C arl ging mehrmals um die Tote herum und betrachtete sie aus jedem nur möglichen Blickwinkel. Zwischendurch begab er sich auch in die Hocke, um manche Stellen näher in Augenschein nehmen zu können. Der Polizeifotograf machte auf seine Anweisung hin einige Fotos.
Die Frau hieß Adelheid Hoffmann. Weibliche Leiche, hatte Carl in den ihm eigenen unleserlichen Kürzeln in sein abgewetztes Notizbuch gekritzelt. Alter zwischen 60 und 70 . Fenstersturz.
Sie war in der Nacht von Mietern ihres Hauses gefunden worden, offenbar kurz nachdem sie gestorben war. Die Leichenstarre war mittlerweile weit fortgeschritten, das Blut auf den Steinen fast vollständig getrocknet. Der Polizeiarzt war bereits vor Ort gewesen und hatte Carls vorläufige Einschätzung bestätigt. Carl wartete nur noch auf den Bestatter, der die Tote abholen sollte.
Das Grundstück der Verstorbenen lag in Essen-Rüttenscheid. Das Haus, hinter dem man ihre Leiche entdeckt hatte, ragte in seltsamer Unversehrtheit als einziges der näheren Umgebung aus einer Trümmerlandschaft hervor, mit drei intakten Stockwerken und einem unbeschädigten Dach. Die benachbarte Umgebung war verwüstet, nur dieses Haus hatte den Sturm der Vernichtung überstanden. Lediglich der hinterm Haus befindliche Garten war zerstört; er lag immer noch unter einem Berg von Schutt begraben – den Hinterlassenschaften eines Gebäudes in der dahinter verlaufenden Parallelstraße.
Die Fenster des Hauses waren wohl bei einer der vielen Bombardierungen zersprungen; die Scheiben sahen noch ziemlich neu aus. Der Rest des Hauses wirkte dagegen verwittert und teilweise verwahrlost, mit abgeplatztem Putz und dunklen Einfärbungen vom allgegenwärtigen Essener Kohlenstaub. Auch der Schriftzug auf dem großen Schild über der Eingangstür war stark in die Jahre gekommen.
Zur grünen Linde stand dort; früher war hier eine Kneipe betrieben worden, doch die war inzwischen geschlossen. Das Haus war bis in den letzten Winkel belegt, teilweise mit regulären Mietern, teilweise mit ehemaligen Zwangsarbeitern, Vertriebenen aus dem Osten und anderen Displaced Persons, darunter auch Kinder.
Ein gutes Dutzend der Bewohner hatte sich in der Nähe der Toten versammelt, und Carl hatte den deutlichen Eindruck, dass keiner der Anwesenden der alten Frau auch nur eine Träne nachweinte. Im Gegenteil, der eine oder andere schien es ganz in Ordnung zu finden, wie sie da lag, mit geborstenem Schädel und in einer Lache aus gestocktem Blut.
Carl blickte zu dem offenen Fenster im ersten Obergeschoss hoch. Wäre sie auf einer Wiese gelandet, hätte sie den Sturz mit einigem Glück überleben können, aber sie war mit dem Hinterkopf direkt auf einem großen, kantigen Mauerbrocken aufgeschlagen.
Carls Kollege Werner gesellte sich zu ihm. Wie Carl war er achtunddreißig, wirkte aber um einiges älter und erschöpfter. Das Leben hatte ihm übel mitgespielt, er hatte in den letzten Wochen des Krieges seine ganze Familie bei einem Bombenangriff verloren. Frau und zwei Kinder, alle in derselben Nacht gestorben. Damals war sein Haar in nur wenigen Tagen so grau geworden wie Asche. Heute, über drei Jahre später, litt er immer noch wie ein Hund. Die Arbeit war das Einzige in seinem Leben, das ihn aufrecht hielt. Seine Gesundheit war ihm gleichgültig. Er betrank sich regelmäßig und rauchte zu viel; in ihrer Abteilung argwöhnte man hinter vorgehaltener Hand, dass Werner sich zur Befriedigung seiner Sucht ab und zu bei den beschlagnahmten Asservaten aus den Schwarzmarktrazzien bediente. Auf legalem Weg kam heutzutage niemand mehr an Alkohol und Zigaretten, jedenfalls nicht in solchen Mengen, wie Werner sie verbrauchte.
