Kapitel 5

Juni 1948

D er Sommer kam mit endlos langen, heißen Tagen und haufenweise Arbeit für Carl. Schwerverbrecher fuhren nicht in die Ferien. Davon abgesehen kannte Carl persönlich ohnehin niemanden, der das tat. Außer vielleicht Magda und ihr Ehemann Engelbert. Aber die beiden waren ein Sonderfall. Der gewöhnliche Essener Bürger verbrachte seinen Urlaub am Baldeneysee. Oder beim Hamstern, dafür konnte man nie genug Zeit haben.

Das Amtszimmer, in dem Carl seinen Innendienst versah, platzte aus allen Nähten. Zwischen verschrammten und angekohlten Aktenschränken drängte sich ein halbes Dutzend dicht beieinanderstehender Schreibtische, auf denen die Papierberge niemals kleiner wurden. Über allem hing permanent eine stinkende Wolke aus Zigarettenqualm und Männerschweiß.

Sie teilten sich zu sechst ein Büro, in dem früher zwei Leute gesessen hatten. Obwohl im ganzen Gebäude unter permanentem Krach gehämmert, gebohrt, gezimmert und gesägt wurde, war kaum mehr als ein Zehntel der über zweihundertfünfzig Räume wieder voll nutzbar. Auf allen Etagen gab es immer noch reihenweise kaputte Fenster und durchlöcherte Mauern, und auch das Dach war überall undicht, sodass es bei jedem Regenguss hereintropfte.

Carl schob die Akte weg, über der er gerade brütete – wieder mal der Fall Adelheid Hoffmann, bei dem er bisher kaum weitergekommen war. Die These, dass Arnold Hoffmann seine Mutter umgebracht hatte, mochte bequem sein, aber es gab aus Carls Sicht zu viele Ungereimtheiten. Er würde die Leute im Haus noch einmal befragen müssen, vor allem den Cellisten und die baltischen Zwillingsbrüder. Und natürlich Anne und ihre Schwestern.

Mit Frieda und Lotti hatte er nach deren Umzug bereits geredet. Zwar nur ein paar Takte zwischen Tür und Angel, aber lange genug, um sich ein genaueres Bild von ihnen machen zu können. Sein Eindruck, dass sie ein Geheimnis mit sich herumtrugen, hatte sich verfestigt. Aber auch hier galt die übliche Binsenweisheit, die Carl sich immer wieder vor Augen führte, um sich nicht zu verrennen – es musste nichts mit dem Fall zu tun haben. Der ganz normale und vor dem Krieg durchweg unbescholtene Bürger beging aktuell im Durchschnitt eine Straftat täglich. Mindestens. Fast immer hing es mit Nahrungsmitteln zusammen. Jedweder Handel außer der Reihe war unter Androhung von Strafe untersagt. Nahezu alles war verboten, und so gut wie niemand konnte überleben, wenn er sich an diese Verbote hielt.

Mit Anne hatte Carl seit jenem einen Mal in Köln noch nicht wieder gesprochen, er wollte es schon die ganze Zeit nachholen. Wofür er sie jedoch erst mal antreffen musste. Gleich nach dem Umzug hatte sie in einer Klinik in Huttrop angefangen und arbeitete dort in Nachtschichten, weshalb sie natürlich den Vormittag über schlief.

Carl hatte sie bereits zweimal verfehlt, aber heute sollte es endlich hinhauen, jedenfalls wollte er nachher noch mal sein Glück versuchen.

Werner, der am Schreibtisch direkt gegenüber saß, spähte auf die vor Carl liegende Akte. »Schon wieder der Hoffmann-Mord? Kannst du dich nicht endlich damit anfreunden, dass es Arnold war?«

Carl zuckte die Achseln. »Ich bin in der Sache noch nicht am krausen Bäumchen.«

Werner grinste. »Hängt das vielleicht mit Arnold Hoffmanns hübscher Schwägerin zusammen?«

Carl merkte, dass er rot anlief. Er hatte den Fehler begangen, Werner von seiner Jugendfreundschaft mit Anne zu erzählen. »Es hat nichts mit ihr zu tun.«

»Aber es macht die Ermittlungen in der Klarastraße auch nicht gerade lästiger, was?« Werners Grinsen vertiefte sich.

