Kapitel 2

Köln, um dieselbe Zeit

A nne blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte, weil sie im ersten Moment glaubte, eine Art Fata Morgana vor sich zu haben. Sie hatte seit mindestens zwanzig Stunden nicht geschlafen, vielleicht kam die Sinnestäuschung daher. Die wunderschöne junge Frau, die dort drüben inmitten einer trostlosen Ruine stand, lächelte mit einer Strahlkraft, als hätte sie den Hauptgewinn in einer Lotterie gezogen. Und was angesichts des kühlen Wetters noch bemerkenswerter war: Bis auf ein seidenes Nichts von Unterwäsche war sie völlig nackt. Abgesehen von den feinen, mit neckischen Bommeln versehenen Pantöffelchen, die Anne erst bei genauerem Hinsehen auffielen.

Anne blinzelte ein zweites Mal, aber die junge Frau war real. Strahlend stand sie in ihren feinen, rüschenbesetzten Dessous da, um sie herum nur Zerstörung. Kein persönlicher Gegenstand, kein Kleidungsstück, weder Tisch noch Stuhl. Nichts.

Ein klarer Fall. Anne erlebte oft solche widersinnigen Verhaltensformen, um nicht zu sagen Verrücktheiten. Ihr Beruf als Krankenschwester brachte das unweigerlich mit sich. Sie kannte eine Frau, die sich zwanghaft die Haare ausriss und sie aß. Nicht etwa aus Hunger, sondern weil sie an einer geistigen Störung litt. So wie viele in diesen Zeiten, was sicher vorwiegend mit dem Krieg zusammenhing. Und mit dem Hunger und der Kälte. Oder es kam alles zusammen, wer konnte das schon mit Gewissheit sagen. Manche Menschen hatten komplett ihren Realitätssinn verloren, andere nur ein bisschen.

Annes fünfzehnjährige Schwester Lotti war das beste Beispiel. Lotti hatte Visionen von Jesus Christus, der sogar persönlich mit ihr sprach. Nicht ständig, aber oft genug, um Anne und ihre andere Schwester Frieda zur Verzweiflung zu treiben.

Wenigstens kam Lotti während ihrer Visionen nicht auf die Idee, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Sie lief auch nicht mit entrücktem Lächeln in den Ruinen herum, sondern behielt ihren direkten Draht zu Jesus für sich. Lotti wusste sehr wohl, dass man sie sonst für geisteskrank halten würde. So gesehen war sie längst nicht so verwirrt wie die junge Frau dort in der Ruine. Im Gegenteil, Lotti war sogar überdurchschnittlich intelligent. Auf dem Lyzeum erzielte sie durchweg exzellente Noten, und bislang hatten Anne und Frieda ihr zum Glück erfolgreich ausreden können, in ein Kloster einzutreten.

Die junge Frau in dem Seidennegligé hörte abrupt auf zu lächeln. Ihr perfekt geschminktes Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, während sie auf ihren Pantöffelchen vorsichtig über die herumliegenden Trümmerstücke hinwegstakste und sich in eine andere Ecke des Zimmers begab – oder genauer: in die Ecke dessen, was von dem einstigen Zimmer noch übrig geblieben war, zwei geborstene Wände eines von Schutt übersäten Erdgeschosses ohne Decke. Von den drei Obergeschossen war nur noch die rückwärtige Außenwand vorhanden. Hier und da ragte ein Eisenträger heraus, an einer Stelle hing noch ein Ofenrohr. Es spross aus dem Mauerwerk wie der Rüssel eines urzeitlichen Mammuts, starr ins Leere gereckt und dem nagenden Rost preisgegeben.

An ihrem neuen Standort schien es der jungen Frau besser zu gefallen, sie strahlte wieder.

»Das ist gut«, hörte Anne eine Männerstimme sagen. »Da ist das Licht schöner.«

Als Nächstes war das Klicken einer Kamera zu vernehmen, und gleich darauf tauchte auch der Fotograf in Annes Blickfeld auf. Er suchte sich eine andere Position und knipste drauflos.

»Mir ist kalt«, maulte die junge Frau.