An diesem Tag wirkte er besonders mitgenommen. Die Jacke schlotterte um seine mageren Schultern, die Augen lagen tief in den Höhlen. Seine rechte Wange war dick geschwollen, ein entzündeter Weisheitszahn, der ihm schon seit Wochen zu schaffen machte.
»Wolltest du heute nicht endlich zum Zahnarzt?«, fragte Carl ihn.
»Vorhin erledigt. Das Biest ist draußen.«
»Du siehst fertig aus.« Carl betrachtete ihn besorgt. »Wieso hast du dich nicht krankschreiben lassen?«
»Hab ich ja.«
»Und weshalb kommst du dann her?«
»Weil ich die Frau kenne.«
Carl sah ihn erstaunt an. »Du kennst sie?«
»Ja. Das heißt, nicht persönlich. Aber dafür ihren Sohn. Sie ist – war – die Mutter von Arnold Hoffmann.«
Arnold Hoffmann. Carl durchforstete sein Gedächtnis, bis er das passende Bild vor sich hatte. Ein großer, gut aussehender Bursche, vielleicht sechs oder sieben Jahre jünger als er. Sie waren sich im Präsidium in der Büscherstraße nur sporadisch über den Weg gelaufen, weil sie in unterschiedlichen Abteilungen gearbeitet hatten.
»Ich entsinne mich dunkel«, sagte er. »Der hat vierunddreißig angefangen, oder? Muss ein paar Monate vor meinem Rausschmiss gewesen sein.«
Wie immer, wenn er darüber sprach, musste er gegen den alten Groll ankämpfen. Elf Jahre seines Lebens. So viel hatte ihn dieser beschissene Ariernachweis gekostet, den er nicht hatte liefern können. Elf verfluchte Jahre unter Tage auf dem Pütt. Bis die Alliierten ihn wieder eingestellt und gleichzeitig viele andere rausgeworfen hatten, die zu braun für einen Persilschein gewesen waren.
Carl vermutete, dass auch Arnold Hoffmann dieses Schicksal widerfahren war. »Was ist aus dem Kerl geworden?«, erkundigte er sich bei Werner.
»Der hat Karriere bei der SS gemacht und ist kurz vor Kriegsende untergetaucht. Wurde später von einem britischen Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt.«
»Was hat er angestellt?«
»Drei Dutzend Zwangsarbeiter umgebracht, bei einer Gestapo-Sonderaktion. Das war im März fünfundvierzig, kurz vor dem Einmarsch der Alliierten. Das Massengrab wurde ein paar Wochen später entdeckt, von Polen und anderen Ostarbeitern. Die haben dann wahllos ein paar Deutsche auf der Straße aufgegriffen und sie gezwungen, die Leichen auszubuddeln. Stand damals in allen Zeitungen, hast du nicht davon gehört? Kam sogar im Radio.«
»Natürlich hab ich davon gehört. Aber Arnold Hoffmanns Name wurde dabei nicht erwähnt.«
»Dass er bei der Ausführung der eigentliche Haupttäter war, kam ja auch erst später raus, durch die Zeugenaussagen im Prozess. Der Kerl wird von den Tommys immer noch mit Hochdruck gesucht. Und von uns auch. Auf den Revieren hängt sogar ein Steckbrief von ihm.« Werner grinste ein bisschen schief. »Es ist eine Belohnung für seine Ergreifung ausgesetzt. Fünftausend Mark.«
Das kommentierte Carl nicht weiter. Die Wände aller Essener Reviere waren deckenhoch mit Steckbriefen tapeziert, doch die Belohnungen lockten keinen mehr hinterm Ofen hervor. Es existierte praktisch nur noch eine einzige solide und überall akzeptierte Währung: Zigaretten, vorzugsweise amerikanische.