Das wollte Carl nicht so stehen lassen. »Irgendwas an der ganzen Sache stößt mir auf. Wusstest du beispielsweise, dass Adelheid Hoffmann früher woanders gelebt hat? Sie ist mit ihrem Sohn erst Anfang vierunddreißig nach Essen gezogen.«

»Ja, das ist mir bekannt«, erwiderte Werner. »Adelheid Hoffmann hat damals das Haus in der Klarastraße gekauft. Im selben Jahr ist Arnold Hoffmann in den Polizeidienst eingetreten. Ist doch alles aktenkundig. Worauf willst du hinaus?«

»Darauf, dass in ihrem Geburtsort niemand die beiden kennt. Dem Familienstammbuch zufolge stammen sie aus einem Kaff bei Bremerhaven. Es gibt aber keinerlei Nachweis, dass sie jemals da gelebt haben. Fehlanzeige im Geburtenregister. Ebenso beim Einwohnermeldeamt, obwohl sie angeblich bis vierunddreißig dort gewohnt haben. Das gilt auch für den Mann, der im Stammbuch als Arnold Hoffmanns Vater eingetragen ist. Lauter Phantome.«

Werner runzelte die Stirn. »Vielleicht sind die Einträge im Krieg vernichtet worden, da sind ja viele Archive in Flammen aufgegangen.«

»Nein, die Register sind dort vollständig erhalten.«

»Denkst du, dass sie ihre Papiere gefälscht hat?«

»Das ist die einzige logische Erklärung«, stimmte Carl zu.

»Dann wird sie wohl irgendwelche Leichen im Keller gehabt haben.«

»Das liegt zumindest nahe. Die Fälschungen sind – wenn es welche sind – sehr gut gemacht, es muss sie eine Menge gekostet haben. Die Frau hat eine Vergangenheit. Vielleicht finde ich da noch eine Spur.«

»Was hat dich überhaupt dazu gebracht, in dieser Richtung zu ermitteln?«

»Reiner Zufall«, sagte Carl. »Eine Nachbarin bezeichnete Adelheid Hoffmann als eine, ich zitiere: Bazi-Scharteke. Da habe ich mich noch mal bei den Bewohnern des Hauses umgehört und so erfahren, dass Adelheid Hoffmann bayerischen Dialekt sprach. Nicht sehr ausgeprägt, sie hat sich wohl meist um eine hochdeutsche Aussprache bemüht, aber ihr Dialekt klang durch. Jedenfalls sprach sie keine Spur hanseatisch.«

Werner runzelte nachdenklich die Stirn. »Arnold Hoffmann hat Hochdeutsch gesprochen, daran erinnere ich mich genau.« Er schüttelte den Kopf. »Egal, wen interessiert das noch, seine Mutter ist tot, und er selbst hat ein Todesurteil am Hals, da fragt doch keiner mehr nach irgendwelchen Urkundenfälschungen. Und wir haben hier noch genug andere böse Jungs.« Er deutete auf die Aktenstapel zwischen ihnen, die ihnen täglich vor Augen führten, dass sie mit ihrer Arbeit nie fertig wurden. Früher waren die Stapel niedriger gewesen, aber da hatten sie für die Ablage auch noch mehr Platz gehabt. Etliche Aktenräume waren bei der Bombardierung der Vernichtung anheimgefallen, weshalb ihnen seit Jahren nichts anderes übrig blieb, als die Fallunterlagen im Büro zu horten.

Carl lehnte sich auf seinem wackligen Stuhl zurück und strich das durchgeschwitzte Hemd am Körper glatt. Er sehnte sich nach einer großen Schüssel mit kaltem Wasser zum Waschen. Und nach einer Stulle. Egal in welcher Reihenfolge. In jedem Fall brauchte er beides, ehe er zu Anne ging. Mit einem frischen Hemd und ohne Magenknurren. Er hasste es, wenn ihm im Beisein anderer der Magen knurrte, und das galt erst recht in Bezug auf Anne.

Carls und Werners Vorgesetzter betrat den Raum und bahnte sich seinen Weg durch das eng stehende Mobiliar bis zu ihren Schreibtischen. Kriminaloberinspektor Döring war Ende vierzig, ein zwei Meter langer, dürrer Mensch, der unter den Kollegen allseits beliebt war. Er kehrte so gut wie nie den Dienststellenleiter hervor und hatte trotzdem jeden Fall genau im Blick.