»Nur eine Minute noch. Mach mal ein bisschen was mit deinen Armen.«

Die junge Frau breitete in einer unbestimmten Geste die Arme aus, dann stemmte sie die Hände in die Hüfte und schob in sinnlicher Pose das Becken nach vorn. »So ungefähr?«

»Ja, sehr gut!«

Anne ging weiter. Hier brauchte niemand ihre Hilfe, im Gegenteil. Die junge Frau erfreute sich bester Gesundheit. Außerdem musste sie gute Beziehungen haben, sehr gute sogar, denn sie hatte üppige Rundungen vorzuweisen. Bei Leuten ohne Beziehungen konnte man die Rippen zählen, da stachen die Knochen förmlich heraus. Anne sah fast jeden Tag hungernde, ausgemergelte Menschen, sowohl im Krankenhaus als auch bei ihren Hausbesuchen, mit denen sie sich ein bisschen was dazuverdiente. Manchmal schämte sie sich fast, weil sie selbst nicht so klapperdürr war wie viele ihrer Patienten. Was sie jedoch zweifellos gewesen wäre, wenn sie nicht Frieda gehabt hätte, die pausenlos auf Hamsterfahrt ging.

Während Anne die Ruine passierte, die ehemals ein stattliches Geschäftshaus gewesen war, hörte sie immer noch die Anweisungen des Fotografen. Menschen mit Kameras waren in diesen Tagen kein seltener Anblick. Das Trümmermeer rund um den Kölner Dom schien sie magisch anzuziehen, mittlerweile anscheinend auch als Kulisse für Modeaufnahmen. War das die neue Normalität? Trümmer und Seidenhemdchen, zu einem Bild verschmolzen, mit einer überheblichen, fast schon rotzigen Aussage: Wer immer auch unter diesen Schuttbergen gestorben ist – wir stehen jetzt hier in neuem Schick.

Nein, dachte Anne. Normal war das nicht. Höchstens Kunst.

Sie besann sich: Es war doch normal, denn Kunst durfte viel. Kunst war – endlich wieder – frei. So wie sie alle.

Anne konnte nicht umhin zu lächeln. Für sie schloss sich bei diesen Gedanken ein Kreis, denn soeben war ihr in den Sinn gekommen, was man der Kunst nachsagte. Dass sie oft brotlos sei.

Ebenfalls wie sie alle.

*

Die Ausbeute von Friedas Hamsterfahrt lag ausgebreitet auf dem Tisch, als Anne heimkam: ein großes Kastenbrot, ein ordentliches Stück Dauerwurst, zwei Dosen Kondensmilch, drei Büchsen Corned Beef, ein gutes Dutzend Äpfel und fünf Briketts. Das Kastenbrot bestand überwiegend aus Kastanienmehl, aber mit der Wurst in der Pfanne geröstet würde es königlich schmecken. Die Äpfel waren verschrumpelt und vereinzelt wurmstichig, aber für Obst in jeder erdenklichen Form konnte man nur dankbar sein. Und die Dosenmilch war ein seltener Fang, steif geschlagen war sie eine wahre Köstlichkeit. Ganz zu schweigen von dem Corned Beef, das hatten sie lange nicht mehr gehabt. Anne lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Für den Rest der Woche hatten sie satt zu essen.

Es hätte sogar noch mehr sein können, ein Dutzend Eier und eine große Speckschwarte, aber die hatte Frieda verloren, weil sie sich mit einem anderen Hamsterfahrer um einen Platz im Waggon des Zuges hatte prügeln müssen. Die Eier waren im Gedränge mitsamt Karton auf dem Boden des Waggons zertrampelt und die Speckschwarte unterdessen von irgendwem heimlich geklaut worden.

Zurückbehalten hatte Frieda ein blaues Auge und eine geschwollene, blutverkrustete Nase.

Anne besah sich mit geschultem Blick das schillernde Veilchen und tastete vorsichtig den Nasenknochen ab.

Frieda ertrug es ohne einen Mucks, jedoch mit zusammengebissenen Zähnen.

»Tut es sehr weh?«, fragte Anne teilnahmsvoll.