»Und das ist also Arnold Hoffmanns Mutter?« Carl blickte auf die Tote, die hingestreckt in den Trümmern lag. Eine unscheinbare, schmale Person mit faltigem Gesicht und spitzem Kinn, doch sogar die vom Alter verkniffenen Züge ließen noch erahnen, dass sie in jungen Jahren wohl eine Schönheit gewesen war. Das nun fahle Haar einst glänzend blond, die im Tod gebrochenen Augen von einem klaren Blau, die Gestalt angenehm proportioniert. Ihre Kleidung wirkte solide, jedenfalls weit hochwertiger als die ihrer zahlreichen Mitbewohner. Sie war auch nicht so abgemagert wie alle Übrigen hier. Es schien, als hätte sie trotz der elenden Umstände in den letzten paar Jahren ihr Auskommen gehabt.
Werner musterte die Leiche. »Ich frage mich, ob Arnold es schon weiß.«
»Das würde voraussetzen, dass er wiederaufgetaucht ist.«
»Das trifft anscheinend zu.«
Carl nahm es überrascht zur Kenntnis. »Woher weißt du das?«
»Er wurde hier in der Gegend gesichtet. Irgendwer war gestern wohl auf der Wache und hat’s erzählt. Hab davon erfahren, als ich vorhin meine Krankmeldung abgegeben habe. Deshalb bin ich ja auch gleich hergekommen, statt nach Hause zu gehen.« Werner warf einen Blick auf den Polizeifotografen, dann deutete er auf die Leiche. »Wieso sieht es eigentlich für dich nach Mord aus? Könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein? Beim Fensterputzen? Kommt häufig vor. Gerade bei älteren Frauen.«
»Ich war oben in ihrer Wohnung. Kein Putzeimer am Fenster, kein Stuhl zum Draufsteigen, nichts von dem, was man zum Fensterputzen so braucht. Und sieh dir an, was sie in der Hand hat. Es ist kein Wischlappen, falls du das angenommen hast.«
Werner beugte sich über die Leiche. »Ein Kartoffelsack«, stellte er fest. »Ist aber nur noch eine Kartoffel drin. Wo der Rest wohl ist?« Er blickte zu Carl hoch. »Ein Raubmord? Manche Leute bringen sich ja für weniger als ein paar Kartoffeln gegenseitig um.« Er hielt inne und dachte kurz nach. »Vielleicht wurde die eine Kartoffel auch nur übersehen«, mutmaßte er. »Von denen, die die Frau als Erste entdeckt und die restlichen Kartoffeln eingesammelt haben.«
»Verdenken könnte man’s sicher niemandem.« Carl sah zu den Schaulustigen hinüber, von denen keiner den Eindruck machte, als hätte er genug zu essen.
Einige tuschelten miteinander. Zwei Kinder kletterten voller Neugier auf eine benachbarte Schutthalde, um die Tote besser betrachten zu können. Eine Frau unter den Zuschauern rief sie mit scharfen Worten in schlesischer Mundart zurück. Die Leute, die dort herumstanden, stammten aus den unterschiedlichsten Gegenden, wie Carl vorhin bei der Aufnahme der Personalien festgestellt hatte. So, wie sie redeten, kam die Hälfte vielleicht von hier, der Rest war zugezogen. Oder genauer: geflohen, entwurzelt, gestrandet. Wenn sie so wie jetzt beisammenstanden und sich grüppchenweise unterhielten, tönte es an sein Ohr wie babylonisches Sprachengewirr. Osteuropäische Landstriche waren ebenso vertreten wie diverse deutsche Mundarten, und zwischendurch immer wieder das vertraute Platt aus dem Ruhrgebiet. Ein Teil der Menschen wohnte im Haus, andere in den Ruinen der Nachbarschaft, wieder andere waren einfach nur Passanten.
