auch wenn das fortan elendig lange Fußwege bedeutete.
Tatsächlich sah er sein Rad nie wieder. Vielleicht, so überlegte er später, war auch das eine Form von Buße. So wie das Graben. Jedenfalls half es ihm, sich weniger schuldig zu fühlen. Zugleich keimte auf unbestimmte Art die Gewissheit in ihm auf, dass die nach dem Krieg zurückgebliebene Schuld in ihrer Gesamtheit so gewaltig war, dass nichts und niemand sie jemals wiedergutmachen konnte.