Kapitel 12

Sonntag, 20 . Juni 1948

A m Tag der Währungsreform war in Essen alles auf den Beinen, was laufen konnte. In sämtlichen Stadtteilen pilgerten die Leute schon frühmorgens los, um sich das neue Geld abzuholen. Auch in Rüttenscheid bildeten sich vor den Ausgabestellen innerhalb kürzester Zeit lange Schlangen, die sich rasch in ein immer dichter werdendes Gedränge verwandelten. Carl sah etliche frustrierte Gesichter und hörte die Leute murren. Aber mindestens ebenso viele zeigten sich erwartungsfroh und zuversichtlich. Den Menschen war die immense Hoffnung anzumerken, die sie mit der Währungsumstellung verbanden – nicht weniger als das Ende von Hunger und Entbehrung. Und es gab Zeichen, dass diese Hoffnung nicht ins Leere ging: Ludwig Erhard, der Wirtschaftsdirektor der Bizone, hatte im Radio bereits die Aufhebung der Zwangswirtschaft angekündigt. Rationierungen und Preisbindungen sollten schrittweise entfallen. Ein Hauch der so sehnsüchtig erwarteten neuen Zeit wehte an diesem Sonntagmorgen über Rüttenscheid.

Zu Carls Verdruss war das erste bekannte Gesicht, das ihm in der Menge auffiel, dasjenige seines einstigen Vorgesetzten. Schneider war in seinem Sonntagsstaat erschienen, in diesem Fall ein offen getragener Trenchcoat, der noch aus Vorkriegszeiten stammte und traurig an seiner abgemagerten Gestalt hing, dazu Hemd mit Krawatte und als Krönung ein in die Jahre gekommener grüner Filzhut mit Wildschweinborsten am Band. Carl entsann sich, dass Schneider passionierter Jäger gewesen war, ein Hobby, das er mit einigen anderen Kollegen vom Präsidium geteilt hatte.

Schneider war nicht allein gekommen, eine ältere Frau hatte sich bei ihm eingehängt. Auf ihren eisengrauen Haaren thronte ein altmodischer Kapotthut mit Netzschleier vorm Gesicht.

Schneider hatte Carl erspäht und kam mitsamt der Frau angeschlendert. Carl widerstand dem Impuls, sich auf dem Absatz umzudrehen und wegzugehen; das hätte zu sehr nach einer Flucht ausgesehen.

»Schönen guten Morgen, Bruns«, sagte Schneider. Es klang aufgeräumt und freundlich.

Carl beschränkte sich auf ein knappes Nicken.

»Helga, das ist einer meiner Leute von früher«, stellte Schneider ihn der Frau vor. »Bruns, das ist meine Schwester Helga.«

»Angenehm«, sagte die Frau. Sie machte einen abgekämpften Eindruck und fühlte sich erkennbar unwohl.

»Wie steht es im Hoffmann-Fall?«, erkundigte sich Schneider in leutseligem Ton. »Wurde die Fahndung schon verstärkt?«

»Über polizeiinterne Vorgänge darf ich nicht mit Außenstehenden sprechen. Das müsstest du eigentlich wissen.«

»Natürlich, Vorschrift ist Vorschrift«, stimmte Schneider bereitwillig zu. »Aber nun ja, außen werde ich bald nicht mehr stehen. Mein Wiedereinstellungsgesuch läuft schon.«

»Du warst wegen deiner Beteiligung an Naziverbrechen im Knast!«

»Die paar Monate.« Schneider machte eine wegwerfende Geste. »Was glaubst du, wer sich gerade alles wieder einstellen lassen will! Dagegen bin ich das reinste Unschuldslamm. Und was meine Arbeit angeht – daran gab’s nie was zu beanstanden. Wir hatten unter meiner Führung die höchste Aufklärungsrate weit und breit, das hast du bestimmt nicht vergessen. Und die werden wir auch wieder haben, sobald ich zurück bin. Dafür sorge ich schon.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Carl kalt.

»Das entscheidest nicht du, mein Junge.«

»Nenn mich nicht so.«

»Oh, Verzeihung – Herr Inspektor.« Schneider gab sich weiterhin jovial, aber Carl entging nicht das nervöse Zucken seiner Augenlider. Das verunsicherte Abschweifen des Blicks. Die verkrampfte Haltung der Hände. Schneider war längst nicht so gleichmütig, wie er tat. Carl nahm Sorge und Resignation bei ihm wahr, sogar eine Spur Verzweiflung. Für Schneider stand viel auf dem Spiel. Vielleicht alles. Er wollte diese Wiedereinstellung um jeden Preis.