Neben Carls Schreibtisch blieb er stehen und hielt ein Formular mit einer Meldung hoch. »Gerade von einer Streife reingekommen.« Er sprach mit erhobener Stimme, um die Geräuschkulisse aus Schreibmaschinengeklapper, Telefonklingeln und Kollegengesprächen zu übertönen. »Ein Leichenfund in Heisingen. Da muss sofort einer hin.«

»Klar.« Carl klappte die Akte zu und erhob sich.

Werner räusperte sich. »Wenn du willst, übernehme ich das, dann kannst du unterdessen noch mal wegen der Hoffmann-Sache in die Klarastraße.« Von Döring unbemerkt zwinkerte er Carl zu.

»Das hat Zeit bis später, ich kann vorher nach Heisingen fahren«, erwiderte Carl. Es war erst halb elf. Annes Nachtschicht ging immer bis sechs Uhr früh, es dauerte also noch mindestens drei Stunden, bis sie ausgeschlafen hatte und er bei ihr klingeln konnte. Eher vier, wenn man Anziehen und eine Mahlzeit hinzurechnete.

Döring nahm ihnen die Entscheidung ab. »Sie fahren besser beide nach Heisingen«, sagte er. »Die Sache geht vor. Jede Beobachtung ist wichtig. Das Opfer wurde offenbar übel zugerichtet. Regelrecht massakriert. Der Kollege meinte, man sollte sich auf was gefasst machen.«

Carl und Werner wechselten Blicke. Das klang nicht nach einem der üblichen Fälle. Sie brachen sofort auf.

*

Der Fuhrpark für die motorisierten Einsätze bestand aus einem Sammelsurium vorsintflutlicher und größtenteils maroder Fahrzeuge. In letzter Zeit hatte es geheißen, dass neue Autos angeschafft werden sollten, doch davon war hier weit und breit nichts zu erkennen. Stattdessen standen immer noch dieselben uralten grünen Minnas mit Holzvergaser auf dem Hof, lauter zerbeulte Vorkriegskarossen mit löcherigen, bis auf die Straße hängenden Auspuffrohren. Einige dieser Klapperkisten bestanden fast nur noch aus zusammengeschusterten, ebenfalls jahrzehntealten Ersatzteilen. Nicht selten kam es vor, dass man während eines Einsatzes liegen blieb und erst mal unter der Motorhaube nach der Ursache forschen musste.

An diesem Tag war zu Carls und Werners Erleichterung noch ein Krad verfügbar, das sie sich sofort unter den Nagel rissen, bevor es ihnen ein Kollege wegschnappen konnte.

Die alte Zündapp gab allerdings während der Fahrt bedenklich knatternde und spuckende Geräusche von sich, die es zweifelhaft erscheinen ließen, dass sie damit ihr Ziel erreichten. Es klang, als würde der Motor an der nächsten Ecke schlappmachen. Werner, der sich hinter Carl auf den Sozius gequetscht hatte, rief ihm ins Ohr:

»Hört sich ganz so an, als müssten wir gleich den Rest zu Fuß gehen!«

Doch zu ihrer Erleichterung schafften sie die gesamte Strecke. Sie stellten das Krad an der Straße ab und kletterten einen bewachsenen Abhang hinunter, wo der Streifenpolizist, der den Fall ans Präsidium gemeldet hatte, bereits auf sie wartete. Der Fundort der Leiche befand sich in einer von Dickicht umwucherten Senke am Nordufer des Baldeneysees, ganz in der Nähe einer großen Kohlenzeche, deren Förderturm im Hintergrund in die Höhe ragte. Aus der angeschlossenen Brikettfabrik stieg schweflig-gelber Qualm empor, der sich in alle Richtungen ausbreitete und die gesamte Umgebung verpestete. Doch das war nichts gegen den Gestank, der in der drückenden, schwülen Sommerhitze von der Leiche ausging.

Spielende Kinder hätten den Toten am See gefunden, erzählte der Polizist, während er Carl und Werner zum Fundort führte. Er wirkte sichtlich mitgenommen und hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, als sie die Stelle erreichten.

Carl wollte es ihm gleichtun, stellte aber fest, dass er kein Taschentuch dabeihatte, also beschränkte er sich darauf, Mund und Nase mit dem Unterarm abzuschirmen, während er sich über den Leichnam beugte. Der Tote lag auf dem Rücken. Hunderte von Schmeißfliegen umschwärmten seinen Kopf und bedeckten das Gesicht wie ein schwarzblau schillernder Teppich. Sie stoben in summenden Wolken auf, als Carl sie mit einer Handbewegung verscheuchte.