»Es geht. Ist die Nase gebrochen?«

»Soweit ich es beurteilen kann, nicht.«

Es war nicht die erste Hamsterfahrt, von der Frieda verletzt zurückkehrte. Einmal hatte sie zwei Fingernägel verloren. Ein Mann hatte ihr den Sack mit den Kohlen entrissen, die sie kurz vorher erbeutet hatte. Frieda hatte den Sack eisern festgehalten, doch der Mann war stärker gewesen. Ein anderes Mal hatte sie sich eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen, weil sie vom Trittbrett eines fahrenden Zuges gestürzt war. Viele mussten auf den Trittbrettern der Hamsterzüge mitfahren, etliche sogar auf den Puffern und Dächern, weil die Leute in den Waggons schon so eng zusammengepfercht standen, dass kaum noch einer richtig atmen konnte.

Anne lebte in der beständigen Sorge, dass Frieda bei diesen halsbrecherischen Unternehmungen ernsthaft zu Schaden kam. Wer auf Hamsterfahrt ging, musste mit allem rechnen. Es wurde gerangelt, geboxt, geschubst und nicht selten auch geraubt. Rücksicht konnte niemand erwarten. Für die Allermeisten ging es buchstäblich ums Überleben, jeder kämpfte verzweifelt für sich allein. Zu Hause warteten die Familien auf jeden noch so kleinen Bissen Nahrung. Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen, werdende Mütter mit tief eingesunkenen Augen in spitzen Gesichtern, alte Menschen mit Hungerödemen. Anne begegnete ihnen bei ihrer Arbeit beinahe täglich.

Sie tupfte ihrer Schwester das getrocknete Blut unter der Nase mit Kölnisch Wasser ab. Davon hatte sie immer ein Fläschchen vorrätig; eine ihrer Patientinnen hatte Beziehungen zu 4711 . Mit dem Rest der Flüssigkeit tränkte sie ein Taschentuch und reichte es Frieda als Kompresse für das lädierte Auge.

Frieda drückte sich das nasse Taschentuch nachlässig auf ihr Veilchen, dann stand sie auf und reckte sich. Sie war schmutzig vom Kohlenstaub und hatte überall blaue Flecken, aber ihr Unternehmungsgeist war ungebrochen.

»Soll ich gleich die Briketts eintauschen gehen?«

»Nein, darum kümmere ich mich«, erklärte Anne. »Du wäschst dich jetzt erst mal, und dann ruhst du dich ein bisschen aus.«

»Du siehst aber aus, als wärst du mindestens genauso kaputt wie ich. Wie lange bist du auf den Beinen? Warst du überhaupt seit gestern zwischendurch zu Hause oder hattest du wieder eine Doppelschicht? Du darfst dich nicht immer so ausbeuten lassen!«

Anne zuckte mit den Schultern. »Es geht schon. Ein bisschen was auf dem Schwarzmarkt zu besorgen, kriege ich noch hin.«

»Na gut. Aber lass dich nicht bescheißen.«

»Ich gebe mein Bestes«, versprach Anne, wie immer nicht ganz überzeugt, ob sie dieser Anforderung gerecht werden konnte. Ihren beruflichen Fähigkeiten vertraute sie blind, doch in der Welt des Schwarzhandels fühlte sie sich alles andere als heimisch. Im Gegensatz zu Frieda, der lag es gleichsam im Blut. Schon als junges Mädchen war sie in die Schattenwelt des Schwarzmarkts eingetaucht, hatte sich darin so traumwandlerisch sicher bewegt wie ein Fisch im Wasser. Nur ein einziges Mal war sie verhaftet worden, damals, als sie alle noch in Essen gelebt hatten. Von Arnold …

Sofort befahl Anne sich, nicht weiter an Arnold zu denken. Ginge es nach ihr, würde sie nie wieder an ihn denken. Was aber wohl bis ans Ende ihrer Tage ein frommer Wunsch bleiben würde. Hätte sie wie ihre jüngste Schwester mit Jesus sprechen können, hätte der ihr wahrscheinlich mitgeteilt, das durch Arnold verursachte Leid sei das Kreuz, welches sie nun mal tragen müsse.

