A uch Carl dachte später während seiner Rückfahrt in einem abermals heillos überfüllten Zug darüber nach, dass er, was den Fall betraf, noch lange nicht am krausen Bäumchen war. In Essen und Umgebung stand dieses Sprichwort dafür, dass man sich an einem Punkt befand, der noch ein ganzes Stück vom Ziel entfernt war. Für eine Wegstrecke, die es noch zu überwinden galt.
Zurückzuführen war diese gern und häufig gebrauchte Redewendung auf eine Legende über einen besonderen Baum, eine uralte Linde, die einst auf dem Grab eines Essener Bischofs wuchs. Jene Linde, genannt das krause Bäumchen, diente zugleich als Grenzmarkierung – dort endete die Gerichtsbarkeit des Stiftsbezirks. Wer dieser entfliehen wollte, musste zuerst das krause Bäumchen erreichen, dann war er frei und hatte es geschafft.
Carl hatte das untrügliche Gefühl, noch sehr weit von der Lösung des Falls entfernt zu sein. Arnold Hoffmann war sein Hauptverdächtiger, aber Anne und ihre Schwestern hatten etwas zu verbergen. Alle drei. Vor ihm, aber möglicherweise auch voreinander. Von dem Testament hatten sie allerdings nichts gewusst, das konnte er mit Sicherheit ausschließen. Kein Mensch konnte so viel unverfälschte, reine Überraschung heucheln.
Das Wiedersehen mit Anne hatte er immer noch nicht richtig verdaut. Was für ein unglaublicher Zufall, ihr nach all der Zeit anlässlich einer Verbrechensermittlung zu begegnen, und dann auch noch ausgerechnet in Köln! Davor hatten sie viele Jahre lang beide in Essen gewohnt, nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, ohne sich auch nur ein einziges Mal über den Weg zu laufen.
Carl rief sich die gemeinsame Zeit ins Gedächtnis. Himmel, was für Kinder sie beide damals gewesen waren, er gerade achtzehn, sie erst knapp sechzehn! Sie waren ein paarmal im Kino gewesen und zum Baden am Baldeneysee. Carl erinnerte sich nur zu gut an seine brennende Scham wegen seiner jugendlichen Akne und seiner armseligen Brustbehaarung.
Er wusste immer noch nicht genau, warum es damals nach nur einem Sommer zwischen ihnen vorbei gewesen war, Anne hatte es ihm nicht gesagt. Nur, dass sie nicht mehr mit ihm gehen wollte.
Eine Weile hatte er unter Liebeskummer gelitten, aber im Winter darauf hatte er schon die nächste Freundin gehabt. Mit der hatte es auch nicht länger gehalten, aber so war es nun mal, wenn man jung war. Da ging’s ums Ausprobieren und Erwachsenwerden. Die Zeit für was Festes kam noch früh genug.
Er konnte nicht aufhören, an sie zu denken. An damals, an diesen kurzen, herzklopfend schönen Sommer mit Anne. Der Name passte zu ihr, auch wenn er keine Ahnung hatte, warum. Davon abgesehen hatte er sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ein bestimmter Name zu einer bestimmten Frau passte, nicht mal bei seiner eigenen, die Magdalena hieß. Magda für die Menschen, die sie gernhatten. Für ihn war sie immer noch Magda, sie waren Freunde geblieben, auch nach der Scheidung. Gestritten hatten sie nie, er war kein Mensch, der mit anderen aneinandergeriet. Sie war einfach irgendwann gegangen, weil sie nicht mehr ankam gegen die Wand aus Schwermut und Bitterkeit, hinter der er sich damals nach dem Ende seiner Laufbahn bei der Polizei verschanzt hatte.
Seine Gedanken mäanderten zwischen Magda und Anne hin und her, und er versuchte sich zu erinnern, wie es bei ihm und Magda gewesen war, ganz am Anfang, bei der ersten Begegnung. Carl entsann sich, dass ihre Schönheit ihn umgehauen hatte, ihr offenes Lachen, der Schmelz ihrer Jugend. Er hatte sich buchstäblich in sie verguckt.
Das, was er heute bei Anne empfunden hatte, war auf eine so tiefgehende Weise anders, dass er vermutlich für den Rest seines Lebens über die Beschaffenheit dieses Unterschieds nachgrübeln könnte, ohne dahinterzukommen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie seine erste Liebe gewesen war. Oder damit, dass er so lange keine Frau mehr richtig angesehen hatte. Als Mann. Da war der Krieg gewesen, dann die Arbeit, immer wieder die Arbeit … Anscheinend hatte er die ganze Zeit in einer Art Höhle verbracht. An einem leeren und einsamen Ort, wo es solche Gefühle nicht gab.
Seine Gedanken fokussierten sich immer wieder darauf, dass er sie wiedersehen würde. Weil er ein Recht darauf hatte, schon wegen des Falls. Und weil sie nach Essen ziehen würde, auch wenn sie es aus irgendwelchen Gründen nicht wollte. In das geerbte Haus, das von seiner Wohnung nur einen Steinwurf entfernt war. Sie würde mit Frieda darüber diskutieren, aber am Ende nachgeben, weil sie nicht zulassen konnte, dass der Kleine noch einen Winter in diesem Keller verbrachte. Carl kannte die Räumlichkeiten nicht, doch er wusste von Berufs wegen, wie es in solchen Kellern aussah. In Essen gab es viele davon – kalte, feuchte, verräucherte Rattenlöcher, in denen die Menschen mit dem Tod zusammenhausten.
Eine ungewohnte Beschwingtheit erfüllte ihn, als er sich vorstellte, wie ihre nächste Begegnung verlaufen könnte. Er würde die Befragung auf eine launige, entgegenkommende Weise gestalten. Unter keinen Umständen sollte es auf sie wirken, als wollte er sie strafbarer Handlungen bezichtigen, sondern eher so, dass sein menschliches Interesse an ihr in den Vordergrund rückte. Als wäre er kein Ermittler der Mordkommission, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Mann, der zufällig in der Nähe wohnte und von dem Verbrechen gehört hatte, über das man sich beiläufig unterhalten konnte. Er könnte ihr auch offenbaren, wie er sie und ihre Schwestern in Köln gefunden hatte – es war tatsächlich reine Routine gewesen.
Werner hatte ihn darauf gebracht. Arnold Hoffmann hatte auf einem Polizeifest, das er Ende 1941 zusammen mit seiner Frau wenige Tage nach ihrer Hochzeit besucht hatte, in Werners Beisein ganz beiläufig erwähnt, dass seine Schwägerin mit einem Posaunisten verheiratet war, der bei den Essener Philharmonikern spielte. Danach war es für Carl nicht weiter schwer gewesen, den Namen des Mannes und seiner Ehefrau zu ermitteln. Heinz und Annemarie Wiesner.
Nicht im Traum wäre Carl in den Sinn gekommen, dass es sich dabei um Anne handelte. Ihr Mädchenname war bei diesen Nachforschungen an keiner Stelle aufgetaucht, ebenso wenig wie der ihrer Schwester, weshalb Carl zu dieser Zeit nicht mal ansatzweise geahnt hatte, dass die gesuchte Elfriede Hoffmann niemand anderer war als Annes Schwester Frieda.
Das hatte er erst auf einem Umweg über das Versorgungsamt herausgefunden. Annemarie Wiesners Mann war im Krieg verschollen. Im vergangenen Jahr hatte sie ihn für tot erklären lassen und bezog seitdem eine Witwenrente, folglich lag dem Amt ihre Anschrift vor. In der von Carl eingeholten Auskunft war auch ihr Geburtsname erwähnt worden – Müller. Theoretisch hätte es eine zufällige Namensgleichheit sein können, es gab bestimmt eine Menge gebürtige Annemarie Müllers. Allerdings nicht mit einer zehn Jahre jüngeren Schwester namens Elfriede. Carl hatte spontan beschlossen, für seine weiteren Ermittlungen persönlich nach Köln zu fahren. Wenn jemand wusste, wo sich Elfriede Hoffmann und ihr Sohn aufhielten, dann sicherlich ihre Schwester Anne. Dass er dort gleich alle beide vorgefunden hatte, war reiner Zufall; Frieda hätte auch ganz woanders leben können.
Die Aussicht, Anne bald wiederzusehen, erfüllte Carl mit einer schon fast absurden Vorfreude. Gleichwohl empfand er auch ein leises Unbehagen, denn er hatte ihr und ihren Schwestern nicht erzählt, dass Arnold Hoffmann kurz vor dem Mord an seiner Mutter in Essen gesehen worden war.
Carl konnte sich dieses Versäumnis nur so erklären, dass er Anne keinen Grund hatte liefern wollen, vor einem Umzug nach Essen zurückzuscheuen. Was wiederum dem unausgegorenen Wunsch geschuldet war, sie möge auf irgendeine Weise wieder ein Teil seines Lebens werden.
Anne ging nicht davon aus, dass Arnold etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun hatte. Seit Carl ihnen von dem Massaker erzählt hatte, stand für sie völlig außer Frage, dass er sich vor dem Einmarsch der Alliierten auf Nimmerwiedersehen ins Ausland abgesetzt hatte, wie so viele andere Naziverbrecher. Rattenlinie nannte man ihre verborgene Route, die auf Schleichpfaden meist zuerst nach Spanien und von dort aus nach Südamerika führte.
Dass sie gleichwohl auf Carls Frage hin derart nachdrücklich Arnolds mögliche Täterschaft beim Mord an seiner Mutter bejaht hatte, war nur eine natürliche Reaktion gewesen. Eine Art Reflex, um jeglichen Verdacht, der sich gegen sie selbst richten könnte, von vornherein zu zerstreuen. Nicht jeder würde ihnen glauben, wie sehr diese Erbschaft sie überrascht hatte. Auch nicht jemand, mit dem sie in ihrer Jugend mal einen Sommer lang zusammen gewesen war.
Davon abgesehen war es jedoch gar keine Lüge gewesen. Arnold war zu jeder Art von Gewalt fähig. In Anne krampfte sich immer noch alles zusammen, wenn sie sich ins Gedächtnis rief, was er ihnen angetan hatte. Ihr und Frieda.
Er hatte Frieda damals im Krankenhaus ein Foto gezeigt, um ihr zu verdeutlichen, wie er sie umbringen würde, falls sie ihm Schwierigkeiten machte. Auf dem Bild waren mehrere tote Menschen zu sehen gewesen, darunter Frauen und Kinder, die auf der Ladefläche eines Lastwagens lagen.
»Weißt du, wie die verreckt sind?«, hatte Arnold Frieda gefragt, nur um sogleich selbst die Antwort darauf zu geben. »Mit Auspuffgasen. Geht ganz einfach. So würde ich es mit dir und deinen Schwestern machen, wenn du die Anzeige nicht zurückziehst. Und dasselbe, wenn du auf die Idee kommst, mich zu verlassen. Also versuch es gar nicht erst.«
Frieda hatte ihm einen bereits fertig ausgefüllten Wisch unterschreiben müssen. Mit links, weil der rechte Arm gebrochen war und bis zu den Fingerspitzen in Gips steckte. Der Armbruch und die vielen Blutergüsse stammten laut dieser Erklärung von einem Treppensturz. Keine Anzeige, keine Strafverfolgung. Dann hatten ihre Wehen eingesetzt.
Nach der Geburt war er noch einmal in die Klinik gekommen, zusammen mit seiner Mutter. Sie hatten Blumen und Pralinen mitgebracht und mit Tränen der Rührung das Kind bewundert. Was für ein schöner Junge, ganz der Vater! Arnold hatte Frieda auf die Stirn geküsst und erklärt, es werde alles wieder gut.
Zu der Zeit war die Entscheidung schon gefallen. Anne war in alles eingeweiht und hatte die Fluchtpläne ausgetüftelt. Gemeinsam mit Lotti hatte sie Frieda und das Baby nur Tage später im Krankenhaus abgeholt, mit spärlichem Gepäck und sorgsam ausgewählten Fahrkarten, die ihr wahres Ziel verschleierten, damit Arnold sich nicht auf ihre Fährte setzen konnte.
Von alldem hatten sie Carl nichts erzählt, aber das änderte nichts an den Tatsachen: Arnold war ein Mensch, vor dem man sich fürchten musste.
Im Laufe der Jahre hatte Annes Angst vor ihm nachgelassen, doch verschwunden war sie nie. Erst als Carl ihnen offenbart hatte, dass Arnold wegen Massenmords gesucht wurde, war auch der letzte Teil dieser Angst verflogen, wie ein hartnäckig haftender Gestank, der endlich von einer starken Brise davongeweht wird.
Trotzdem fürchtete Anne sich vor einer Rückkehr nach Essen. Genauer: vor dem Haus. Vor den Erinnerungen daran, was dort geschehen war und ihr Geheimnis bleiben musste. Bereits die bloße Vorstellung, täglich dort ein und aus gehen zu sollen, erfüllte sie mit Beklemmung und Abscheu. Und darüber musste sie mit Frieda sprechen – allerdings ohne den wahren Grund zu erwähnen. Es war wie die Quadratur des Kreises, ein Ding der Unmöglichkeit.
»Wir müssen über den Umzug reden«, sagte sie am Morgen nach Carls Besuch zu Frieda. Sie hatte gewartet, bis Emil zum Spielen rausgegangen und Lotti zur Schule aufgebrochen war. Ihre Schicht im Marienhospital fing erst am späten Mittag an, und Frieda hatte außer Schwarzmarktschiebereien nichts vor.
»Was gibt es da groß zu reden?«, fragte Frieda. »Ich finde, wir sollten gleich heute da hin und uns einquartieren. Ehe die noch jemand anders reinsetzen.«
»Und meine Arbeit hier am Krankenhaus? Wir brauchen das Geld!«
»Mit dem ganzen Papier kann man sich bald nur noch den Hintern abwischen. Wenn wir uns über Wasser halten wollen, müssen wir hamstern und uns auf dem Schwarzmarkt eindecken. Das ist meine Domäne, und das kann ich in Essen genauso gut wie hier. Oder etwa nicht?«
Anne hob stumm die Schultern, die Wahrheit ließ sich schlecht abstreiten.
»Als OP -Schwester kriegst du bestimmt schnell eine neue Stelle, die werden überall gesucht«, fuhr Frieda fort. »Wir müssen ja nicht ewig dort wohnen bleiben«, meinte sie dann unerwartet nachgiebig. »Nur so lange, bis wir woanders eine ordentliche Unterkunft gefunden haben. Vielleicht können wir das Haus verkaufen und uns ein anderes zulegen. Eins, das kleiner ist und irgendwo im Grünen steht.« Dann wurde ihr Gesicht hart, und mit einer ausholenden Geste erfasste sie die Umgebung. »Wir können nicht länger in diesem Loch hier hausen, Anne. Sieh dich doch mal um!«
Das war nicht nötig, Anne kannte jeden Winkel. Die kahlen, fensterlosen Wände, an denen immer wieder Wasser herunterlief. Die Schimmelflecken in den Ecken und an der Decke. Die rostigen, ständig tropfenden Rohre, die nutzlos aus der Wand ragten, weil sie nirgends mehr hinführten. Der nackte Fußboden, in dessen Vertiefungen sich bei jedem Regenguss Pfützen bildeten. Der ganze Raum war feucht, sogar im Sommer. Alles, was sie an Wäsche und Kleidung besaßen – es war ohnehin nicht viel –, war klamm und muffig. Wenn im Winter die Temperatur unter den Gefrierpunkt fiel, überzogen sich Wände und Fußboden mit einer Eisschicht. Emil hatte im vorletzten Januar eine Lungenentzündung bekommen und wäre wahrscheinlich gestorben, wenn Frieda nicht über irgendwelche geheimen Kanäle amerikanisches Penizillin beschafft hätte.
Ganz zu schweigen von der Dunkelheit, die hier unten herrschte. Sie mussten dauernd Lampen brennen lassen, um überhaupt was zu sehen. Der penetrante Gestank des Karbids war oft kaum auszuhalten, obwohl sie bei Wind und Wetter die Außentür offen stehen ließen, vor allem, wenn die Brennhexe zum Kochen in Betrieb war – zu viele Menschen waren schon an den giftigen Gasen erstickt, die sich in ihren Kellerwohnungen sammelten.
Strom gab es nicht, und von einem eigenen Wasseranschluss oder einer Heizung konnten sie nur träumen.
Im Vergleich dazu war die Wohnung von Adelheid ein Palast. Es gab darin sogar eine Wanne mit angeschlossenem Badeofen, und gekocht wurde mit Gas. Ein Kachelofen im Wohnzimmer, der mit Holz befeuert wurde, sorgte für Wärme. Anne war selbst zwei- oder dreimal dort gewesen, zu Kaffee und Kuchen bei Adelheid, und auch der Rest des Hauses war ihr vertraut: Frieda und Arnold hatten ihre Wohnung auf derselben Etage gehabt, direkt gegenüber von Adelheid. Und Anne war mit Lotti zur Miete in eins der Mansardenzimmer gezogen, nachdem sie ausgebombt worden waren. Zwei Monate hatten sie da gewohnt, hatten irgendwie versucht, mit dem Verlust der Mutter fertigzuwerden, die bei dem Bombenangriff gestorben war. Anne hatte einfach weitergemacht, hatte ihr Bestes gegeben, um Frieda und Lotti eine Stütze zu sein und ihr in Scherben gefallenes Leben zu kitten. Bis es an einem einzigen Tag erneut zerbrochen war.
Danach waren sie bei einer früheren Kollegin von Anne in Junkersdorf untergekrochen, bevor sie ein paar Wochen später eine eigene Wohnung angemietet hatten. Wo sie im letzten Kriegsjahr ebenfalls ausgebombt worden waren, um anschließend in diesem Loch hier zu landen. Es gab einfach nichts anderes, sie saßen fest. Von allen Seiten drängten Menschen nach Köln, jeder suchte händeringend irgendeinen Unterschlupf.
Anne zog die Schultern hoch, ihr war kalt, obwohl draußen bereits sommerliche Temperaturen herrschten. Hier drin wurde es niemals warm, und daran würde sich auch nichts ändern. Verbessern ließ sich ihre Lage nur, indem sie weggingen.
»Du hast recht«, sagte sie resigniert. »Vielleicht können wir das Haus verkaufen und mit dem Geld woanders neu anfangen.«
Frieda war schon aufgestanden und hatte angefangen zu packen.