Werner war seinem Blick gefolgt. »Denkst du, dass einer von denen …?«
Carl hob die Schultern. »Bisher gibt’s dafür noch keine Anhaltspunkte. Direkt bezeugen kann keiner was, ich habe schon mit allen kurz gesprochen.«
»Sonst irgendwas Verwertbares an Spuren?«
»In der Wohnung lag ein Fahrschein für die Straßenbahn auf dem Fußboden, den habe ich vorsorglich sichergestellt. Vielleicht sind brauchbare Abdrücke drauf.«
»Würde mich nicht wundern, wenn es die von Arnold wären. Ist schon seltsam, dass er plötzlich wiederauftaucht, und am nächsten Morgen ist seine Mutter tot.«
Carl pflichtete ihm bei. »Zumal es in ihrer Wohnung passiert ist. Was darauf hindeutet, dass sie den Täter kannte, sonst hätte sie ihn wohl kaum reingelassen.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte Werner zu. »Sicher ist Arnold unser Mann. Vielleicht hat ihn ja jemand aus dem Haus oder in der Nachbarschaft gestern hier gesehen, man sollte den Leuten noch mal richtig auf den Zahn fühlen. Soll ich einen Teil der Befragungen übernehmen?«
»Gerne, aber nicht heute. Geh nach Hause und leg dich hin. Hier kippst du mir bloß aus den Latschen.«
»Du hast recht, ich war schon besser in Form«, stimmte Werner zu. Seine Backe war mittlerweile noch stärker angeschwollen, er konnte nur noch nuschelnd sprechen und hatte ersichtlich Schmerzen. Trotzdem hielt ihn das nicht davon ab, eine zerdrückte Zigarette aus der Jackentasche zu nesteln und sie anzuzünden. In tiefen Zügen inhalierend, ging er davon. Dabei fasste er noch einmal die herumstehenden Menschen ins Auge, als könnte er auf diese Weise den Täter dingfest machen. Was nicht einmal fernlag. Es war eine bekannte Tatsache, dass es Mörder oft zurück an den Tatort zog, sogar – oder erst recht – wenn gerade die Polizei da war. Ein Grund, warum Carl die Leute nicht weggeschickt, sondern an Ort und Stelle ihre Namen notiert hatte. Seither hatte auch er immer wieder unauffällig seine Blicke über die Schar der Beobachter schweifen lassen. Hatte Gesichter fixiert und auf Regungen geachtet. Dabei waren ihm drei Männer aufgefallen. Sie standen dicht beieinander und unterhielten sich leise, zwei jüngere, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, und ein älterer mit schlohweißem Haar – er war einer von den Mietern, die den Leichnam entdeckt hatten. Sie wohnten alle drei im Haus der Verstorbenen. Ab und zu schaute einer von ihnen zu Carl herüber, nur um sofort wieder wegzusehen, wenn er den Blick erwiderte.
Diese drei würde er sich auf jeden Fall gleich als Erstes vornehmen.
Der Bestatter traf ein, um die Leiche abzuholen. Carl vervollständigte seine Notizen und schickte den Fotografen weg. Dann ging er hinüber zu den Schaulustigen.
Er wollte gerade mit den Befragungen anfangen, als er Werner vorm Haus stehen und mit einem Mann reden sah, den Carl erst auf den zweiten Blick als seinen früheren Vorgesetzten wiedererkannte – nicht etwa, weil ihre letzte Begegnung so lange zurücklag, sondern weil der Mann sich stark verändert hatte. Einst kräftig, beinahe rundlich, war er jetzt fast genauso hager wie Werner. Das Haar, schon früher recht schütter, zog sich nur noch als spärlicher Halbkranz um seine spiegelnde Glatze. Die asketischen Gesichtszüge und die scharfen Falten um Mund und Nase zeugten von jahrelanger Entbehrung. Doch seine Körperhaltung war straff und aufrecht wie ehedem.
Der unerwartete Anblick dieses Mannes traf Carl wie ein Schlag in den Magen. Eben hatte er noch daran gedacht, wie viele Polizeibeamte mit NS -Vergangenheit vor drei Jahren von den Alliierten aus dem Dienst entfernt worden waren, und auf einmal stand dort einer von denen.