»Komm mir nicht noch mal in die Quere«, sagte Carl absichtlich grob.

Schneider wandte sich an seine Schwester, als hätte er die letzte Bemerkung gar nicht gehört. »Helga, ich geh mal eben schauen, ob ich noch andere Bekannte finde, da können wir uns vielleicht dazustellen!« Er spazierte davon und ließ seine Schwester stehen.

Die schlug den Netzschleier zurück. Ein zutiefst bekümmerter Ausdruck stand auf ihrem Gesicht. »Entschuldigen Sie, Herr Inspektor. Mein Bruder hätte Sie nicht einfach so ansprechen dürfen.«

»Schon gut«, sagte Carl. Die Frau tat ihm leid.

»Ohne seinen Beruf – das ist kein Leben für ihn!«, platzte sie heraus. Flehend sah sie ihn an. »Sie können sich nicht vorstellen, was er durchgemacht hat seit dem Rauswurf! Wie schlimm das für ihn war!«

Carl konnte es sich sehr wohl vorstellen, und er war drauf und dran, ihr das an den Kopf zu werfen. Doch er hielt lieber den Mund. Vielleicht hörte sie dann ebenfalls auf zu reden. Er wollte sich diesen Mist nicht länger anhören.

»Er hat doch eigentlich gar nichts Schlimmes getan!«, beschwor ihn die Frau. »Ein paar Unterschriften unter irgendwelchen Dekreten, die er abzeichnen musste – das waren doch damals Vorschriften! An die musste er sich halten! Er hatte gar keine Wahl! Ich bitte Sie, Herr Inspektor! Tun Sie meinem Bruder das nicht an! Er hat doch gebüßt! Er hat eine zweite Chance verdient! Die verdient jeder! « Mit abgehackten Handbewegungen untermauerte sie die Betonung der einzelnen Wörter.

Dann fing sie zu Carls Schrecken unvermittelt an zu weinen, und bevor sie sich leise schluchzend von ihm abwandte und wegging, fing er noch einen tränenumflorten, waidwunden Blick von ihr auf, fast so, als läge das Schicksal ihres Bruders allein in seiner Hand. Als stünde es in seinem Ermessen, ob der Mann noch eine Zukunft vor sich hatte oder nicht.

»Carl«, rief ihn ein helles Stimmchen beim Namen, und wie befreit wandte er sich um. Bärbel kam mit fliegenden Zöpfen angerannt, sie freute sich offenkundig wie Bolle, ihn zu sehen. Vorsorglich hielt er Ausschau nach ihrem Vater. Kurt Böhm hatte sich weiter hinten angestellt. Als er Carl bemerkte, winkte er ihm mit der unversehrten linken Hand flüchtig zu, und Carl winkte zurück.

»Willst du auch Geld umtauschen?«, fragte die Kleine aufgeregt.

Carl grinste. »Ja klar, das wollen alle hier.«

Er zauberte ein Fünfzigpfennigstück hinter ihrem Ohr hervor, und sie strahlte entzückt, weil sie es behalten durfte. Für ein paar Bonbons würde es sicher noch reichen. Das bisherige Münzgeld sollte zu einem herabgesetzten Wert einstweilen in Umlauf bleiben, die neue Währung bestand vorerst nur aus Scheinen.

»Guck mal, ich kann auch einen Trick, mit meinen Augen!«, erklärte sie, und dann schielte sie auf so drollige Weise auf ihre Nasenspitze, dass Carl lachen musste.

Sie hüpfte weiter, ein kleines Temperamentsbündel, immer auf der Suche nach Zerstreuung.

Müßig ließ Carl seinen Blick über die Menge schweifen. Ein hochgewachsenes, graziles junges Mädchen mit hellem Haar überragte die meisten Umstehenden. Schon bevor er sie nach einer halben Drehung ihres Kopfes im Profil sah, hatte er sie erkannt – es war Lotti. Zusammen mit ihren Schwestern und Friedas kleinem Sohn. Anne hatte sich in seine Richtung gewandt und schaute zu ihm herüber.

