Kapitel 3

Mai 1948

Z wei Wochen nach dem Tod von Adelheid Hoffmann fuhr Carl mit dem Zug nach Köln. Es gab ein notariell hinterlegtes Testament, und der Inhalt war für alle in der Abteilung eine ziemliche Überraschung gewesen. Grund genug, sich auf die Socken zu machen und der Sache nachzugehen. Eine Ermittlungsregel bei Mordfällen lautete: Folge der Spur des Geldes.

Er hatte eine Sitzplatzreservierung in der zweiten Klasse, was eindeutig von Vorteil war, denn der Zug war restlos überfüllt von Hamsterfahrern. Die meisten von ihnen drängten sich in der Holzklasse und in den Stehwaggons zusammen, aber weil es so viele waren, rückten sie notgedrungen auch in die übrigen Abteile vor, bis sie auch dort standen wie die Ölsardinen in der Büchse. Der Schaffner versuchte vergeblich, sich durch die Reihen zu kämpfen, und Carl konnte seinen Sitzplatz auch nur deshalb einnehmen, weil er zusätzlich zur Reservierung seine Polizeimarke vorzeigte. Der streitlustige junge Bursche, der sich dort mitsamt seinem Rucksack niedergelassen hatte, hätte sich sonst bestimmt nicht wegbequemt. Er beäugte die Marke voller Misstrauen und räumte nur unter Flüchen das Feld. Auf der Suche nach einem akzeptablen anderen Standort rempelte er sich rücksichtslos den Weg durch den Gang frei.

Carl ließ sich nieder und blickte müßig aus dem Fenster, das halb heruntergeschoben war und den Fahrtwind hereinließ. Es war ein sommerlich warmer Tag, die Sonne schien von einem wolkenlos blauen Himmel und tauchte die Landschaft in goldenes Licht. Wenn man nicht genau hinsah, gewann man den Eindruck einer reinen Idylle. Schafe, die auf Blumenwiesen weideten, Bäume in frischem Frühlingsgrün, Bauernhäuser inmitten gelb leuchtender Rapsfelder, hier und da wie hingetupft weiß und lila blühender Flieder. Alles völlig friedlich und unberührt.

Bei näherer Betrachtung waren jedoch auch die Hinterlassenschaften des Krieges zu erkennen. Die von Unkraut zugewucherten Bombenkrater. Abgeknickte Strommasten. Ausgebrannte Scheunen. Und überall dort, wo sich Ortschaften befanden, reihenweise Ruinen und Trümmerberge.

Man hätte denken können, dass drei Jahre mehr als genug Zeit waren, um all die Trümmer wegzuräumen, erst recht, wenn ein ganzes Volk mit nahezu nichts anderem beschäftigt war. Doch die schiere Menge des gesamten Schutts war von ihren Dimensionen her so gewaltig, dass selbst übermenschliche Anstrengungen nicht ausreichten, um alles auf einmal aus den Städten zu schaffen. In Essen, so hatte Carl unlängst in der Zeitung gelesen, hatte bisher nur etwa ein Zehntel der Trümmer beseitigt werden können. Kreuz und quer durch die Stadt verliefen behelfsmäßig verlegte Schienen, über die ohne Unterlass schwankende Loren ratterten, allesamt bis zum Rand mit Schutt beladen.

Carl hatte selbst nach seiner Wiedereinstellung über Monate hinweg mit anpacken müssen, so wie alle Kollegen, vom Anwärter bis zum Oberrat. Das Präsidiumsgebäude war durch die Luftangriffe stark beschädigt worden, der Seitenflügel in der Virchowstraße vollständig niedergebrannt. Ungezählte Stunden hatte er nach Feierabend zusammen mit Werner und vielen anderen Kollegen die Trümmer weggeräumt, oft bis zum Einbruch der Dunkelheit, und doch war es ihnen eine Ewigkeit lang so vorgekommen, als würden die Schuttberge niemals kleiner.

Zugleich hatte diese gemeinsame Arbeit das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt, nicht zuletzt bei Carl, der sich nach seinem Neueinstieg zuerst fremd und unsicher gefühlt hatte. Wie ein Berserker hatte er malocht, hatte es allen gezeigt. Er, der Kohlehauer, der Kumpel, dem Staub und Dreck nichts ausmachten. Der genau wusste, wie man eine Schaufel hielt und Gesteinsbrocken fortschaffte.

Bis zum Umfallen hatte er geschippt und geräumt und dabei viel von seiner Wut wegarbeiten können. Irgendwann hatte er gewusst, dass er wieder dazugehörte. Jetzt, drei Jahre später, war es fast so, als sei er nur kurz weg gewesen. Aber eben nur fast, wie ihm bei Schneiders plötzlichem Auftauchen am Tatort bewusst geworden war. Manche Dinge brauchten eben länger.

So wie in Essen war auch die Innenstadt von Köln immer noch ein einziges Trümmermeer. Eine Ruine reihte sich an die nächste, obwohl auch hier die Aufräumarbeiten seit Jahren in vollem Gange waren. Ein Teil der Straßenbahnen fuhr bereits wieder, es gab Strom und Wasser, zumindest in Teilen der Stadt, und auch die Müllabfuhr sorgte regelmäßig dafür, dass die Kölner Bürger nicht an ihrem Unrat erstickten. Über eine halbe Million Menschen lebten wieder in der Stadt, zehnmal mehr als gegen Kriegsende, und es kamen immer noch weitere dazu.

Erst vor wenigen Tagen war die beschädigte Hohenzollernbrücke wieder dem Verkehr übergeben worden. Während der Zug langsam über die Brücke rollte, hatte Carl einen freien Blick über den Rhein und das angrenzende Ufer. Zwischen den Ruinen und Trümmerbergen erhob sich majestätisch eine große alte Kirche – nicht der Kölner Dom, der befand sich geradeaus in Richtung Bahnhof und war deshalb nicht zu sehen, sondern irgendein anderes der unzähligen Kölner Gotteshäuser. Die Stadt war durch und durch katholisch, und ihr berühmt gewordener Kirchenoberer hielt es mit den Armen: Nach der vorletzten Silvesterpredigt des Kölner Erzbischofs Frings hatte sich im ganzen Land ein neues Wort für Kohlenklau eingebürgert: fringsen . Das Stehlen aus schierer Not war seither gleichsam mit kirchlichem Segen erlaubt. Kriminalstatistiken zufolge war die Anzahl der Kohlendiebstähle seither rasant gestiegen.

Am Kölner Hauptbahnhof herrschte ein ähnlicher Andrang wie bei Carls Abfahrt in Essen – auf den Bahnsteigen eine unaufhaltsam in Bewegung befindliche Menschenmenge, jeder Einzelne auf dem Sprung, den einlaufenden Zug zu entern und sich einen der raren Sitzplätze zu erkämpfen.

Carl wich den herandrängenden Massen so gut es ging aus und bahnte sich mit einigem Ellbogeneinsatz seinen Weg bis zum Ausgang, wo er sich zunächst zurechtfinden musste. Er war lange nicht in Köln gewesen, das letzte Mal irgendwann vor dem Krieg, und entsprechend ungewohnt wirkte die Umgebung auf ihn. Der Kölner Dom war einer der wenigen markanten Orientierungspunkte inmitten der weitflächigen Zerstörung.

Zu seiner Erleichterung entdeckte Carl nach kurzer Suche ein Straßenschild, das ihm den Weg wies. Etliche der Ruinen waren sogar mit Hausnummern versehen, meist aufgemalt oder eingeritzt, aber teilweise hatte man sogar wieder emaillierte Schilder angebracht. Überall hatten die Bewohner sich behelfsmäßig eingerichtet, unterhielten ihren Hausstand hinter bröckelnden Giebeln und löchrigen Mauern, deren scheibenlose Fensteröffnungen mit Tüchern zugehängt waren, um einen Rest Privatsphäre zu bewahren. Zwischen rostigen Eisenrohren waren Wäscheleinen aufgespannt, und kaputte Badewannen hatte man mit Erde angefüllt, um darin Gemüse oder Tabak zu ziehen.

Auf einer geborstenen Betonplatte, die früher mal eine Terrasse gewesen war, befand sich ein alter Kohleherd mit einem frei in die Luft ragenden, qualmenden Ofenrohr, und davor stand eine Frau und briet etwas Undefinierbares in einer Pfanne. Es roch fürchterlich, aber sicherlich würde irgendwer es runterschlingen, sobald es fertig war.

Überall in den Ruinen wuselten Kinder herum, lachend, lärmend, unbekümmert. Für sie war die Trümmerlandschaft ein einziger großer Spielplatz.

Carl gelangte zu dem Haus, das er suchte. Das einst vierstöckige Gebäude war ebenfalls nur noch in kläglichen Resten erhalten. In eine halbwegs intakte Mauerecke vom Parterre hatte sich jemand eine Hütte gezimmert, ein Konglomerat aus Teerpappe, Wellblech und angesengten Holzbrettern. Auch im Keller schien jemand zu wohnen. Steile Stufen führten von der Straße hinab in ein fensterloses Untergeschoss. Ein blonder Junge kam gerade die Treppe hoch. Ein schmales kleines Kerlchen, gekleidet in ein kariertes Hemd und eine abgewetzte kurze Lederhose. Die nackten Füße steckten in Sandalen aus Gummi, das jemand aus alten Autoreifen passend zurechtgeschnitten hatte. Die Rillen des Profils waren noch gut zu erkennen.

Obwohl der Junge kaum was auf den Rippen hatte, wirkte er sehnig und robust. Das helle Haar war zu kurzen Locken gestutzt, die Nase von Sommersprossen gesprenkelt. Die Ähnlichkeit mit Arnold Hoffmann war unverkennbar.

Carl sprach ihn an. »Wohnst du hier? Du heißt Emil, nicht wahr?«

Der Junge gab keine Antwort. Carl streckte ihm die Hand entgegen. »Guten Tag. Mein Name ist Carl. Ich komme aus Essen.«

Der Junge starrte seine Hand an, als könnte sie beißen. Im nächsten Moment drehte er sich auf dem Absatz herum und rannte die Treppe runter, zurück in den Keller.

»Tante Anne, Tante Anne, ein fremder Mann aus Essen!«, hörte Carl ihn kreischen.

Von unten drangen weitere aufgeregte Stimmen nach oben, sie stammten von zwei Frauen. Gleich darauf tauchte eine von beiden auf der Treppe auf. Ob es an dem anmutigen Gleichmaß ihrer Schritte lag oder dem offenen, in Wellen herabfallenden Haar – Carl hatte zwei Atemzüge lang den Eindruck, als stiege vor seinen Augen ein Engel aus der Unterwelt empor.

Gleich darauf hatte sie ihr Haar mit raschen Bewegungen im Nacken zusammengesteckt und sich von einem Engel in eine übermüdet wirkende Blondine Mitte dreißig verwandelt, die ihn argwöhnisch musterte. Sie trug ein schlichtes, klein gemustertes Kittelkleid, war mittelgroß und zierlich und auch sonst von recht irdischem Äußeren. Sie war nicht auf engelhafte Weise lieblich, sondern eher auf eine etwas herbe Weise gut aussehend. Manch einer hätte ihr Kinn vielleicht zu kantig und die Nase eine Spur zu lang gefunden, zumindest auf den ersten Blick. Der zweite schien etwas viel Wichtigeres zu offenbaren. Sie war es wirklich. Es war tatsächlich Anne.

*

Anne dachte später viel über diese Begegnung nach. In den Sekunden davor war da nichts gewesen außer purer Angst. Das Hochschießen ihres Pulses, als Emil die Worte Ein fremder Mann aus Essen gesagt hatte. »Ihr rührt euch nicht vom Fleck, ich gehe allein raus«, hatte sie Lotti und Emil befohlen. Zum Glück war Frieda nicht da, das hätte Mord und Totschlag geben können!

Dann die Erlösung, wie bei einem unter Druck stehenden Ballon, aus dem schlagartig alle Luft entweicht: Der Mann aus Essen war nicht Arnold!

Danach gleich die nächste aufwühlende Regung: Misstrauen. Wer war der Kerl, was wollte er? Aber der eigentlich entscheidende und wichtigste Augenblick kam erst, als Anne ihm zum ersten Mal ins Gesicht sah. Und stutzte. Das war doch …

»Carl?«, fragte sie sicherheitshalber. »Carl Bruns?«

Wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Sie rechnete kurz. Ja, fast. Es war in dem Sommer gewesen, als sie sechzehn wurde. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie ihn überhaupt wiedererkannte, obwohl er auf unbestimmte Weise beinahe so aussah wie damals in den kurzen drei Monaten, die sie miteinander gegangen waren. Er hatte ein schmales Gesicht und sandfarbenes Haar und trug einen verknitterten alten Anzug, viel mehr hätte Anne zu seinem Äußeren momentan kaum sagen können. Es war offensichtlich, dass er sie ebenfalls wiedererkannte.

»Anne«, sagte er. Und schluckte, nachdem er ihren Namen ausgesprochen hatte. »Du hast dich kaum verändert«, entfuhr es ihm.

Sie musste lachen, denn sie wusste, wie sie aussah, vor allem nach der hinter ihr liegenden schlaflosen, aufreibenden Nacht: ungewaschen, ungekämmt und bis auf die Knochen erschöpft.

Davon abgesehen hatte sie sich ohnehin nie als besonders reizvoll empfunden. Ihre beiden Schwestern waren die Schönheiten; es war fast so, als hätten die Eltern erst üben müssen und sich bei jeder Tochter gesteigert: Anne, die Älteste, war deutlich kleiner und unscheinbarer geraten als Frieda, die zehn Jahre nach ihr auf die Welt gekommen war und von Geburt an als die Hübschere galt. Bis weitere zehn Jahre später das Nesthäkchen Lotti auf den Plan getreten war. Mit ihrem hohen Wuchs und dem elfenhaften Antlitz stellte Lotti die perfekte spätgeborene Vollendung der elterlichen Fortpflanzungsbemühungen dar, gleichsam die Krönung der familiären Evolution. Schon als Baby war sie der unumstrittene Sonnenschein aller gewesen, ein Püppchen wie aus dem Bilderbuch.

Ein Püppchen war Lotti jetzt nicht mehr, im Gegenteil, inzwischen war sie aufgeschossen und dünn wie ein Blumenstängel, sie wirkte insgesamt noch ein wenig unfertig, aber die künftige Grazie schimmerte schon durch. Bald würden ihr die Jungs hinterherhecheln, da konnte sie noch so fromm sein.

»Was tust du in Köln?«, wollte Anne wissen, voller Neugier, was ihn hergeführt hatte. »Oder bist du rein zufällig hier?«

»Nicht direkt.« Um seine Mundwinkel huschte ein Lächeln, und Anne spürte ihre innere Unruhe wachsen, erst recht, als sie die dargebotene Hand ergriff.

»Ich komme von der Kripo Essen, Abteilung Kapitalverbrechen«, erklärte Carl. »Ich ermittle in einem Todesfall.« Er zog eine Dienstmarke aus der Innentasche seiner Anzugjacke und zeigte sie Anne. »Ich würde gern mit deiner Schwester sprechen. Ist sie da?«

Anne schüttelte stumm und erschrocken den Kopf.

»Sie wohnt aber hier mit dir zusammen, oder?«

»Ja, sie ist nur gerade nicht da«, antwortete Anne reserviert. »Worum geht es denn?«

Er stellte eine Gegenfrage. »Wann kommt sie zurück?«

»Jetzt im Moment«, sagte Anne und zeigte in die entsprechende Richtung.

Frieda kam die Schildergasse herunterspaziert, als gehörte die Straße ihr. So kam sie immer daher – mit ausgreifenden Schritten, erhobenem Kopf und durchgedrückten Schultern. Der Platz, den sie dabei einnahm, schien immer etwas heller zu sein als die Umgebung, das war die Wirkung, die sie auf Menschen ausübte.

»Frieda, das ist Carl Bruns von der Kripo Essen«, stellte Anne ihn ihrer Schwester vor, bevor Carl selbst etwas sagen konnte. »Er ermittelt in einem Todesfall.«

»Carl?« Frieda entwich ein Laut des Erstaunens. »Ist das etwa der Carl? Dein allererster Freund? Und der ist jetzt bei der Kripo? Mein lieber Herr Gesangsverein!« Sie grinste Anne an. »Hast du jemanden umgebracht?«

»Er will eigentlich mit dir sprechen.«

»Reine Routine«, warf Carl ein. Seine Stimme klang freundlich, aber Anne war sich bewusst, dass seinem aufmerksamen Blick nichts entging. Er reichte auch Frieda die Hand zur Begrüßung, ehe er fortfuhr: »Vor zwei Wochen wurde in Essen-Rüttenscheid eine Frau namens Adelheid Hoffmann tot aufgefunden, allem Anschein nach ermordet. Deine Schwiegermutter, Frieda.«

Anne fühlte sich bei seinen letzten Worten von einer jähen, rachelüsternen Befriedigung durchflutet, und nicht ohne Sorge fragte sie sich, ob Carl es ihr wohl ansah. In dem Bemühen, ihren Gesichtsausdruck zu kontrollieren, riskierte sie einen Seitenblick zu Frieda. Auch ihre Schwester hatte eine unbewegte Miene aufgesetzt, doch Anne spürte mit allen Sinnen, dass Frieda ebenso aufgewühlt war wie sie.

»Es gibt eine letztwillige Verfügung. Frieda, dein Sohn Emil ist demnach der Enkel von Adelheid Hoffmann. Deswegen bin ich hier. Sie hat den Jungen testamentarisch als Alleinerben eingesetzt.«

»Sie hat was? «, platzte Frieda heraus. Die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Adelheid Hoffmann hat laut amtlich eröffnetem Testament ihr gesamtes Vermögen deinem Sohn vererbt. Einschließlich des Hauses, in dem sie gewohnt hat.«

»Und was ist mit Arnold – wäre nicht eigentlich er der gesetzliche Erbe?«, erkundigte sich Anne. Die Frage kam ihr nur mühsam über die Lippen. Den Namen ihres Schwagers auszusprechen fühlte sich fast so widerwärtig an wie damals seine Berührungen.

»Theoretisch wäre er pflichtteilsberechtigt, aber es ist kaum zu erwarten, dass er Ansprüche geltend macht. Er wird wegen Massenmords gesucht.«

»Was?«, entfuhr es Frieda und Anne gleichzeitig.

Entgeistert sahen sie zuerst einander und dann Carl an.

Und dann hörten beide in schockiertem Schweigen zu, was er ihnen zu berichten hatte, über die Ermordung mehrerer Dutzend Zwangsarbeiter, die Entdeckung des Massengrabs, die laufende Fahndung. Und das Todesurteil, das gegen Arnold ergangen war.

»Ihr wisst nicht zufällig, wo er sich aufhält, oder?«, fragte Carl, nachdem er mit seiner Schilderung fertig war.

»Wir haben ihn seit Jahren nicht gesehen«, erklärte Anne. »Und seine Mutter auch nicht.«

»Bist du extra deswegen nach Köln gekommen?«, fragte Frieda. »Um uns zu fragen, wo er ist?« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Also was genau willst du hier?«

»Wie ich schon sagte: Ich ermittle in dieser Angelegenheit, da ein Verbrechen vorliegen könnte.«

Mit Verbrechen meinte er logischerweise Mord. Anne hatte genug Kriminalromane gelesen, um das Unausgesprochene herauszuhören. Bei einem Mord erhob sich stets die Frage nach dem Motiv. Zum Beispiel Rache oder Hass. Und natürlich Geld. Das Testament hatte sofort in eine bestimmte Richtung gewiesen – hierher nach Köln, zu ihnen in die Schildergasse. Sie waren diejenigen, die von Adelheids Tod profitierten. Genau deshalb war er hergekommen: um ihnen ins Gesicht sehen und ihre Reaktionen beobachten zu können, während er ihnen diese Botschaft überbrachte. Er hatte sie unvorbereitet antreffen wollen, sodass sich vorher niemand seine Aussage zurechtlegen konnte.

Frieda kleidete Annes Gedanken in Worte. »Stehen wir unter Verdacht?«, fragte sie Carl geradeheraus.

»Dafür sehe ich bisher keine Anhaltspunkte«, antwortete er.

»Wie bist du überhaupt an unsere Adresse gekommen?«, wollte Anne wissen. In Essen wusste niemand, wo sie damals vor sechs Jahren hingezogen waren. Sie hatten es vor allen geheim gehalten und ihre Spuren verwischt.

»Reine Routine«, entgegnete Carl wie schon einmal. Seine Miene war unergründlich. »Würdest du deinem Mann zutrauen, dass er seine Mutter umgebracht hat?«, wollte er dann unvermittelt von Frieda wissen.

»Auf jeden Fall«, antwortete Frieda, ohne zu zögern. »Er ist zu allem fähig, wenn er richtig wütend ist. Passen würde es hundertprozentig zu ihm. Erst recht, nachdem er ja vorher schon ein paar Dutzend andere umgelegt hat. Ist doch so, oder?«

»Gewiss«, gab Carl zerstreut zurück, doch sein Blick richtete sich dabei auf Anne. »Würdest du deinen Schwager ebenfalls so einschätzen? Als einen Mann, der auch innerhalb der Familie zur Gewalttätigkeit neigt?«

»Und ob«, entfuhr es Anne.

»Das klingt, als würdest du aus eigener Erfahrung sprechen.«

Anne verfluchte sich stumm. Von der Vergewaltigung wussten nur drei Menschen: Sie selbst, Arnold, seine Mutter.

Adelheid war tot, das gehässige alte Biest. Und Arnold würde nach Lage der Dinge nie wieder auftauchen, nicht angesichts der Untaten, die er außerdem noch auf dem Kerbholz hatte.

Mit all dem, was sie seinetwegen durchgemacht hatte, musste sie allein fertigwerden. Das hatte sie sich damals um ihrer Schwester willen geschworen. Es war ihr rabenschwarzes Geheimnis und würde es bleiben. Niemandem war geholfen, wenn Frieda sich bis ans Ende ihrer Tage mit zusätzlichen Selbstvorwürfen zerfleischte. Sie war genau die Art Mensch, die dazu neigte und darüber ihre ganze Lebensfreude verlieren konnte. Schon oft genug hatte sie hervorgehoben, dass alles bloß ihre Schuld sei – sie habe Arnold in die Familie gebracht, nur seinetwegen hätten sie weglaufen müssen und dadurch alles verloren – Heimat, Freunde, ihr ganzes vertrautes Leben.

»Anne weiß sehr gut, wozu er fähig ist«, mischte Frieda sich ein. »Sie hat gesehen, was er mir angetan hat.«

Zu Annes Erstaunen nickte Carl. »Ich hörte davon«, erklärte er.

»Woher?«, fragte Frieda stirnrunzelnd. »Ich hatte die Anzeige gegen ihn doch sofort zurückgezogen! Warst du damals auch auf dem Revier beschäftigt?«

»Zu der Zeit nicht, ich war eine Weile außer Dienst. Doch ein Kollege hat mir von dem Vorfall erzählt, neulich erst. Der wusste auch noch über ein paar Einzelheiten Bescheid. Dass dein Mann dich krankenhausreif geprügelt hat und dass du kurz nach der Geburt deines Sohnes verschwunden bist, zusammen mit deinen Schwestern und dem Kind. Dein Mann konnte dich, wie es später hieß, trotz seiner Nachforschungen nicht ausfindig machen.«

»Vielleicht hätte er sich bei dir ein paar Routinemethoden abgucken sollen«, versetzte Frieda leichthin.

»Warum hast du damals die Anzeige gegen deinen Mann zurückgezogen?«

»Weil er mir damit gedroht hat, uns alle umzubringen. Eigenhändig. Er wollte es so machen, dass ihm keiner auf die Schliche kommt.«

»Und das hast du ihm geglaubt.« Es klang eher nach einer Feststellung als nach einer Frage. Trotzdem antwortete Frieda in scharfem Ton.

»Ja, ich habe ihm geglaubt. Ich war eine aktenkundige Herumtreiberin und er ein hochdekorierter SS -Offizier. Und bitte nenn ihn nicht immer meinen Mann

»Ihr seid aber noch verheiratet, oder?«

»Ich wäre schon längst geschieden, wenn die Zeiten nicht so verflucht schwer gewesen wären. Meinst du etwa, wir hätten Geld für Anwälte oder Gerichtsverfahren rauswerfen können?« Frieda klopfte mit dem Fuß auf den Boden, das tat sie oft, wenn sie ungeduldig war und ein Gespräch beenden wollte. Groß und aufrecht stand sie da, ein Bild von einer Frau, das schöne, klare Gesicht mit den hellen Augen und dem tragischen Zug um die Lippen ein schmerzlich vertrauter Anblick für Anne.

»Das ist deine kleine Schwester, sie heißt Elfriede«, hatten die Eltern zu Anne gesagt, als sie damals mit dem Baby aus der Klinik nach Hause gekommen waren. »Du musst immer gut auf sie aufpassen.«

Anne hatte das mit hellem Flaum bedeckte Köpfchen gestreichelt und es versprochen. Genauso wie nach Lottis Geburt. Sie war immer eine gute große Schwester gewesen. Und später eine gute Tante.

»Ist alles in Ordnung?« Das kam von Lotti. Sie hatte sich gegen Annes Anweisung ins Freie gewagt, mit Emil im Schlepptau. Scheu betrachtete sie den Mann aus Essen, ehe sie sich an Anne wandte. »Ist irgendwas Schlimmes passiert?«

»Nein, gar nicht«, antwortete Anne. Es klang betont fröhlich. Sie warf Carl einen bittenden Blick zu. Nicht vor den Kindern!

Sein kurzes Nicken signalisierte ihr, dass er verstanden hatte.

»Wir haben eine gute Nachricht erhalten«, sagte Frieda zu Lotti. »Emil hat ein Haus in Essen geerbt, was sagst du dazu?«

»Was für ein Haus?«

»Das in Rüttenscheid, wo wir früher mal kurz gewohnt haben.«

»Bei Tante Adelheid?«

»Genau.«

»Ist sie gestorben?«

»Ganz recht, sonst gäbe es ja nichts zu erben.«

»Wer ist Tante Adelheid?«, wollte Emil von seiner Mutter wissen.

»Niemand, den du kennst.«

»Warum kriege ich dann ihr Haus?«

»Sie fand dich als Baby so nett.«

Emil sah Carl an. »Stimmt das?«

Carl brummte etwas Zustimmendes, was ihn aber nicht daran hinderte, aufmerksam in die Runde zu blicken. Der Reihe nach musterte er die beiden Frauen, das Mädchen und den Jungen.

Anne besann sich auf ihre Manieren und überspielte damit zugleich ihr Unbehagen. »Carl, das ist Lotti, unsere jüngste Schwester. Lotti, das ist Herr Bruns aus Essen. Er hat uns über das Testament benachrichtigt.«

»Ziehen wir jetzt nach Essen in das Haus?«, wollte Emil wissen. »Wenn es mir gehört, können wir doch da einziehen.«

»Darauf kannst du wetten«, erwiderte Frieda, während im selben Moment Anne sagte: »Wohl kaum.«

Nach einem Moment konsternierten Schweigens fügte Anne erklärend hinzu: »In dem Haus ist sicher sowieso alles vom Keller bis unters Dach voll mit Zwangseinquartierungen, wahrscheinlich wimmelt es da nur so von Leuten.«

Carl blickte von einer zur anderen. »Das trifft zu, davon konnte ich mir schon ein Bild machen. Allerdings steht die Wohnung der Verstorbenen gerade leer. Die Leute, denen sie zuletzt ein Zimmer zur Verfügung stellen musste, sind schon vor ihrem Tod weitergezogen, eine Neubelegung war noch nicht erfolgt.« Er räusperte sich. »Die Wohnung wäre also verfügbar, sofern von Erbenseite dringender Bedarf besteht. Das kann sich aber schnell ändern, das Wohnungsamt ertrinkt in Anträgen von Menschen ohne Obdach.«

»Da siehst du’s, Anne«, sagte Frieda. An Carl gewandt, fuhr sie fort: »Wir haben Bedarf und nehmen die Wohnung. Was müssen wir dafür machen?«

»Das fällt in die Zuständigkeit des Nachlassgerichts. Und natürlich in die der Stadtverwaltung, wegen der benötigten Zuzugsgenehmigung.«

»Danke«, sagte Frieda. Ein Strahlen verklärte ihr Gesicht. »Danke für alles!«

Anne schluckte, doch sie sagte nichts mehr. Sie konnte Frieda nur zu gut verstehen. Da unten im Keller, das war kein Leben, schon gar nicht für ein Kind. Noch so einen Winter wie den vorletzten würden sie vielleicht nicht überleben. Reihenweise waren die Leute im Viertel erfroren, wenn sie nicht schon vorher verhungert waren.

Trotzdem würde sie mit Frieda in Ruhe darüber reden müssen. Nicht über alles, nicht über ihr Geheimnis. Aber sie konnte ihre Einwände auch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. In dieser Sache waren sie noch nicht am krausen Bäumchen.