Schneider war ein glühender Anhänger von Adolf Hitler gewesen und hatte keinen Hehl daraus gemacht. Nie war er ohne sein Parteiabzeichen am Revers zur Arbeit erschienen. Das überdimensionierte Bild des von ihm verehrten Führers an der Wand hinter seinem Schreibtisch hatte einen förmlich erschlagen, wenn man den Raum betrat. Er hatte jeden angeraunzt, der nicht vorschriftsmäßig den Arm zum Hitlergruß hochriss.
Trotzdem hatte Carl damals nicht damit gerechnet, dass ihm so viel kalte Verachtung entgegenschlagen würde, als er Schneider von seinem jüdischen Großvater erzählt hatte. Schließlich hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon fast acht Jahre lang zusammengearbeitet. Schneider war sein Ausbilder gewesen. Sie hatten einander geduzt, so wie die meisten auf der Dienststelle es taten. Privat hatten sie nichts miteinander zu tun gehabt, aber dienstlich war Carl immer einigermaßen mit Schneider zurechtgekommen. Bis zu jenem Tag, an dem alles vorbei gewesen war. Von Schneider gab es kein Mitleid, kein Bedauern, kein freundliches Wort zum Abschied. Für diesen Mann waren die Rassegesetze nicht nur irgendwelche bürokratischen Vorschriften, sondern heilige Gebote.
Die Alliierten hatten ihn direkt nach Kriegsende eingebuchtet; es hieß, dass er bei einem Teil der Judentransporte, die vom Essener Hauptbahnhof abgingen, die Aufsicht geführt hatte. Wegen guter Führung war er vorzeitig freigekommen, hatte aber seither keine neue Anstellung gefunden und lebte von der Hand in den Mund. Jetzt war er Anfang fünfzig und beruflich erledigt. Ohne Bezüge oder anderweitiges Einkommen hauste er bei seiner verwitweten Schwester in einem teilweise zerbombten und völlig heruntergekommenen Haus. Eine verkrachte Existenz.
Bei dem Gedanken verspürte Carl eine Aufwallung rachsüchtiger Genugtuung, und es lag ihm fern, sich für dieses Gefühl zu schämen. All die Jahre hatte er Kohlenstaub geschluckt, hatte seine Ehe scheitern und auch sonst alles den Bach runtergehen sehen, und dann hatte er auf einmal seinen Posten wiedergehabt, inklusive Beförderung außer der Reihe. Und das alles nur ein paar Monate, nachdem Schneider seinen Schreibtisch im Polizeipräsidium mit einer Zelle im Knast getauscht hatte.
»Es gibt wohl doch noch so was wie ausgleichende Gerechtigkeit«, hatte Werner bei Carls Rückkehr gemeint, und darauf hatten sie zusammen einen getrunken.
Werner stand mit dem Rücken zu Carl, doch er schien zu spüren, dass Carl ihn und Schneider beobachtete, denn im nächsten Moment blickte er über die Schulter zurück. Es war nicht zu übersehen, wie unbehaglich er sich in Schneiders Gegenwart fühlte. Carl nahm den stummen Hilferuf wahr und setzte sich in Bewegung.
»Warten Sie bitte hier«, sagte er im Vorbeigehen zu den drei Männern. »Es dauert nicht lange. Ich möchte gleich noch mit Ihnen reden.«
Er stellte sich neben Werner, den Blick unverwandt auf seinen einstigen Vorgesetzten gerichtet.
»Tag, Bruns«, sagte Schneider erstaunlich zuvorkommend. »Gratulation auch noch zum Obermeister!«
»Inspektor«, korrigierte Carl ihn, ohne den Gruß zu erwidern. Vor zwei Monaten war er erneut befördert worden, diesmal ganz regulär nach bestandenem Lehrgang, auch wenn er sich dafür nicht viel kaufen konnte. Aber was Schneider betraf, so ging es ums Prinzip. Sieh her, ich bin drin, und du bist raus.
Werner räusperte sich und errötete dabei ein wenig. »Schneider war übrigens derjenige, der gestern auf der Wache war, weil er Hoffmann gesehen hat. Hat er mir gerade erzählt.«
»Hast du Arnold Hoffmann nur gesehen oder auch mit ihm gesprochen?«, fragte Carl seinen früheren Chef geradeheraus. Er hatte einen Fall zu lösen, und Schneider war vielleicht ein Zeuge.