Carls Füße setzten sich wie von allein in Bewegung, und ohne sich um seinen Platz in der Warteschlange zu scheren, ging er zu Anne hinüber.

*

Anne ignorierte ihr lächerlich schnell klopfendes Herz und setzte eine – wie sie hoffte – völlig unbeteiligte Miene auf.

»Ich hab doch gesagt, dass er sofort rüberkommt, wenn er dich sieht«, sagte Frieda selbstzufrieden. »Und voilà, da kommt er angetrabt wie ein Ritter auf dem weißen Pferd. Allzeit bereit, dich zu retten.«

Anne ignorierte auch das. Frieda und ihre große Klappe!

»Komm, Lotti, wir gehen mal ein Stück«, sagte Frieda.

»Warum?«, fragte Lotti überrascht. »Wir sind doch bald dran!«

»Wir wissen ja, wer vor uns stand, da reihen wir uns gleich wieder ein. Emil, guck mal, da drüben sind Kinder, die spielen Plumpsack, frag die doch, ob du mitmachen darfst.«

Emil flitzte sofort los, eine Gelegenheit zum Spielen ließ er sich nicht entgehen. Frieda nahm die sichtlich irritierte Lotti bei der Hand und zog sie mit sich fort.

Anne fühlte sich von einer Welle der Peinlichkeit überflutet, während Carl näher kam und vor ihr stehen blieb. Sie reichten einander die Hand zur Begrüßung.

»Tag, Carl«, sagte sie befangen.

»Tag, Anne.«

Sekundenlang schwiegen sie sich an, ehe sie beide gleichzeitig sagten: »Es tut mir leid.«

Es folgte ein weiterer Moment der Verlegenheit, dann sagte Anne schnell: »Ich hätte dich vorgestern Abend nicht so anblaffen dürfen, das war nicht richtig.«

»Und ich hätte dich nicht so unter Druck setzen dürfen«, erklärte Carl.

Anne atmete erleichtert durch. Es war so etwas wie ein Neuanfang. Ob sie ihm gleich von Friedas Alibi erzählen sollte, um diese Sache aus der Welt zu schaffen? Nein, lieber nicht. Dann würden sie sich unweigerlich wieder über Mord und Totschlag unterhalten müssen. Wenigstens heute wollte sie davor Ruhe haben.

Sie betrachtete ihn unter gesenkten Lidern. Er trug ein besseres Sakko als unter der Woche. Feines dunkelgraues Tuch, ein bisschen ausgebeult zwar, aber man erkannte die Qualität. Das Hemd war am Kragen abgestoßen, und die Krawatte hatte auch schon bessere Tage gesehen, aber die tintenblaue Farbe passte gut zu seinen Augen. Er hatte sich frisch rasiert, an seiner Wange befand sich ein winziger blutiger Schnitt. Das leicht gewellte, dunkelblonde Haar war sorgfältig gekämmt. Er war schmaler als früher, damals war er ihr breitschultriger und kräftiger erschienen, aber das hing ohne Frage mit der mangelhaften Ernährung zusammen, unter der sie alle litten.

Sie erinnerte sich noch genau, wie es sich angefühlt hatte, wenn er sie in die Arme nahm. Anfangs hatte er sie vorsichtig gehalten, wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen, doch wenn sie sich dann geküsst hatten, war sein Griff fester geworden. Manchmal hatte er sie mit solchem Nachdruck umarmt, dass ihr die Luft weggeblieben war, und einmal hatten sogar ihre Rippen geknackt, er hatte sich ganz erschrocken bei ihr entschuldigt. Aber sie hatte diese Augenblicke geliebt, wenn sie ihm so nahe war, so dicht an seinem Körper, dass nichts mehr zwischen sie passte und die Welt da draußen weit weg war. Und dann dieser Moment, als in ihr das Verlangen nach mehr als nur Küssen erwacht war …

»Ich habe gestern im Polizeikrankenhaus angerufen und mit dem ärztlichen Direktor gesprochen«, sagte Carl mitten in ihre verstörend intimen Gedanken hinein. »Die suchen wirklich händeringend Krankenschwestern, vor allem welche mit OP -Erfahrung. Du kannst dich da gleich morgen mal vorstellen, wenn du willst.«

»Oh. Das ist … wunderbar! Vielen Dank!«

»Gern geschehen.« Er räusperte sich. »Und ich habe nachgesehen, was im Kino läuft. Da ist ein Film dabei, der sehr gut sein soll. Er heißt Die besten Jahre unseres Lebens . Wollen wir da vielleicht gleich heute Abend reingehen?«

»Ja, gerne«, sagte sie sofort, und das absurde Gefühl, nach Luft schnappen zu müssen, verstärkte sich. Mit einem Mal kam sie sich vor wie ein Backfisch vor der ersten Verabredung. Wie das Mädchen von damals auf der Achterbahn.

»Um halb acht hole ich dich ab, einverstanden?«

Sie nickte stumm und immer noch atemlos. Blieb nur die Frage: Was zog sie heute Abend an? Ob sie sich von Frieda ein Kleid leihen könnte?

*

»Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht herum! Wer sich umsieht oder lacht, kriegt den Buckel vollgemacht!«, sangen die Kinder im Hintergrund, während Lotti sich alle Mühe gab, ein paar Zentimeter kleiner auszusehen. Für ihr Empfinden wurde sie mal wieder von zu vielen Leuten angestarrt. Frieda hatte sich ein Stück von ihr entfernt; sie hatte in der Menge eine Bekannte entdeckt, jetzt standen die beiden zusammen und unterhielten sich angeregt.

Egal, wo Frieda hinkam – sie lernte direkt alle möglichen Menschen kennen, mit denen sie sich dann auch sogleich prächtig verstand. Lotti hatte sich schon oft den Kopf zerbrochen, ob sich das erlernen ließ oder ob es angeboren war. Wobei das, soweit es sie selbst betraf, Jacke wie Hose war; weder war es ihr in die Wiege gelegt worden noch würde sie je herausfinden, wie man es anstellte, sich bei den Leuten beliebt zu machen.

»Hallo, Lotti!« Mit einem verlegenen, aber erfreuten Lächeln erschien Jürgen auf der Bildfläche, der Zahnarztsohn aus der Nachbarschaft.

»Hallo, Jürgen.«

»Wie geht’s?«, erkundigte er sich, während er sie mit seinen schönen weißen Zähnen anstrahlte.

»Gut«, sagte sie, womit das Gespräch erst mal zu Ende war.

Auf dem Schulweg ließ es sich leichter mit ihm reden; wenn sie in Bewegung war, verwandelten sich die Gedanken beinahe wie von selbst in Worte. Dagegen wirkte es sich seltsam blockierend auf sie aus, nur so mit ihm herumzustehen.

Die letzten beiden Tage waren sie morgens zusammen zur Schule gegangen. Bloß mittags hatten ihre Unterrichtszeiten nicht übereingestimmt – einmal war bei ihm eine Stunde ausgefallen, das andere Mal hatte er länger Unterricht gehabt als Lotti.

Sie fragte sich, ob ihre Beine in dem Sonntagskleid wohl sehr dünn aussahen. Vergangenen Sommer hatte es noch gut gepasst, aber seither war sie schon wieder ein Stück gewachsen, wodurch das Kleid automatisch kürzer geworden war. An neue Kleider war schwer ranzukommen, nicht mal für viel Geld gab es noch welche. Ein gravierendes Problem war außerdem die Größe – für Konfektionskleider war ihr Körper einfach zu lang, auch wenn man die Säume ausließ.

Anne hatte ihr versprochen, dass sie zu einer Schneiderin gehen würden, sobald es wieder schöne Stoffe gab. Einmal hatte Frieda einen Ballen Seide auf dem Schwarzmarkt organisiert, aber der hatte nur für ein Kleid gereicht, und das hatte Frieda selbst gebraucht.

»Für den Schwarzmarkt muss ich schön sein, verstehst du?«

Lotti hatte es nicht verstanden, aber auf eine dunkle, geheimnisvolle Weise war es ihr logisch erschienen. Und sie hatte es auch nicht krummgenommen, denn Frieda hatte ihr versprochen, dass das nächste Kleid für sie sei, und Frieda hielt immer ihre Versprechen, ebenso wie Anne. So oder so wäre also bald ein neues Kleid fällig.

Die Leute kamen reihenweise mit dem neuen Geld von der Ausgabestelle zurück und zeigten es aufgekratzt herum, druckfrische, pastellbunte Fächer in ihren Händen: ein Zwanzigmarkschein, zwei Fünfmarkscheine, drei Zweimarkscheine, zwei Einmarkscheine und vier Einhalbmarkscheine. Die Banknoten sahen verwirrend fremdartig aus, aber zugleich auch verheißungsvoll, wie ein Regenbogen vor einem tristen Himmel.

»Faules Ei, faules Ei, in die Mitte, eins, zwei, drei!«, schallte es von den spielenden Kindern herüber. Emil war das faule Ei, er hatte den Plumpsack nicht gefangen und musste jetzt in die Mitte des Kreises. Mit hochrotem Gesicht und verschämtem Grinsen stand er da, doch er trug es mit Würde.

In der Nähe saß ein Bettler am Straßenrand. Zwischen seinen Beinen hatte er eine Pappschachtel voller Scheine, Passanten warfen im Vorbeigehen achtlos ihr überschüssiges altes Geld hinein – heute war es zwar rein theoretisch noch gültig, aber sonntags hatte alles zu, man konnte nichts mehr dafür kaufen.

Die Leute gingen weiter, und jetzt hatte Lotti freie Sicht auf den Bettler. Es war derselbe wie vor drei Tagen. Sein Gesicht war von der Kappe beschattet, der Rest unter dem dichten, struppigen Bart verborgen, doch es war nicht zu übersehen, dass er die Kinder genau im Blick hatte. Er starrte sie an, ließ sie keinen Moment aus den Augen. Lotti wurde von einer unerklärlichen Angst erfasst, Hilfe suchend sah sie sich nach Frieda um.

»Was ist denn?«, wollte Jürgen wissen.

»Nichts«, sagte Lotti, aber eine innere Stimme sagte ihr, dass das nicht stimmte.

*

»Was ist denn?«, fragte Waltraud, mit der sich Frieda eben noch darüber unterhalten hatte, was sie sich als Erstes von dem neuen Geld kaufen wollten. Waltraud war eine Freundin von früher, sie hatten damals als junge Mädchen zusammen die Ausbildung zur Stenotypistin gemacht, bei Krupp im Büro.

Frieda hatte nur Augen für einen Mann, der soeben von der Geldausgabe zurückkam. Der sauber ausrasierte schmale Schnurrbart, die spitze Nase, der zurückweichende Haaransatz – sie hatte ihn sofort erkannt. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf ihn.

»Du Dreckschwein!« Sie knallte ihm eine, bevor er überhaupt begreifen konnte, was los war. Dann schubste sie ihn mit beiden Händen von sich. Er wich stolpernd zurück und hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht.

Sein Gesichtsausdruck bewies ihr, dass er sie ebenfalls wiedererkannt hatte, obwohl die Begegnung über zwei Monate zurücklag und denkbar kurz gewesen war. In Frieda loderte reine Wut.

Auf jener Hamsterfahrt hatte er ihr ohne Vorwarnung mitten ins Gesicht geboxt, um sie vom Trittbrett des Zuges zu stoßen. Er hatte ihr dabei fast die Nase gebrochen, seinetwegen war sie wochenlang mit einem hässlichen Veilchen herumgelaufen! Von der verlorenen Speckschwarte und den kaputten Eiern ganz zu schweigen! Sie hatte dafür einen hässlichen alten Bauern ranlassen müssen, es kam ihr immer noch hoch, wenn sie daran zurückdachte.

Sie schubste den Mann ein weiteres Mal. Er wehrte sich und holte zu einem brutalen Schwinger aus, sie konnte dem Schlag gerade noch ausweichen. Im nächsten Moment zückte er ein Springmesser und ließ es aufschnappen.

Um sie herum brandete entsetztes Geschrei auf, was den Mann augenblicklich zur Vernunft brachte. Ihm schien klar zu werden, was die Leute in diesem Moment sahen – einen Messerstecher, der es auf eine wehrlose Frau abgesehen hatte. Hektisch schaute er sich nach allen Seiten um, dann eilte er mit langen Schritten davon und tauchte in der Menge unter.

»Oh mein Gott!«, rief Waltraud erschüttert aus. Sie kam zu Frieda und fasste sie bei den Schultern. »Ist dir was passiert?«

»Alles in Ordnung«, versicherte Frieda, aber ihre Stimme zitterte.

Im nächsten Moment waren Anne und Carl an ihrer Seite und wollten wissen, wer zum Teufel das gewesen war. Frieda riss sich zusammen. Sie gab eine Kurzfassung der Ereignisse zum Besten, woraufhin sich die Gemüter rasch beruhigten und alle wieder zu ihrem Platz in der Schlange zurückkehrten.

Nur Lotti stand wie vom Donner gerührt da und sah Frieda beschwörend an. Ihr Gesicht war kreideweiß. Frieda merkte sofort, dass irgendwas im Busch war, und das hatte nichts mit dem Hamsterfahrer zu tun.

Beunruhigt nahm sie Lotti beiseite. »Was ist denn los?«

Lotti deutete vorsichtig auf eine Stelle hinter Frieda. »Da drüben sitzt so ein Bettler, der starrt die ganze Zeit die Kinder an. Am Donnerstag habe ich den schon mal gesehen, auf dem Schulweg, da ging er hinter mir her.« Lotti schluckte. »Ich … Ich dachte zuerst, es wäre Arnold. Aber das kann nicht sein, oder? Der Bettler ist viel älter und ganz krumm. Oh, jetzt steht er auf und geht weg!«

Frieda hatte sich schon bei Lottis ersten Worten zu besagtem Bettler umgedreht. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ein bärtiges Gesicht unter einer speckigen alten Kappe. Gleich darauf war er davongeschlurft und im Gedränge verschwunden.

Es war, als hätte ihr jemand ein Messer in den Bauch gestoßen. Obwohl es ein warmer Tag war, schienen sich Eiskristalle auf ihrer Haut zu bilden. Ihre Knie schlotterten, sie musste sich breitbeinig hinstellen, um einen festen Stand zu behalten.

Von irgendwoher nahm sie die Kraft, sich sorglos zu geben.

»Ach du je, was du dir immer nur einbildest«, sagte sie zu Lotti. »Dieser alte Knacker ist doch nicht Arnold! Du hast vielleicht eine blühende Fantasie!«

Sie glaubte fast den Rums zu hören, mit dem ihrer kleinen Schwester ein Stein vom Herzen fiel.

»Gelobt sei Jesus Christus!«, stieß Lotti hervor. Sie faltete die Hände und bewegte lautlos die Lippen.

»Heb dir das für die Kirche auf«, sagte Frieda. »Und mach nicht immer wegen nichts und wieder nichts die Pferde scheu, klar?«

Lotti ließ betreten die Hände sinken, dann ging sie zurück zu dem Nachbarsjungen, der sie anhimmelte wie ein Mondkalb. Frieda atmete ein paarmal tief durch, doch ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie ein aufgescheuchter Hornissenschwarm. Er war wirklich und wahrhaftig wieder da! Womöglich war er auch nie weg gewesen. Und mochte er auch mit seinem verwahrlosten Äußeren den Anschein eines alten, hilflosen Obdachlosen erwecken, so wusste Frieda ohne jeden Zweifel, welche Gefahr von ihm ausging. Ein Blick in diese Augen hatte ihr gereicht. Dieses unberechenbare Flackern, diese Mischung aus mörderischem Hass und verzweifelter Sehnsucht – sie hatte das zu oft bei ihm gesehen.

Was für ein dummes Ding sie gewesen war! Auf seine lächelnde Fassade hereinzufallen, dieses männlich schöne Gesicht. Sie war erst achtzehn gewesen, sieben Jahre jünger als er, und seinem selbstsicheren Charme sofort auf den Leim gegangen. Gleich beim ersten Mal war sie schwanger geworden, und natürlich hatten sie heiraten müssen, weil es sich so gehörte. Zumindest hatte sie das geglaubt, denn da hatte sie noch nicht ahnen können, wie er wirklich war. Hätte sie davon auch nur den Hauch einer Vorstellung gehabt, wäre sie schreiend davongerannt. Statt wie ein hypnotisiertes Kaninchen darauf zu hoffen, dass es stimmte, wenn er – was er oft tat – ihr sagte, dass alles wieder gut werden würde.

Sie hatte ihre Lektion gelernt.

Frieda rückte in der Warteschlange vor und zwang sich, ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Auf die Pläne, die sie schmieden musste, um ihn loszuwerden. Ein für alle Mal.

*

»Seht euch das an!«, sagte Anne auf dem Heimweg zu Frieda und Lotti. »Kaum zu glauben, oder?!«

Perplex deutete sie auf den Getränkestand, der auf dem Hinweg noch nicht da gewesen war – ein Tisch mit einem darüber aufgespannten Sonnenschirm, dahinter ein Weinfass. Zwei Frauen füllten Weißwein in bereitstehende Becher.

Auf einem selbst gemalten Schild standen die Preise: Ein halber Becher Wein kostete eine D-Mark, ein voller zwei. Eine weitere D-Mark war als Becherpfand fällig. Das Angebot fand reißenden Absatz, rund um den Stand herrschte bereits enormer Andrang.

»Das ist verrückt!«, sagte Frieda ehrfürchtig.

Anne beobachtete die Menschen, die bereitwillig einen Teil ihres Kopfgeldes für ein paar Schlucke Wein ausgaben. »Sieht nach einer Menge Nachholbedarf aus.«

»Darauf kannst du wetten«, stimmte Frieda zu. »Und du wirst sehen, das ist nur der Anfang. Morgen gibt es garantiert wieder alles, was das Herz begehrt.« Sie dachte nach. »Bestimmt auch Bier.«

»Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf Bier?«

»Wir haben eine Gastwirtschaft im Haus, schon vergessen? Wenn wieder Getränke ausgeliefert werden, findet sich vielleicht bald ein neuer Pächter.« In scherzhaftem Ton fuhr Frieda fort: »Oder wir machen einfach selbst die Kneipe wieder auf! Die Leute würden uns die Bude einrennen!«

»Das kann durchaus sein«, meinte Anne nachdenklich. Sie waren weitergegangen, aber sie blickte immer wieder zurück zu dem Weinstand.

»Du findest die Idee gut?« Frieda musterte sie überrascht. »Ernsthaft?«

»Wieso nicht? Natürlich müsste man so was gründlich planen. Eine Übersicht von Kosten und Nutzen erstellen.«

»Oh ja, lass uns das tun!«, stimmte Frieda eifrig zu.

Vorhin bei der Geldausgabe war sie Anne noch bedrückt erschienen, fast verstört; das Zusammentreffen mit diesem scheußlichen Mann aus dem Hamsterzug hatte ihr offenbar schlimmer zugesetzt, als sie zugeben wollte. Der Gedanke an eine Neueröffnung der Kneipe heiterte sie erkennbar auf.

»Als Wirtin wäre ich bestimmt nicht schlecht«, sagte Frieda. »Eigentlich wollte ich immer schon mal auf der anderen Seite vom Tresen stehen! Als Erstes sollten wir dieses hässliche Schild runternehmen und ein neues aufhängen. Mit einem zugkräftigen Namen. Nicht so was Biederes wie Zur grünen Linde . Was meinst du? Welcher Name würde dir für unsere Kneipe gefallen?«

»Wir sollten nichts überstürzen«, wiegelte Anne ab. »Zuallererst brauche ich eine neue Stelle. Nur mit meiner Witwenrente kommen wir auf Dauer nicht weit. Das bisschen, was wir an Mieteinnahmen reinholen können, ist auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Von Träumen wird keiner satt.«

Bisher hatten nur Gustav Keitel und die Drewin-Brüder pünktlich und von sich aus ihre Monatsmiete gezahlt. Die Königs musste man wiederholt darum bitten, und in der zweiten Etage brauchte man es erst gar nicht zu versuchen, dort hatte keiner der Bewohner ein regelmäßiges Einkommen.

Dass die Miete künftig in D-Mark fällig war, würde die Zahlungsmoral gewiss nicht stärken. Rauswerfen konnte man wegen aufgelaufener Mietrückstände niemanden, man durfte nur hoffen, dass die Zustände sich nach und nach besserten.

Davon abgesehen wollte Anne die Mieteinnahmen ohnehin für Emil zur Seite legen. Schließlich gehörte das Haus ihm, folglich gebührten ihm auch die Erträge, auch wenn die Verwaltung auf amtlichem Wege an Frieda übertragen worden war.

»Aber welchen Sinn hat denn ein Leben ohne Träume?«, knüpfte Frieda an Annes letzte Bemerkung an. Bittend sah sie Anne an. »Lass uns den Plan so bald wie möglich angehen, ja?«

Dagegen hatte Anne nichts einzuwenden.