*

Auf ihrem Weg zum Schwarzmarkt sah sie ihren Neffen Emil in einer benachbarten Ruine auf einer mindestens drei Meter hohen Mauer entlangbalancieren. Unten standen seine kleinen Freunde und feuerten ihn an. Mit angehaltenem Atem beobachtete Anne, wie Emil sich, beide Arme ausgebreitet, Schritt für Schritt bis zum Ende der Mauer vorwärtsbewegte und triumphierend auflachte, als er endlich sicheren Boden erreichte – soweit man dieses von Schrapnellen durchlöcherte erste Stockwerk überhaupt als sicher bezeichnen konnte. Die Treppe bestand nur noch aus Fragmenten von Stufen, die vereinzelt und in unregelmäßigen Abständen aus der Wand ragten wie Tasten eines zerschlagenen Klaviers.

Emil hüpfte diese Stufenreste leichtfüßig hinab, er war erst sechs, aber unerschrocken und wendig wie ein Zirkusartist. Erst als er unter dem lautstarken Beifall der übrigen Kinder unten angekommen war, wagte Anne, ihn zu sich zu rufen.

»Du sollst doch nicht so weit oben herumklettern, da kann sonst was passieren«, schalt sie ihn, obwohl sie wusste, dass er sich kaum darum scherte.

»Komm mal her.« Anne drückte ihren Neffen fest an sich, während ihr das Herz vor Zuneigung überströmte. »Deine Mutter ist wieder zurück«, teilte sie dem Kleinen mit.

»Ich weiß, hab sie vorhin schon gesehen.«

»Hast du dir heute Mittag Schwedenspeise geholt?«

Emil hob die Schultern, was bedeutete, dass es wieder Eintopf gegeben hatte, eine undefinierbare Pampe aus allerlei Resten und gerade genug Erbsen, um es grünlich aussehen zu lassen. Emil verabscheute Erbseneintopf, sowohl die Farbe als auch den Geruch. Irgendwer hatte ihm mal weisgemacht, es handle sich um aufgewärmte Kotze, und weder Argumente noch Hunger hatten ihn seither dazu bewegen können, davon zu essen.

Im Wechsel zum Gemüseeintopf wurde an den Suppenküchen auch süßer Brei ausgeteilt, den verschlang Emil wie alle Kinder mit Begeisterung, aber die Erbsenpampe verschmähte er hartnäckig. Das wiederum erforderte zusätzliche Beschaffungen von Essbarem, um die entfallenden Mahlzeiten zu ersetzen. Außerdem mussten sowohl Anne als auch Frieda bei Tisch sorgsam darauf achten, dass Lotti in ihrer frommen Selbstlosigkeit nicht Teile ihrer eigenen Rationen abzwackte und aufhob, um Emil zwischendurch was zustecken zu können. Oder um im Wetteifer mit dem heiligen Franziskus streunende Tiere durchzufüttern. Das Mädchen war eine wandelnde Lichtgestalt, aber auch bald nur noch ein Strich in der Landschaft.

Es traf sich gut, dass sie noch genug Kohlen hatten, so konnte Anne für die von Frieda organisierten Briketts Milch besorgen, sofern es welche gab. Vielleicht ließen sich damit sogar ein paar von den Eiern ersetzen, die Frieda im Zug verloren hatte. Regulär hatten sie schon lange keine Eier mehr bekommen, da halfen einem weder Geld noch Lebensmittelmarken. Brot und Margarine in armseligen Portionen, das war in den Läden seit Wochen das Höchste der Gefühle, aber auch nur dann, wenn man schon im Morgengrauen loszog, um sich früh genug anstellen zu können.

»Wo gehst du hin, Tante Anne?«, erkundigte sich Emil.

»Einkaufen.«

»Bringst du mir was mit?«

»Na klar.« Anne strich ihrem Neffen über die widerspenstigen Locken, dann klemmte sie sich die in Zeitungspapier eingewickelten Briketts fester unter den Arm und setzte ihren Weg zum Schwarzmarkt fort.