»Nur gesehen«, sagte Schneider verbindlich. »Am Rüttenscheider Stern. Er hat sofort Fersengeld gegeben, als er mich erkannt hat.«
»Wirklich?«, fragte Carl mit unverhohlenem Sarkasmus. »Wart ihr nicht mal ganz enge Parteifreunde?«
»Das ist lange her«, versetzte Schneider. Carls Bemerkung schien an ihm abzuperlen. »Der Mann ist ein Mörder.«
»Das wissen wir noch gar nicht.«
»Ich rede nicht von seiner toten Mutter, sondern von dem Massenmord im März fünfundvierzig. Wenn ich dazu beitragen kann, dass er geschnappt wird, ist das Ehrensache. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Tommys für jeden noch so kleinen Hinweis auf Hoffmanns Verbleib dankbar sind.«
Darauf ging Carl nicht ein. Er wollte einfach nur, dass Schneider Leine zog. Doch der war noch nicht fertig.
Er sah Carl direkt an. »Ich hätte das, was damals mit dir geschehen ist, nicht verhindern können, das weißt du. Es gab Dienstvorschriften, die mussten befolgt werden. Du warst ja auch nicht der Einzige, der seinerzeit gehen musste. Und jetzt bist du wieder am Ruder, stimmt’s? So ist das Leben. Mal haben die einen Oberwasser, mal die anderen. Ich hoffe, du trägst mir nichts nach.«
»Warum sagst du das nicht den Familien der Menschen, die unter deiner Mitwirkung umgebracht wurden?«
Damit brachte Carl ihn endlich zum Schweigen. Schneider nickte Werner kurz zu, dann wandte er sich ab und schlenderte davon.
»Ich wollte überhaupt nicht mit ihm reden«, erklärte Werner ein wenig kleinlaut. »Er hat mich aufgehalten und vollgequatscht.«
»Wollte er was Bestimmtes?«
»Schneider interessiert sich für den Fall.« Werner verzog das Gesicht. »Er will sich dahinterklemmen, sagt er.«
»Was zum Teufel meint er damit?«
»Er will sich rehabilitieren. Weil er wieder zurückwill.«
»Du meinst, in den Polizeidienst?«
Werner nickte. »Er hat sich ernsthaft in den Kopf gesetzt, Hoffmann auf eigene Faust zu schnappen. Damit die Briten ihm die Marke zurückgeben. Er sagt, das wäre sowieso nur eine Frage der Zeit. Wenn er denen Hoffmann präsentiert, geht’s seiner Meinung nach bloß ein bisschen schneller.«
Carl runzelte die Stirn. »Er war im Knast! «
Werner zuckte mit den Schultern. »Nur ein paar Monate. Und sie haben ihn auf Bewährung wieder rausgelassen. Es wird gemunkelt, dass es demnächst offiziell Wiedereinstellungen geben soll, egal, ob einer in der Partei war. Kommt wohl immer ganz drauf an.« Er schüttelte den Kopf und stöhnte dann leise auf. Vorsichtig betastete er seine geschwollene Wange und gab erneut einen schmerzerfüllten Laut von sich. »Mist, jetzt tut es richtig weh.« Mit unerwarteter Entschiedenheit fügte er hinzu: »Schneider kann sich noch so sehr anstrengen. Der kommt nicht zurück. Für ihn ist der Zug abgefahren, darauf gehe ich jede Wette ein.«
Carl hätte es nur zu gerne geglaubt.
Er ging zurück zu den drei Männern, die wartend dastanden. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, aber Carl war in der Auslegung unterdrückter Regungen nicht unerfahren. Er fing diffuse Gefühle von Sorge auf, vielleicht sogar Furcht. Doch das musste nichts heißen. Es herrschten raue Zeiten, jeder hielt sich irgendwie über Wasser und tat dabei Dinge, die gesetzlich verboten waren, Schwarzhandel und Kohlenklau inbegriffen. Die meisten Leute hatten in ihrem Privatleben irgendwelche Leichen im Keller und wurden nervös, wenn die Polizei aufkreuzte, auch wenn es in einer anderen Angelegenheit war.