»Mein Gott!«, sagte Werner, der im Gegensatz zu Carl ein Taschentuch dabeihatte und es sich vor die Nase drückte. »Sieht aus, als hätte man ihn skalpiert! Und ihm dabei auch gleich das Gesicht abgerissen.« Nach genauerem Hinsehen ergänzte er: »Und die Zähne zertrümmert.«

»Das ist noch nicht alles«, sagte der Streifenbeamte. »Sehen Sie sich die Hände an!«

»Welche Hände?«, meinte Werner lakonisch.

»Eben!«, erwiderte der Streifenpolizist. In seinem knabenhaften Gesicht spiegelte sich Entsetzen. Er war noch grün hinter den Ohren, höchstens zwanzig, und wie es schien, war das hier sein erster richtig schlimmer Leichenfund.

Carl begutachtete die Verletzungen des Toten genauer. Die Hände waren oberhalb des Handgelenks abgetrennt worden. Nicht besonders fachmännisch, es sah nicht nach chirurgischer Finesse aus, sondern eher nach der rohen Gewalt, mit der auch Teile des Haarschopfs und der Gesichtshaut vom Kopf des Toten entfernt worden waren. Er ging in die Hocke, um den Boden rund um die Leiche näher in Augenschein zu nehmen.

»Hier ist er nicht gestorben«, stellte er fest.

»Woher wollen Sie das wissen?«, erkundigte sich der Streifenpolizist.

»Nicht genug Blut auf der Erde«, erklärte ihm Werner.

»Und auch nicht an der Leiche«, fuhr Carl fort. »Die Verletzungen sind post mortem entstanden.«

»Was bedeutet das?«, fragte der junge Beamte.

»Dass er nicht daran gestorben ist, sondern an was anderem«, belehrte Werner ihn. »Der Mann war bereits tot, als man ihm die Hände abgehackt und das Gesicht runtergerissen hat.«

»Oh. Ach so.« Der junge Beamte wirkte erleichtert.

»Haben Sie schon Leute gefunden, die was gesehen oder gehört haben könnten?«, fragte Carl ihn. »Die Kinder vielleicht?«

»Die wissen nichts. Mein Einsatzkollege ist rüber zur Zeche und fragt nach, vielleicht hat da einer was mitgekriegt.«

»Da sehe ich eher schwarz«, warf Werner ein. »Wenn das Opfer woanders umgebracht und dann nur hier abgeladen wurde, hat der Mörder bestimmt drauf geachtet, dass es keiner mitbekommt.« Er beschattete die Augen und ließ seinen Blick hangaufwärts schweifen. »Sieht für mich so aus, als hätte ihn irgendwer da oben von der Straße aus hier runtergezogen.«

Carl nickte, er hatte die Schleifspuren zwischen den Büschen auch schon bemerkt.

Der junge Streifenpolizist schauderte. »Wer tut einem anderen Menschen so etwas Grauenhaftes an? Wie krank muss so einer sein?!«

»Nicht krank, sondern darauf aus, dass das Opfer nicht zu identifizieren ist.« Carl richtete sich auf und trat ein paar Schritte zurück, damit er endlich wieder richtig Luft holen konnte, aber der Verwesungsgeruch hing noch in seiner Nase und quetschte ihm die Eingeweide zusammen. Er würgte und drehte sich um, für den Fall, dass er sich übergeben musste. Doch er schrammte noch mal haarscharf dran vorbei, wenigstens diese Peinlichkeit blieb ihm erspart. Früher hatte er bessere Magennerven gehabt. Der ständige Hunger ruinierte eindeutig die Gesundheit.

*

An diesem Tag schaffte Carl es nicht mehr in die Klarastraße. Die Ermittlungen in der neuen Mordsache forderten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er überwachte persönlich den Leichentransport in die Rechtsmedizin, deren Räume sich in einem miefenden Keller ohne Tageslicht befanden – so wie die anderen Abteilungen der Städtischen Krankenanstalten, soweit sie nicht verlegt oder ganz geschlossen worden waren. Über der Erde war nach dem Krieg von dem einstmals weitläufigen Gebäude nicht viel übrig geblieben; die Aufbauarbeiten würden noch Jahre dauern.

Der zuständige Pathologe hieß Wielspütz und war in Carls Alter. Diverse Mordfälle hatten es mit sich gebracht, dass sie einander schon seit Jahren kannten. Er war ein kleiner Mann mit vogelartigen Gesichtszügen und einer dicken Brille, hinter der seine Augen riesenhaft vergrößert wirkten. Die morbiden Seiten seines Berufs kompensierte er gern durch lockere Sprüche, über die er sich selbst am meisten amüsierte.

»Klar, für Sie mache ich es so schnell wie möglich«, sagte er launig zu Carl. »Nicht, dass der Gute uns noch wegläuft.«

Carl rang sich pflichtschuldigst ein Lächeln ab.

»Kommen Sie doch auch dazu«, schlug Wielspütz dann vor. »Vier Augen sehen mehr als zwei.« Er grinste. »Vor allem, wenn das erste Augenpaar fünfmal so viele Dioptrien hat wie das zweite.«

Carl lachte, das war ausnahmsweise wirklich witzig.

»Klar, ich komme. Wann?« Er hatte schon häufiger an amtlichen Obduktionen teilgenommen. Es machte ihm nicht viel aus, solange er dabei eine vernünftige Maske tragen konnte.

»Morgen früh um neun«, sagte Wielspütz. »Seien Sie pünktlich.«

»Ich versuch’s.«

Anschließend kehrte Carl ins Präsidium zurück und verfasste einen ersten Fallbericht, vorschriftsmäßig mit Durchschlag, auf der steinalten Adler-Schreibmaschine, die er sich mit Werner teilte und bei der das e immer aussah wie ein o . Die Komma-Taste klemmte außerdem beharrlich und funktionierte bloß sporadisch. Carl hatte sich angewöhnt, nur noch sehr kurze Sätze zu schreiben.

Während er arbeitete, kamen weitere Meldungen auf seinen Schreibtisch geflattert. Ein Leichenfund in Kupferdreh, mehrere skelettierte Tote in einem aufgelassenen Stollen. Wahrscheinlich noch aus dem Krieg, aber genau wusste man es nie, es musste immer jemand von der Kripo hin und den Fall aufnehmen. Doch das hatte Zeit bis morgen oder übermorgen.

Danach wurde er von mehreren Anrufen auf Trab gehalten. In Duisburg trieb anscheinend ein Serienmörder sein Unwesen, und es gab Hinweise darauf, dass er früher schon ähnliche Taten in Essen begangen hatte. Carl versprach dem Kollegen von der Duisburger Dienststelle, sich umzuhören und die Aktenbestände zu sichten.

Wenig später stellte die Vermittlung einen ungewöhnlichen Anruf zu ihm durch, er kam von einem Public Safety Officer der britischen Militärregierung. Sein Name war Thomson, Lieutenant Thomson.

»Es geht um den Fall Hoffmann«, erklärte er in flüssigem und nahezu akzentfreiem Deutsch, was bei der britischen Militärverwaltung eine Ausnahme darstellte. Meist wurden für Dienstgespräche Dolmetscher herangezogen. »Es heißt, dass Sie der zuständige Ermittler sind.«

»Das ist richtig. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen, Lieutenant?«

»Wir hörten, dass Arnold Hoffmann wieder in der Gegend ist.« Unverhohlener Ärger klang aus der Stimme des britischen Offiziers. »Da läuft ein Massenmörder von der SS immer noch frei in der Gegend herum, aber bei der Polizei regt sich nichts! Warum läuft die Fahndung nicht längst auf Hochtouren?!«

Carl fiel auf die Schnelle keine Antwort ein. Er fragte sich, wieso Thomson überhaupt ihn anrief statt Döring. Und vor allem, woher Thomson von Arnolds Auftauchen wusste. Hatte etwa Schneider …?

Gleich darauf wurde seine Vermutung bestätigt.

»Wie kann es sein, dass ein alter Nazi uns diese wichtige Information liefert, statt dass wir es direkt von Ihnen erfahren?«, tönte Thomsons wütende Stimme aus dem Hörer. »Bruns, wir haben Sie vor drei Jahren zur Polizei zurückgeholt! Weil es kaum noch Unbelastete gab und Sie einer davon waren! Wir dachten, dass wir auf Sie zählen können, wenn es darum geht, diese Nazischweine zu jagen! Und dann müssen wir uns von einem braunen Drecksack wie Schneider erzählen lassen, dass die Essener Kripo sich einen Scheiß für Arnold Hoffmann interessiert!«

Carl biss die Zähne zusammen, ehe sein Zorn ihn dazu verleiten konnte, aus der Haut zu fahren. Er rang sich zu routinierter Höflichkeit durch. »Ich werde mich darum bemühen, dass die Fahndung nach Hoffmann verstärkt wird, Lieutenant Thomson.«

Damit schien er Thomson den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als der britische Offizier sich verabschiedete, klang sein Tonfall beinahe versöhnlich.

Nach dem Telefonat saß Carl eine Weile reglos da und versuchte, seinen Ärger in den Griff zu bekommen. Schneider hatte absichtlich an seinem Stuhl gesägt!

Carl beschloss, darüber mit Döring zu sprechen. Das musste er sowieso tun, denn erweiterte Fahndungsmaßnahmen mussten von der Behördenleitung abgesegnet werden, das konnte er nicht ohne Rückendeckung veranlassen.

Doch an diesem Tag ließ sich ohnehin nicht mehr viel ausrichten; Döring war bereits gegangen. Auch die anderen hatten schon Feierabend gemacht. Zwei Kollegen vom Bereitschaftsdienst waren in der Stadt unterwegs, Carl war der Letzte im Büro. Arbeit gab es immer noch mehr als genug, aber für heute reichte es ihm. Er warf alle unerledigten Akten auf den immer höher werdenden Stapel und ging nach Hause.

*

Er lebte immer noch in demselben Mehrparteienhaus in der Rosastraße, wo Magda und er früher zur Miete gewohnt hatten. Sie war nach der Scheidung zu ihrer Mutter nach Werden und später zu ihrem neuen Ehemann gezogen und Carl zwei Etagen höher in eine leer stehende Mansarde. Seine Einrichtung war von der Sorte, die sich in vielen Nachkriegshaushalten fand – ein Provisorium aus ausrangierten alten Sachen, selbst zusammengezimmerten Behelfsmöbeln und geschnorrtem Inventar von Leuten, die durch die Bombardements weniger verloren hatten als andere.

Das Haus war bei einem der vielen Luftangriffe beschädigt worden, im Dach hatten meterbreite Löcher geklafft, aber Frau Schulte, die Eigentümerin, hatte ihre Beziehungen spielen lassen: Ihr verstorbener Ehemann hatte eine kleine Dachdeckerfirma betrieben, und seine Leute hatten auf irgendwelchen Schleichpfaden das benötigte Material herangeschafft. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatten sie Holzsparren, Teerpappe und Dachziegel durchs Haus nach oben geschleppt, und die Bewohner hatten tatkräftig mit angepackt, alle hatten sie gern wieder ein intaktes Dach über dem Kopf haben wollen. Vor allem Carl, dessen Bett genau unter so einem Loch gestanden hatte. Bei seiner Rückkehr aus dem Luftschutzkeller hatte er davon nur noch ein Häufchen Asche vorgefunden, und auch von seiner restlichen Habe war nur wenig heil geblieben.

Inzwischen besaß er wieder das Nötigste, obwohl es kein Vergleich zu früher war. Magda hatte damals noch eine klassische Aussteuer in die Ehe mitgebracht, allerhand edles Zeug wie Tischtücher aus Damast, Silberbesteck, feines Porzellangeschirr und Kristallgläser, alles hatte perfekt zueinandergepasst. Natürlich hatte sie die Sachen bei ihrem Auszug mitgenommen. Seither setzte sich Carls Kücheninventar aus lauter verschrammten, abgestoßenen Einzelteilen zusammen, und das meiste davon brauchte er nicht mal. Morgens und mittags aß er Stullen, nach Feierabend richtete er sich für gewöhnlich nochmals eine Kleinigkeit zum Essen her, soweit seine Vorräte dafür reichten, aber die Kochplatte schaltete er dafür nur selten an. Meist gab es irgendwas direkt aus der Büchse oder ein Stück Brot, wenn noch welches vom Morgen übrig war.

Er setzte gerade einen Fuß auf die unterste Treppenstufe, als sich die Tür der Erdgeschosswohnung öffnete und in einer Wolke aus Kohldünsten die Hauseigentümerin auf der Bildfläche erschien. Sie hatte einen vollen Wäschekorb unterm Arm und ein mageres kleines Mädchen an der Hand.

»n’ Abend, Herr Bruns.«

»n’ Abend, Frau Schulte.«

Berta Schulte war eine energische, umtriebige Person, die über alles, was im Haus passierte, immer bestens informiert war. Sie war mindestens fünfundsiebzig, aber ihrem scharfen Auge entging nichts.

»Dat Blag war den ganzen Nachmittag bei mir«, teilte sie Carl nach der Begrüßung übergangslos mit. »Ich muss mich getz endlich in Ruhe um die Wäsche kümmern.« In diesem Fall meinte sie nicht ihre eigene Wäsche, sondern die von Carl, die sie für einen wöchentlichen Zuschlag zur Miete für ihn mitmachte, inklusive Bügeln und Ausbessern. Zu dem Kind sagte sie mit freundlichem Nachdruck: »Getz gehsse mal noch en Stündchen mit hoch zu Onkel Bruns, der zaubert dich wat vor!«

Carl fügte sich mit einem stummen Seufzer in das Unvermeidliche. Aus dem einen Stündchen würden wahrscheinlich wieder zwei werden, Bärbels Vater war die Unzuverlässigkeit in Person.

Im Haus wohnten mehrere Familien, bei denen sich Bärbel ebenfalls ab und zu aufhielt, doch wenn es den Leuten zu viel wurde, schickten sie das Mädchen einfach wieder raus. Bei den beengten Wohnverhältnissen, die wegen der Zwangseinquartierungen derzeit fast überall herrschten, war das meist schnell der Fall.

Von den Hausbewohnern fühlte sich nur Berta Schulte berufen, regelmäßig ein Auge auf Bärbel zu haben. Doch sie scheute auch nicht davor zurück, den Staffelstab umgehend an Carl weiterzureichen, sobald er von der Arbeit nach Hause kam – sie wusste genau, dass er das Mädchen nicht einfach wegschicken würde. Bärbel war erst fünf, da konnte sonst was passieren, wenn man sie allein losziehen ließ. Bei der Polizei konnte man die Fälle, wo Kinder – vor allem die kleineren – beim Spielen ums Leben kamen, bald nicht mehr zählen. Sie wurden von herabstürzenden Trümmern erschlagen, fielen von Mauerruinen, wurden von Blindgängern zerrissen oder ertranken in den offenen Abwasserkanälen. Manche verschwanden auch einfach unter ungeklärten Umständen und wurden später irgendwo tot aufgefunden, häufig sogar ohne vorangegangene Vermisstenmeldung. In den Westzonen gab es zigtausende verwaister Kinder. Nur ein Teil von ihnen war in Heimen untergebracht; viele streunten wie wilde Tiere durch die zerbombten Städte und schlugen sich auf eigene Faust durch.

Bärbel hatte wenigstens noch ihren Vater, die beiden hausten in einem der Kellerräume. Die Mutter des Kindes war vor zwei Jahren an Cholera gestorben. Kurt Böhm war allerdings nicht unbedingt die Art von Vater, die man einem kleinen Mädchen wünschte. Er war nur selten daheim. Tagsüber arbeitete er als Pförtner auf Langenbrahm, und nach Feierabend trieb er sich gern noch stundenlang in der Gegend herum. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren hatte er vermutlich das Gefühl, im Leben zu kurz gekommen zu sein – was fraglos zutraf. Vier Jahre lang hatte er als Wehrmachtssoldat für Führer, Volk und Vaterland den Kopf hingehalten. Im letzten Kriegsjahr war seine linke Hand von einer Granate zerfetzt worden. Zu allem Überfluss hatte er anschließend noch ein Jahr in einem Internierungslager absitzen müssen. Seit dem Verlust seiner Frau kümmerte er sich allein um sein Kind, es gab weder Großeltern noch sonstige Verwandte, jedenfalls keine, von denen Carl gewusst hätte.

Seine Tochter behandelte Kurt Böhm nicht allzu schlecht, er krümmte der Kleinen kein Haar und brüllte sie auch nicht an. Doch er tat auch sonst nicht viel – das Kind war ihm mehr oder weniger gleichgültig, er ignorierte es die meiste Zeit.

Carl nahm Bärbel mit zu sich nach oben. Er ließ sie am Spülstein Gesicht und Hände waschen, dann teilte er seine letzte Dose Corned Beef mit ihr.

»Zauberst du mich getz wat vor?«, fragte die Kleine, nachdem sie ihre Portion heruntergeschlungen hatte. Ein erwartungsvolles Leuchten stand in dem schmalen Gesicht, das kaum über die Tischkante reichte.

»Zauberst du mir jetzt was vor«, korrigierte Carl. Er fand, dass man nicht früh genug damit beginnen konnte, Kindern richtiges Hochdeutsch beizubringen, umso leichter hatten sie es später. Er selbst hatte es erst mit Ach und Krach in der Volksschule gelernt, anfangs war es ihm fast wie eine fremde Sprache vorgekommen. Bei ihm zu Hause war nur Platt gesprochen worden.

»Zauberst du mir jetzt was vor«, wiederholte Bärbel ungeduldig und mit fehlerfreier Aussprache, und Carl war wieder einmal erstaunt über die Lernfähigkeit der Kleinen. Für ihr Alter schien sie eine Menge Grips zu haben. Er hatte keine Ahnung, ob es normal war, dass Fünfjährige bis hundert zählen und zweistellige Zahlen im Kopf addieren und subtrahieren konnten, doch die Regel war es ganz sicher nicht.

»Na schön. Was braucht ein guter Zauberer als Erstes?«

»Ein schwarzen Umhang.«

»Einen schwarzen Umhang.«

»Einen schwarzen Umhang«, wiederholte Bärbel ungeduldig.

Carl warf sich mit Schwung den schwarzen Umhang über die Schultern und knotete ihn vor der Brust zu. Eigentlich war es nur eine verschlissene dunkelblaue Übergardine, die er im Sommer als Bettdecke benutzte, aber das tat der magischen Wirkung keinen Abbruch. Er zauberte der Kleinen eine Münze hinterm Ohr hervor, ließ das präparierte Geldstück mit einem Fadentrick vor ihrer Nase hin und her tanzen und anschließend in seiner Hand verschwinden, bevor es – Abrakadabra  – in der anderen Hand wiederauftauchte.

Bärbel quietschte vor Begeisterung, und Carl merkte, dass er selbst von einem bis zum anderen Ohr grinste.

»Getz ein Kartenzauber«, verlangte sie. »Einen Kartenzauber«, verbesserte sie sich, ehe Carl es tun konnte.

Er holte das abgegriffene Skatspiel hervor und ließ sie aus dem verdeckt aufgefächerten Stoß eine Karte wählen. Die steckte sie, ohne dass Carl sie zu sehen bekam, wieder zurück in den Stapel, von dem sie dann sorgfältig mehrmals abhob und aus den einzelnen Stößen einen neuen Stapel bildete. Natürlich konnte Carl dank seiner Zauberkraft anschließend unter allen zweiunddreißig Karten diejenige herausziehen, die sie sich ausgesucht hatte.

Bei einem anderen Trick, den er ihr bisher noch nicht vorgeführt hatte, holte er farblich zueinanderpassende Paare unter einem Tuch hervor, obwohl er die Karten vorher vor ihren Augen gemischt hatte und gar nicht sehen konnte, was er zog.

Bärbel saß ungläubig staunend daneben und versuchte dahinterzukommen, wie er es machte. Sie beobachtete mit Argusaugen seine Finger beim Mischen und Sortieren, untersuchte sorgfältig die Rückseiten der Spielkarten, wollte zur Sicherheit immer noch ein letztes Mal abheben und konnte nicht fassen, dass er hinterher doch wieder zielsicher die passenden Karten herauszog.

»Wie geht das?«, wollte sie wissen, so wie jedes Mal, wenn er einen neuen Trick vorführte.

»Zauberer können so was eben. Es ist Magie.«

»Ich will auch Zauberer werden!« Bettelnd sah sie ihn an. »Kannst du mich dat lernen?«

»Lehren.«

Bärbel verdrehte die Augen, wiederholte aber gehorsam das richtige Wort.

»Die Sache ist die«, erklärte er. »Wenn man es lernt, ist die Magie weg. Dann können nur noch die Leute drüber staunen, denen man es vorführt. Selber kann man dann nicht mehr staunen, weil man ja weiß, wie es geht. Dabei ist das Staunen aber eigentlich das Beste am Zaubern, findest du nicht?«

Bärbel dachte nach und nickte schließlich zögernd. »Das Staunen ist schön.«

»Vielleicht kannst du’s später irgendwann lernen, wenn du älter bist«, schlug Carl vor. »Und bis dahin noch ein bisschen staunen.«

Damit war sie einverstanden. Und auch damit, dass sie in der verbleibenden Zeit, bis ihr Vater sie abholen kam, noch zusammen Radio hörten.