Die beiden jüngeren Männer waren Zwillingsbrüder, was aufgrund ihrer frappierenden Ähnlichkeit nicht zu übersehen war. Auf den ersten Blick waren sie nicht zu unterscheiden. Beide hatten das gleiche rote Haar, wasserhelle Augen und leicht abstehende Ohren. Sie waren vierundzwanzig Jahre alt und hießen Aleksandr und Borjan Drewin.
Carl erfuhr bei der weiteren Befragung, dass sie als Siebzehnjährige von den Nazis aus dem Baltikum nach Deutschland verschleppt worden waren. Während des Kriegs hatten sie im Zwangsarbeiterlager gelebt, später eine Zeit lang auf der Straße. Seit zweieinhalb Jahren wohnten sie in Adelheid Hoffmanns Haus, das Logis war ihnen durch die Besatzungsbehörde zugewiesen worden. Beide arbeiteten als Hauer auf Zollverein, so wie früher Carl. Ihr Deutsch war nahezu perfekt; nur vereinzelt klang noch ein schwacher slawischer Akzent durch.
Der ältere Mann hieß Gustav Keitel und war fünfundsechzig Jahre alt. Von Beruf war er Cellist und spielte bei den Essener Philharmonikern. Keitel wohnte schon seit fast zehn Jahren im Haus und war regulärer Mieter.
Nein, sie hatten letzte Nacht nichts mitbekommen, alle drei hatten sie tief und fest geschlafen. Die beiden jungen Balten im Hinterzimmer der ehemaligen Gastwirtschaft, wo sie ihr Schlaflager hatten, und Keitel in seinem Mansardenkämmerchen unterm Dach. Und nein, den Sohn der Eigentümerin hatten sie auch nicht in der Gegend gesehen. Aleksandr und Borjan kannten ihn ihrer Aussage nach überhaupt nicht, sie waren erst nach seinem Verschwinden hier eingezogen.
Keitel hingegen war ihm früher gelegentlich über den Weg gelaufen, kannte ihn aber nicht näher. »Persönlich hatte ich nichts mit ihm zu tun. Er war bei der SS und ständig auf Achse.«
»Hatte er Ihrer Meinung nach einen Hang zur Gewalt?«
Keitel hob unschlüssig die Schultern, nickte dann aber.
»Worin hat sich das geäußert?«, fragte Carl.
Keitel zögerte erneut, ehe er antwortete. »Jeder hier im Haus weiß doch über das furchtbare Massaker Bescheid, und unter uns Mietern hat sich auch rumgesprochen, dass der Sohn von Frau Hoffmann der Haupttäter dieses Gemetzels war.«
»Also denken Sie, er könnte auch seine Mutter umgebracht haben?«
»Vermutlich schon.«
»Käme aus Ihrer Sicht sonst noch jemand infrage? Gibt es jemanden im Haus oder aus Frau Hoffmanns Bekanntenkreis, mit dem sie sich öfters gestritten hat?«
»Na ja. Sie kam mit niemandem gut klar.«
Fragend wandte sich Carl an die beiden Balten. »Was meinen Sie dazu?«
Aleksandr und Borjan Drewin zuckten nur in einer seltsam simultan anmutenden Geste die Achseln, bevor sich einer der beiden – Carl war sich nicht sicher, ob es Aleksandr oder Borjan war – zu einer richtigen Antwort bequemte. »Eigentlich konnte keiner sie gut leiden.«
»Wissen Sie, ob die Frau sonst noch Familie hatte? Irgendwelche Verwandten?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Keitel.
Die Zwillingsbrüder antworteten abermals mit einem gleichzeitigen Achselzucken.
Carl kritzelte die Informationen mit seinem immer stumpfer werdenden Bleistiftstummel in sein Notizbuch. Er spürte, dass die Männer ihm nur einen Teil der Wahrheit offenbarten. Die Aufklärung dieses Falles würde sich nicht so einfach gestalten, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte.