A m nächsten Morgen ging Carl zeitig ins Büro. Dort traf er als Erstes auf Behrends.
»Morgen, Carl. Warst du eigentlich in Frillendorf bei diesem Zeugen? Hatte ganz vergessen, dich danach zu fragen.«
Carl bemühte sich um einen arglosen Gesichtsausdruck. »Ach so, ja, da hab ich auch nicht mehr dran gedacht. Nee, da war nichts zu holen. Der wollte sich bloß wichtigmachen.«
»Ist jetzt auch egal. Wir haben neue Hinweise.« Behrends kratzte sich eine verschorfte Stelle am Kinn auf. Anschließend betrachtete er angewidert die Blutspuren auf seinen Fingerspitzen.
Carl gab sich gleichmütig und vertraute darauf, dass man ihm die Anspannung nicht ansah. »Was für Hinweise?«
»Von zwei Bergleuten, die waren an dem Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Über drei Ecken haben sie von dem Mord gehört und sich erinnert, dass da ein Mann vor der Klinik herumgelungert hatte. Der kam denen schon verdächtig vor, weil er in Lauerstellung im Gebüsch stand, aber da dachten sie sich noch nicht viel dabei. Als sie von dem Mord hörten, fiel es ihnen wieder ein, und gestern hat sich einer der beiden bei der Polizei gemeldet und den Mann beschrieben.«
Carl entwich ein erleichterter Atemzug. Niemand würde mehr auf die Idee kommen, Anne des Mordes an Doktor Lohfeld zu verdächtigen! Und auch Frieda konnte man ausklammern. Ein Mann hatte Lohfeld aufgelauert, das war jetzt amtlich.
»Kann man mit der Beschreibung was anfangen?«, erkundigte er sich bei Behrends.
»Vollbärtiger, zerlumpter Kerl mit Schiebermütze. Undefinierbares Alter, sah aus wie ein Bettler. Ich habe beide Zeugen einbestellt und lasse eine Zeichnung machen. Mal schauen, was dabei rauskommt.«
Carl schluckte hart, seine Erleichterung hatte sich schlagartig verflüchtigt. Der Beschreibung nach handelte es sich um Arnold Hoffmann. Was wiederum nur bedeuten konnte, dass der Kerl viel dichter an Anne dran war als vermutet. Er musste sie die ganze Zeit im Auge behalten und ausspioniert haben.
Die Mülltonnen!, durchfuhr es Carl. Anne hatte ihm erzählt, dass sie für die Formulierung ihrer Kündigung mehrere Anläufe gebraucht hatte. Fraglos hatte sie die angefertigten Entwürfe im Abfall verschwinden lassen. Normalerweise warf man Papier, egal wie vollgekritzelt es war, nicht einfach weg, sondern benutzte es zum Anfeuern des Ofens. Aber in Annes Wohnung wurde auf einem Gasherd gekocht, und der Kachelofen, mit dem geheizt wurde, war jetzt im Sommer außer Betrieb. Sicherlich hatte Anne zudem vermeiden wollen, dass Lotti zufällig las, was in der Nacht davor passiert war. Also waren die Entwürfe in den Müll gewandert, wo Arnold Hoffmann sie entdeckt hatte. Möglicherweise hatte er Anne beim Wegwerfen des Papiers beobachtet und anschließend nachgeschaut, worum es sich handelte. Denkbar war aber auch, dass er nachts regelmäßig die Tonnen durchwühlt hatte, aus dem krankhaften Antrieb heraus, darin vielleicht irgendetwas von Anne zu entdecken. Egal wie, er hatte herausgefunden, was ihr zugestoßen war, woraufhin er spontan beschlossen hatte, Lohfeld umzubringen.
Aber aus welchen Motiven heraus? Handelte es sich um blindwütige Rache, geboren aus dieser wahnhaften Liebe, die ihn damals auch dazu getrieben hatte, Anne zu vergewaltigen? Oder hatte es eine Warnung sein sollen? Ein Zeichen, um ihr klarzumachen, was mit Männern geschah, die sich bei ihr Freizügigkeiten herausnahmen?
So gesehen war es vielleicht nicht nur ein Zeichen für Anne. Sondern auch eins für ihn – Carl. Er hatte Anne geküsst, und Hoffmann hatte es aus kurzer Distanz beobachtet. Was plante der Kerl als Nächstes?
Grübelnd starrte Carl vor sich hin, taub und blind für die geräuschvolle, belebte Umgebung des Büros.
Er schrak zusammen, als ihm von hinten ein Aktenwagen gegen die Beine gedrückt wurde. Der Bedienstete, der für die Post- und Aktenverteilung zuständig war, beschwerte sich lautstark, dass er nirgends richtig durchkam, und Carl beeilte sich, ihm Platz zu machen. Reihum landeten die Eingänge auf den Schreibtischen, auch für Carl war einiges dabei.
Immer noch aufgewühlt ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, der ihm wackliger vorkam denn je. Er musste unbedingt noch mal mit Döring über die nötigen Personenschutzmaßnahmen sprechen. Bis jetzt hatte sich noch nichts getan, obwohl Carl ihm bereits gestern eine Liste über die täglichen Wege von Anne und ihrer Familie vorgelegt hatte, mit allen Zeiten und Abläufen und Zielorten.
Werner sprach ihn vom gegenüberliegenden Schreibtisch aus an. »Was ist los mit dir? Du siehst aus, als wäre dir was auf den Kopf gefallen.«
Carl zögerte. Werner war seit vielen Jahren sein Freund. Nicht mal Carls Zeit auf dem Pütt hatte sie auseinanderbringen können. Sie gingen häufig gemeinsam zu den Spielen von Rot-Weiß, und ehe der Versorgungsmangel um sich gegriffen hatte, waren sie auch öfters zusammen einen trinken gegangen. Das würden sie bestimmt fortsetzen, wenn es demnächst wieder genug Bier für alle in den Kneipen gab.
Aber Carl hatte im Lohfeld-Fall die Ermittlungen sabotiert und manipuliert, das musste selbst der beste Kumpel nicht unbedingt erfahren. Außerdem wurde sowieso mit Hochdruck nach Arnold Hoffmann gefahndet; die neu angefertigte Zeichnung war schon zum Hektografieren in der Druckerei.
Nein, es war überhaupt nicht nötig, irgendwem zu erzählen, dass Hoffmann zusätzlich zu all seinen anderen Schandtaten auch noch Lohfeld auf dem Gewissen hatte.
Carl wurde einer Antwort auf Werners Frage enthoben, denn im nächsten Moment kam Döring zu ihnen ins Büro und berichtete mit frustrierter Miene, dass der Polizeipräsident ihm abermals Feuer unterm Hintern gemacht hatte.
»Dieser Lieutenant Thomson lässt uns keine Ruhe! Jetzt müssen wir schon wieder neue Fahndungsplakate drucken, wegen der Währungsumstellung! Weil die Belohnung in D-Mark ausgeschrieben werden muss! Und zwar in der Umrechnung eins zu eins! Als hätten wir hier Schränke voller Geld herumstehen!«
»Es müssen sowieso neue Plakate gedruckt werden«, warf Carl ein, wobei er wohlweislich unerwähnt ließ, dass er derjenige war, der Thomson über die neueste Entwicklung des Falles informiert hatte. »Weil es ein aktuelles Fahndungsbild gibt.«
Döring zog die Brauen hoch. »Ich habe die Zeichnung gesehen. Die ist nicht schlecht, Sie haben Hoffmann ziemlich genau beschrieben. Aber der Kerl muss sich nur rasieren und die zottigen Haare abschneiden, um sich ein anderes Aussehen zu verpassen. Was er sicher als Nächstes tun wird. Und dann dürfen wir schon wieder alle Plakate abhängen und neue drucken.«
Carl lag die Erwiderung auf der Zunge, dass der Mann ein gemeingefährlicher Massenmörder war und die Fahndung gar nicht umfassend genug sein konnte. Aber das verkniff er sich im letzten Moment. Er war auf Dörings Wohlwollen angewiesen.
»Haben Sie inzwischen Leute für den Polizeischutz der Familie abgestellt?«, erkundigte er sich mit beiläufiger Höflichkeit. »Bei Arnold Hoffmann muss man mit allem rechnen.«
Döring seufzte sorgenvoll. »Bruns, ich verstehe vollkommen, wie wichtig es Ihnen ist, Frau Wiesner und ihre Familie zu beschützen. Aber was glauben Sie, wie viele Dienststunden nötig sind, um drei Frauen und ein Kind rund um die Uhr zu bewachen? Wir haben kaum genug Leute, um die normale Arbeit zu erledigen! Hier wächst uns sowieso schon alles über den Kopf, das sehen Sie doch selbst jeden Tag! Woher soll ich das nötige Personal nehmen?« In einer Geste der Hilflosigkeit rieb er sich die Schläfen und gelangte zu einer Entscheidung. »Drei Männer, mehr geht auf keinen Fall!«
»Ich kann in meiner Freizeit auch eine Schicht übernehmen«, mischte Werner sich ein. »Chef, mit Verlaub, hier geht es um den Schutz von Menschenleben! Wollen Sie die Verantwortung dafür tragen, dass Arnold Hoffmann nach dem Mord an seiner Mutter auch noch den Rest seiner Familie auslöscht?«
Dieser Appell trug ihm einen indignierten Blick von Döring ein. »Na gut, vier Männer. Aber keinen einzigen mehr. Und natürlich auch nicht für ewig. Erst mal nur für eine Woche, dann sehen wir weiter.«
Mit dieser Ansage verließ er das Büro. Carl und Werner blickten seiner langen, dürren Gestalt hinterher.
»Auf mich kannst du zählen«, betonte Werner. »Das war nicht bloß so dahingesagt.«
»Ich weiß«, sagte Carl. Von Dankbarkeit erfüllt, sah er Werner an. »Du bist ein echter Freund.«
Werner hob verlegen die Schultern. »Das ist doch selbstverständlich. Würdest du umgekehrt auch machen. Außerdem – je besser die Überwachung der Familie, desto größer die Chance, den Kerl zu erwischen. Irgendwann kreuzt er sicher wieder auf.«
Carl kam unvermittelt eine Frage in den Sinn, die schon die ganze Zeit in seinem Unterbewusstsein rumort hatte. »Weißt du, was ich seltsam finde? Dass Schneider im April keine aktuelle Personenbeschreibung von Hoffmann abgegeben hat. Er hatte doch gemeldet, dass er ihn kurz vor dem Mord an Adelheid Hoffmann am Rüttenscheider Stern gesehen hat. Da hätte er doch auch gleich dazusagen können, wie Hoffmann jetzt aussieht.«
»Das ist gar nicht so seltsam, wie du glaubst«, sagte Werner. »Ich denke, dass er es extra für sich behalten hat. Weil er doch Hoffmann eigenhändig schnappen und dadurch der große Zampano werden will. Dieser Tage bin ich ihm zufällig begegnet, da hat er wieder dieselbe Platte aufgelegt. Er meinte, er hätte ein Gespür dafür, wo Arnold sich rumtreibt, und es wäre bloß eine Frage der Zeit, bis er ihn am Wickel hat.«
Carl nahm es alarmiert zur Kenntnis. »Falls Schneider weiß, in welchen Schlupflöchern Hoffmann sich verstecken könnte, macht er sich strafbar, wenn er dieses Wissen unterschlägt. Ich werde ihn mir deswegen vorknöpfen!«
»Ich habe ihm schon gesagt, dass er da auf dünnem Eis unterwegs ist«, pflichtete Werner ihm bei. »Worauf er meinte, ich solle mal halblang machen und dass er uns allen noch zeigen würde, wie man mit vernünftiger Polizeiarbeit Verbrecher schnappt.« Er lehnte sich zurück und blickte augenrollend zur Decke. »Der sieht sich wohl wirklich schon in Glanz und Gloria wieder auf seinem alten Posten sitzen.«
Carl kämpfte gegen eine Aufwallung von Übelkeit an und wandte sich endgültig der Arbeit auf seinem Schreibtisch zu.
Die Akte über den Toten aus Heisingen lag ziemlich weit unten im Stapel. Ein daktyloskopischer Bericht war eingegangen, und als Carl ihn sich vornahm, erwartete er keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse. Doch beim Lesen pfiff er durch die Zähne – auf der alten Kinokarte war ein Fingerabdruck sichergestellt worden, der zu einem Treffer geführt hatte. Das Mordopfer war identifiziert.
Werner äugte neugierig herüber. »Was Interessantes dabei?«
»Ja, kann man so sagen. Der Tote aus Heisingen hat jetzt einen Namen. Im Futter seiner Hosentasche steckte eine alte Kinokarte, die hatte ich auf Abdrücke untersuchen lassen. Es gab eine Übereinstimmung. Der Mann hieß Schnabel.« Carl runzelte die Stirn, während er die Fakten für Werner zusammenfasste. »Ein Essener Polizist. Hat es bis zum Kriminalmeister gebracht und sich dann von der Waffen-SS aufnehmen lassen. Kriegseinsatz in Polen. Nach einer Verwundung wieder in Essen und die drei letzten Kriegsjahre bei der Gestapo. Verhaftet am dritten Mai fünfundvierzig bei dem Versuch, sich aus der Stadt abzusetzen.«
Den nachfolgenden Aktenvermerk las Carl ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass er sich nicht vertan hatte. Verblüfft sah er anschließend Werner an. »Auf der Fahndungsliste stand er damals wegen mutmaßlicher Teilnahme an dem Massaker, für das Arnold Hoffmann später in Abwesenheit als Haupttäter zum Tode verurteilt wurde.«
»Ach, das ist ja wirklich interessant! Schnabel … Hm, der Name sagt mir nichts.«
»Mir aber«, meldete sich Behrends vom Nachbarschreibtisch. Er stand auf und kam herüber. »Das war einer von Hoffmanns Kumpanen. Die gingen immer zusammen saufen, und wenn irgendwo Juden oder Kommunisten zusammengeknüppelt wurden, waren die beiden meist vorneweg mit dabei. Ihr wisst ja sicher noch, wie es damals war – überall die braunen Schläger.«
Carl entsann sich nur zu gut. Die Ausschreitungen hatten bereits angefangen, bevor Arnold zur Polizei gekommen war, kurz nach Hitlers Machtergreifung. Die Gauleitung der NSDAP , die siegestrunken im Saalbau Karneval feierte. Tobende SA -Horden auf dem Viehofer Platz. Gestiefelte, brüllende Nazis, die Jagd auf Sozialisten und Kommunisten machten und sie totschlugen, einfach so. Funksprüche, die pausenlos von allen Seiten hereinkamen und von Hatz und Aufruhr berichteten. Gefechtsbereite Panzerwagen voller verschreckter Polizisten, die kaum was ausrichten konnten. Und es wohl in vielen Fällen auch gar nicht wollten.
Stattdessen hatten sie dafür gesorgt, dass sich die Haftzellen des Polizeigefängnisses füllten. Aber nicht mit den Totschlägern, sondern mit Sozialdemokraten, Mitgliedern der KPD und diversen anderen Leuten, die sich weigerten, den Nazis nach dem Mund zu reden. Auch Juden waren unter den Häftlingen gewesen, ein Vorgeschmack auf die Schrecken, die noch folgen sollten.
Carl hatte einmal einen schwer verletzten Kommunisten auf eigene Verantwortung zu den Sanitätern gebracht, was ihm einen heftigen Rüffel von Schneider eingetragen hatte. »Mit solchen Bolschewisten machen wir uns nicht gemein«, hatte er Carl angeraunzt. »Als deutsche Polizisten stehen wir wie ein Mann hinter unserem Führer Adolf Hitler, ist das klar?! Ich hoffe, das merkst du dir für die Zukunft! Oder willst du rausfliegen, so wie all die anderen?!«
Carl hatte geschwiegen, damals hatte er noch was zu verlieren gehabt. Reihenweise waren in den ersten Monaten nach Hitlers Machtergreifung Essener Polizisten auf die Straße gesetzt worden, es reichte schon eine einzige unbedachte Bemerkung. Hätte Schneider allerdings bereits zu jener Zeit geahnt, dass Carl der Enkel eines Juden war, hätte er ihn wohl gleich mit einem Tritt vor die Tür befördert statt erst im Jahr darauf.
»Wurde Schnabel wegen des Massakers vor Gericht gestellt?«, wollte Carl von Behrends wissen.
»Ja, schon. Aber er wurde nicht verurteilt. Drangekriegt haben die Tommys nur Arnold Hoffmann, weil er die ganzen Zwangsarbeiter persönlich abgeknallt und sich hinterher dünnegemacht hat. Die anderen haben wohl während der Erschießungen nur danebengestanden. Sie haben anscheinend auch gedacht, dass es ein reguläres Todesurteil gab.«
»Wer waren die anderen?«
»Keine Ahnung«, sagte Behrends achselzuckend. »Ich wusste gar nicht, dass es diesen Schnabel überhaupt noch gibt.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, aber nicht, um zu arbeiten, sondern um sich ein gewaltiges Frühstücksbrot zu Gemüte zu führen. Er wickelte es langsam aus dem Butterbrotpapier und blickte es andächtig von allen Seiten an, ehe er die Zähne hineinschlug wie ein Verhungernder. Die Kollegen ringsum starrten ihn an, und so manch einer schien immer noch nicht richtig glauben zu können, dass das jetzt wieder an der Tagesordnung war: eine Stulle der Extraklasse, dick mit Fleischwurst belegt.
Carl lief das Wasser im Mund zusammen. In den letzten Jahren hatte man hier im Büro keine Wurstbrote von solchen Dimensionen gesehen.
Doch als er den Blick wieder auf die Akte vor ihm richtete, verging ihm der Appetit sofort. Zwischen dem Mord an Schnabel und dem Massaker gab es einen Zusammenhang, es stank förmlich danach. Aber noch hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er herausfinden sollte, was es war.
Das Polizeikrankenhaus war in den Dreißigerjahren als Teil eines großen Gebäudekomplexes an der Norbertstraße neu erbaut worden. Anfänglich hatte das Gelände den Charakter eines in sich geschlossenen Dorfs aufgewiesen, mit Dienstwohnungen, Sportanlagen, Pferdeställen für die berittene Polizei sowie Werkstätten und Garagen für die Fahrzeuge. Später hatten die Nazis hier ein Polizeibataillon stationiert, das mit grauenhaften Mordexzessen in den Ostgebieten von sich reden gemacht hatte. Nach dem Krieg war die kasernierte Polizei von den britischen Militärs aufgelöst worden; mittlerweile wurden die Gebäude überwiegend zu Schulungszwecken genutzt.
Das Krankenhaus lag ein wenig abseits vom Hauptkomplex unmittelbar am angrenzenden Wald. Der Krieg schien spurlos an der Anlage vorübergegangen zu sein. Eingerahmt vom heiteren Grün der Natur, wirkte der schmucklose, mit Arkaden versehene Bau in seiner Unberührtheit wie aus der Zeit gefallen.
Es handelte sich um eine Einrichtung von überschaubaren Ausmaßen, die aber dennoch mit allem Nötigen ausgestattet war. Neben diversen Behandlungs- und Untersuchungsräumen gab es einen funktionstüchtigen Operationssaal, und die Krankenzimmer wirkten gepflegt und sauber. Der leitende Arzt führte Anne persönlich überall herum.
Doktor Emmerich war Ende fünfzig, ein Mann mit Dackelblick und scheuem Lächeln. Formvollendete Manieren schienen ihm wichtig zu sein; er hielt Anne jede Tür auf, die sie bei ihrem Rundgang passierten, und mehrmals fragte er sie, ob denn auch alles recht sei.
Nach der Führung sichtete sie gewohnheitsmäßig die Bestände an Geräten, Verbandszeug und Medikamenten. Die Catgut-Vorräte gingen zur Neige, und selbst denen war trotz angeblich steriler Verpackung nicht mehr zu trauen. Im Vergleich zur Seide hatte Catgut zwar den Vorteil, sich rückstandslos aufzulösen, sodass nach Operationen keine Fremdkörper zurückblieben. Allerdings konnte es schon bei der kleinsten fabrikationsbedingten Verunreinigung zu Fällen von Gasbrand oder Tetanus kommen. Anne hatte es sich bereits vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, das Catgut nachzusterilisieren, und das tat sie auch hier. Dafür legte sie es in eine Metalldose, die mit einer Schüttelmixtur aus absolutem Alkohol und entwässertem Kupfersulfat gefüllt war. Die fest verschlossene Dose kam für zehn Minuten in kochendes Wasser; nach dem Abkühlen konnte das Catgut mit einer sterilen Zange unter aseptischen Bedingungen entnommen werden.
Auf dem Narkosetisch ordnete sie das Instrumentarium exakt so an, wie sie es gewohnt war – Äthermaske, Kiefersperrer, Zungenzange, Stieltupfer, Spatel, Brechschale, Spritze mitsamt Kanüle.
Die übrigen Stunden ihrer Schicht vergingen weitgehend ereignislos. Es kamen weder Notfälle herein noch gab es Komplikationen bei den Patienten – allesamt Polizisten, die hier eine im Dienst erlittene Verletzung auskurierten oder sich von Operationen erholten.
Anne machte sich mit allen bekannt und sah wiederholt nach dem Rechten. Ab und zu reichte sie eine Bettpfanne, schüttelte ein Kissen auf oder hielt ein Schwätzchen. Als es Zeit für das Abendbrot war, half sie einer Servierkraft aus der Großküche, wo die Mahlzeiten für die gesamte Polizeiliegenschaft zubereitet wurden, bei der Verteilung des Essens. Danach gönnte sie sich den seltenen Luxus, im Schwesternzimmer Zeitung zu lesen. Und nebenher daran zu denken, dass Carl sie später von der Arbeit abholen und heimbringen würde. Er hatte ihr versprochen, sie vor Arnold zu beschützen. Sie und ihre Familie, koste es, was es wolle. Trotzdem hatte sie vorhin im OP ein Skalpell mitgenommen. Eingeschlagen in ein Stück Verbandsmull, steckte es griffbereit in der Tasche ihres Kittels.
Das Entsetzen über Arnolds Auftauchen in der Klarastraße hing ihr immer noch nach, sie war so außer sich gewesen, dass sie den Rest der Nacht kein Auge zubekommen hatte. Zusätzlich hatte es sie aus der Fassung gebracht, mit welchem Gleichmut ihre Schwester auf die Nachricht reagiert hatte – bis Frieda nach einer Weile kleinlaut damit herausgerückt war, dass sie Arnold schon am Morgen davor in Rüttenscheid bei der Geldausgabe gesehen und seitdem genug Zeit gehabt hatte, den Schock zu verdauen. Sie hatte absichtlich kein Wort darüber verloren, weil sie Anne nicht beunruhigen wollte.
Anne wusste immer noch nicht, ob sie deswegen wütend oder dankbar sein sollte. In jedem Fall war seither die Angst ihr ständiger Begleiter, auch wenn Carl ihr beteuert hatte, dass die Polizei Arnold sehr bald schnappen würde; man habe die Fahndung bereits verstärkt.
Bei dieser Gelegenheit hatte er ihr auch gestanden, dass Arnold schon im April in Essen gesichtet worden war, kurz vor dem Tod seiner Mutter. Die Gründe, warum er das für sich behalten hatte, ähnelten denen von Frieda, auch wenn es einen entscheidenden Unterschied gab.
»Ich wollte dich unbedingt wiedersehen«, hatte er zerknirscht zugegeben. »Eine Rückkehr nach Essen hättest du dir aber vielleicht dreimal überlegt, wenn du gewusst hättest, dass sich dein Schwager kurz vorher in der Gegend herumgetrieben hat.«
Damit lag Carl richtig. Hätte er ihr schon in Köln von Arnolds Auftauchen erzählt, hätte sie bestimmt keinen Fuß nach Essen gesetzt.
Aber noch während sie so darüber nachsann, musste sie sich eingestehen, dass sie sich damit vielleicht in die Tasche log. Womöglich wäre sie in jedem Fall zurückgekehrt. Weil da zwischen Carl und ihr etwas war, das sich nicht mehr wegdenken ließ. Es spielte keine Rolle, ob es neu war oder aber ein zurückgebliebener, wieder aufgeflammter Rest von damals. So oder so, er war ihr wichtig . Mehr noch: Er vereinnahmte ihre Gefühle auf eine Weise, die alle Sorgen und Ängste nebensächlich erscheinen ließ.
Dabei wusste sie nicht mal genau, was sie überhaupt wollte und wohin das mit ihm führen würde. Nur eins war sicher: Es würde nicht einfach aufhören, sondern weitergehen – weil sie es sich wünschte.
Ihr Herz klopfte unvernünftig schnell, als das Ende ihrer Schicht gekommen war und sie im Schwesternzimmer den Kittel gegen ihre Alltagskleidung tauschte. Sie brannte förmlich darauf, Carl endlich wiederzusehen. Sicher war er längst da.
Die Nachtschwester, eine mütterliche Frau in den Vierzigern, erschien pünktlich auf die Minute zur Übernahme. Sie stellte sich als Schwester Gesine vor.
»Draußen wartet schon nette männliche Begleitung auf Sie«, verriet sie mit verschmitztem Augenzwinkern. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie in fünf Minuten rauskommen.«
Anne verabschiedete sich von Schwester Gesine und eilte beschwingt hinaus.
Doch der Mann, der dort auf sie wartete, war nicht Carl.
Es war ihr Schwager Arnold.
Als sie ihn im Arkadengang neben der Eingangstreppe unvermittelt hinter einer Säule hervortreten sah, rauschte in ihren Ohren das Blut, das im rasenden Rhythmus ihres Herzens durch ihren Körper gepumpt wurde. Die Beine versagten ihr den Dienst, sie drohte den Halt zu verlieren und musste sich an der Wand neben der Treppe abstützen.
»Guten Abend, Anne.« Er richtete eine Pistole auf sie, während er näher kam. »Ich tu dir nichts«, fügte er hinzu, während er mit der freien Hand in einer absurden Geste der Höflichkeit den Hut lüpfte, den er trug. Nicht die verbeulte Kappe von vorgestern, sondern einen sorgfältig gebürsteten Borsalino. Die Pistole bewegte sich dabei um keinen Zentimeter.
Arnolds Aussehen hatte sich im Vergleich zur vorletzten Nacht so grundlegend verändert, dass Anne sich unwillkürlich fragte, ob er es überhaupt gewesen war, da draußen bei den Abfalltonnen. Aber dann registrierte sie trotz der einbrechenden Dämmerung die vereinzelten blutigen Abschürfungen an seinen Wangen und an seinem Kinn, desgleichen die unregelmäßigen Stufen in dem nun wesentlich kürzeren Schopf. Er hatte sich den wuchernden Vollbart abrasiert und sein Haar gestutzt, allem Anschein nach eigenhändig. Auch die Kleidung hatte er gewechselt. Anstelle der Lumpen trug er einen biederen grauen Anzug und brauchbare Schuhe, alles alt und abgetragen, aber in neuen Sachen lief in diesen Zeiten sowieso kein Mensch herum.
Rein äußerlich wirkte er auf geradezu groteske Weise normal. Ein verhärmter, aber nichtsdestotrotz gut aussehender Mann, der Anne mit seinen klaren Gesichtszügen, den hellen Augen und dem widerspenstigen blonden Schopf so sehr an Emil erinnerte, dass es ihr fast das Herz herausriss.
Anne starrte ihn stumm an, versuchte zu erfassen, was er dachte und wollte, und doch konnte sie die ganze Zeit nur daran denken, dass er, der Massenmörder und Vergewaltiger, so sehr dem wundervollen kleinen Jungen ähnelte, den sie mit allen Fasern ihrer Seele liebte.
»Ich tu dir nichts«, wiederholte Arnold. Er lächelte sie an. »Vor mir musst du dich nicht fürchten!«
Sie konnte nichts erwidern, ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Ich will dich ins Ausland mitnehmen«, sagte er. »Dich und meinen Jungen. Von Frieda lasse ich mich scheiden, aber das hab ich dir ja damals schon gesagt. Sie und ich, wir passen einfach nicht zusammen. Das mit ihr hat von Anfang an nicht geklappt, ich hätte nicht auf Mutter hören sollen. Du warst immer die Einzige, die ich wollte. Wir fangen zusammen von vorn an. Nur du und ich und der Junge. Ich brauche bloß noch ein bisschen Geld, aber das kriege ich bald, ich rechne jeden Tag damit. Wir gehen nach Südamerika. Brasilien, Argentinien, Chile – da soll es traumhaft sein! Endlose, unberührte Weiten, die schönsten Landschaften. Freundliche Menschen überall, und Hunger kennen die da nicht. Ich bring dich raus aus diesem Elend hier, Anne. In ein besseres Leben. Da drüben in Südamerika werde ich gut für uns drei sorgen.« Sein Gesicht wurde hart, die Hand mit der Pistole bewegte sich mit einem Mal fahrig hin und her. »Wer mich daran hindern will, muss früher aufstehen. Mich kriegt keiner klein, das steht fest.« Er hielt inne. Mit einem Mal trat ein bittender Ausdruck auf sein Gesicht. »Du glaubst doch auch, dass wir es schaffen, oder? Zusammen schaffen wir alles, wir müssen es nur wollen!«
Ein krächzender Laut entrang sich ihr, und plötzlich hatte sie ihre Stimme zurück. »Du zielst mit einer Waffe auf mich, Arnold. Hältst du das für einen guten neuen Anfang?«
Er blickte befremdet auf die Pistole in seiner Hand, als könne er es selbst nicht recht glauben. Dann sah er wieder Anne an und war mit einem Mal die Gelassenheit in Person. »Das ist nur zur Vorsicht. Damit du nicht wegläufst. Wie soll ich sonst in Ruhe mit dir reden? Du sollst doch sehen, dass ich es gut mit dir meine. Ach, ehe ich es vergesse …« Er nestelte etwas aus der Tasche seines Sakkos und kam damit auf Anne zu. Sie widerstand dem Impuls, schreiend zurückzuweichen. Stattdessen nahm sie mit zitternden Fingern das Päckchen entgegen, das er ihr hinhielt. Dicht vor ihr blieb er stehen. Er roch nach Mottenkugeln und einem Hauch von Schimmel, aber das war kein Körpergeruch, sondern entströmte seiner Kleidung. Von dem Gestank nach Fäulnis und Verwahrlosung, den er in der vorletzten Nacht bei seiner Flucht hinter sich hergezogen hatte, war nichts geblieben. Irgendwo musste er in der Zwischenzeit gebadet haben. Aber vielleicht war er auch einfach nur schwimmen gewesen, entlang der Ruhr und an den Ufern des Baldeneysees konnte man an vielen Stellen ins Wasser.
All diese nebensächlichen und nutzlosen Gedanken summten wie aufgescheuchte Wespen in ihrem Kopf herum, während sie das sorgfältig in Zeitungspapier gewickelte Päckchen in ihrer blutleeren Hand hielt und es blicklos anstarrte.
Sie sollte sich wehren. Egal wie. Aber womit? Das Skalpell hatte sie vorhin in den OP zurückgebracht, in der sicheren Annahme, dass Carl hier draußen auf sie wartete. Doch selbst wenn sie es mitgenommen hätte – welche Chance hatte sie damit gegen eine Pistole?
Ob das die Waffe war, mit der er all die Zwangsarbeiter erschossen hatte? Einen nach dem anderen, ohne Gnade und ohne Reue. Genickschuss, und danach vielleicht noch ein Tritt in den Rücken, damit der Leichnam weit genug vornüber in die Grube fiel. Mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der er ihr damals Gewalt angetan hatte, auf der roten Chaiselongue seiner Mutter.
Oh Gott, wo blieb nur Carl? Warum war er nicht hier? Hatte Arnold ihn etwa … Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, gleich würde sie sich übergeben.
»Es ist ein Geschenk für dich«, sagte Arnold. Er nahm ihre freie Hand und zog sie unter die Arkaden, weg von der Treppe. Als wollte er für sie beide eine etwas privatere Umgebung schaffen. Eine fast kindliche Begeisterung spiegelte sich in seinen Zügen. »Na los, worauf wartest du? Pack es aus!«
Carl rang keuchend nach Luft, während er so schnell, wie er nur konnte, die Straße entlangrannte. Das verdammte Krad hatte einfach schlappgemacht. Er hatte in allen Tonlagen geflucht, aber letztlich hatte er es stehen lassen müssen, auch auf die Gefahr hin, dass es geklaut wurde.
Es war nicht mehr weit, ein paar Hundert Meter noch. Wenn das Krad nicht verreckt wäre, hätte er längst da sein können. Zwischendurch sah er immer wieder auf seine Uhr, mittlerweile war es kurz nach zehn. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Hoffentlich kam Anne nicht auf die Idee, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen!
Carl lief schneller und ignorierte das beginnende Seitenstechen. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er eine ordentliche Ausdauer besessen, nicht nur durch die Schwerarbeit auf dem Pütt, sondern auch vom Rudern. Er hatte lange dem Kruppschen Ruder- und Wassersportverein angehört, der mittlerweile Ruderclub am Baldeneysee hieß, aber abgekürzt nach wie vor Kruwa genannt wurde. Noch zu Anfang des Krieges hatte er an so mancher siegreichen Regatta im Vierer und Achter teilgenommen, bis das Bootshaus beschlagnahmt und der Ruderbetrieb eingestellt worden war. Zwei Jahre später hatte ein Bombenhagel aus der ganzen Anlage Kleinholz gemacht. Das war’s gewesen mit dem Sport. Und anscheinend auch mit seiner Kondition. Carl hatte den Eindruck, inzwischen auf dem letzten Loch zu pfeifen. Sosehr er es auch wollte – dieses Tempo konnte er nicht durchhalten.
Er lief mitten auf der Straße. Als hinter ihm das Röhren eines Motors ertönte, blieb er stehen und drehte sich um, beide Arme winkend erhoben. Ein Auto! Und besser noch: eine grüne Minna! Was für ein Dusel!
Der Fahrer, ein Streifenpolizist, brachte den Wagen dicht vor Carl zum Stillstand und kurbelte sichtlich empört über das Verkehrshindernis die Scheibe herab. Carl zog seine Kripo-Marke aus der Hosentasche und hielt sie dem Beamten vor die Nase, bevor er zur Beifahrerseite hastete und einstieg.
»Fahren Sie mich zum Polizeikrankenhaus!«, stieß er keuchend hervor. »Und zwar schnell!«
»Aber ich muss …«
»Das ist ein dienstlicher Befehl!«
»Ich wollte bloß sagen, ich muss sowieso da aufs Gelände«, teilte der Streifenbeamte Carl mit, während er losfuhr. Er war noch jung, höchstens Anfang zwanzig, und trug eine dieser behelfsmäßig blau umgefärbten Uniformjacken, die ihm viel zu eng und zu kurz war, aber trotzdem kein Vergleich zu den Zuständen im ersten Nachkriegsjahr, als die Männer von der Schutzpolizei in eigenen Jacken und Mänteln zum Dienst antreten mussten und nur an einer weißen Armbinde als Gesetzeshüter zu erkennen waren.
»Worum geht es denn?«, wollte er von Carl wissen.
»Um einen flüchtigen Massenmörder«, erklärte Carl, immer noch außer Atem.
Der junge Beamte wurde blass. »Sie meinen, der treibt sich bei dem Krankenhaus herum?«
»Gut möglich. Und jetzt drücken Sie mal auf die Tube!«
»Auf Ihre Verantwortung.« Der Streifenpolizist trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, die alte grüne Minna gewann an Fahrt und bog wenig später mit kreischenden Reifen und klappernden Seitenblechen auf das Gelände der Polizeiliegenschaft ein. In halsbrecherischem Tempo bretterte der Wagen auf das am äußeren Rand gelegene Krankenhaus zu, ehe er nach einem gewagten Bremsmanöver schleudernd zum Stillstand kam.
Carl stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. Da drüben unter den Arkaden stand Anne! Und dicht vor ihr ein Mann mit Hut. Er war nur von hinten zu sehen, doch schon bevor der Kerl zu ihm herumfuhr, wusste Carl, dass es Arnold Hoffmann war. Noch ehe das Auto richtig stand, riss er die Beifahrertür auf und sprang hinaus. Kurz geriet er ins Straucheln, fing sich aber sofort wieder und sprintete auf Anne und Hoffmann zu.
Hoffmann hob die rechte Hand, und im nächsten Moment ertönte der peitschende Knall eines Schusses. Fast zeitgleich spürte Carl den Luftzug, mit dem das Projektil an seinem Ohr vorbeizischte, höchstens Millimeter entfernt. Carl rannte mit Todesverachtung weiter. Von Anne kam ein entsetzter Aufschrei, sie stand mit weit aufgerissenen Augen da und sah ihm entgegen. Hoffmann schoss erneut. Dieses Mal hätte er Carl kaum verfehlen können, aber der Schuss ging weit daneben – Anne hatte Hoffmann mit aller Kraft zur Seite geschubst. Hoffmann wandte sich zu ihr um, richtete die Pistole auf sie. Anne reckte sich und blickte ihm unverwandt ins Gesicht, fast so, als wollte sie erhobenen Hauptes sterben. Carl hörte ein tierisch klingendes Brüllen, und erst beim nächsten Atemzug begriff er, dass es von ihm stammte.
Er war fast da. Nur noch fünf Meter. Noch einen Lidschlag. Er würde dieses Monster töten, mit bloßen Händen. Und wenn es das Letzte wäre, was er in seinem Leben tat.
Doch im nächsten Augenblick ergriff Hoffmann die Flucht. In weiten Sprüngen hetzte er durch den Arkadengang, ließ an dessen Ende das Gebäude hinter sich und verschwand im Dunkel des angrenzenden Waldes.
Carl wollte seinen Lauf abbremsen und stehen bleiben, aber seine Beine trugen ihn wie die stampfenden Kolben einer Maschine weiter, und hätte er sich nicht mit beiden Händen abgefangen, wäre er mit voller Wucht gegen die Säule neben Anne geprallt. Auch so stieß er sich noch schmerzhaft den Kopf an und hörte ein paar Sekunden lang die Englein im Himmel singen, während er taumelnd nach Halt suchte. Den Rücken gegen die vermaledeite Säule gelehnt, rutschte er japsend zu Boden.
»Das gibt eine Beule«, sagte Anne durch den Nebel vor seinen Ohren, und im nächsten Augenblick fing sie an zu weinen und hockte sich neben ihn. Sie schlang beide Arme um ihn und schluchzte in seinen Kragen. »Was hast du dir bloß gedacht, einfach auf ihn loszustürmen! Du könntest tot sein!«
Der junge Streifenpolizist kam mit entsetzter Miene zu ihnen herübergeeilt und erkundigte sich, ob jemand verletzt sei.
Carl hatte sich hochgerappelt und auch Anne aufgeholfen. Sie zitterte wie Espenlaub, und er wurde gewahr, wie ihr Blick zu einer Pappschachtel ging, die ein paar Schritte entfernt auf dem Boden lag, daneben zerrissenes Zeitungspapier.
»Carl, nicht«, warnte ihn Anne.
Doch er hatte die Schachtel bereits aufgehoben. Schon bevor er den Deckel hochklappte, stieg ihm der widerwärtige Gestank verwesenden Fleisches in die Nase, und da wusste er, was ihn erwartete.
Es waren die Genitalien von Doktor Lohfeld.
Als Anne und Carl etwa eine Stunde später das Haus in der Klarastraße betraten, waren aus der Kneipe Stimmen zu hören; die Tür zum Schankraum war nur angelehnt. Drinnen standen in trauter Eintracht Frieda und die Drewin-Zwillinge an der Theke, Frieda davor und die beiden Brüder dahinter. Ein junges Ehepaar aus einer der beiden Wohnungen im zweiten Stock hatte sich zu der Runde gesellt. Die Frau hatte ein zahnendes Baby auf der Hüfte sitzen, das den Neuankömmlingen mit großen Augen entgegenblickte und dabei sabbernd auf einem Holzspielzeug herumkaute. Die Familie stammte aus Königsberg, Carl hatte das Paar im Zuge seiner Befragungen schon kennengelernt. Hedwig und Justus Schwelm; nette und umgängliche Menschen, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollten, nachdem sie wie so viele andere ihre Heimat im Osten verloren hatten.
Frieda hatte sich lächelnd zu Anne und Carl umgewandt, aber nach einem kurzen Blick auf ihre Schwester erstarrte sie. »Was ist passiert?«
Anne erzählte es ihr, und notgedrungen bekamen es auch die übrigen Anwesenden mit. Carl fand, dass es nichts schadete, denn so konnte sich jeder vorsehen und zugleich die Augen offen halten.
»Der Kerl ist wahnsinnig geworden«, sagte einer der Zwillingsbrüder im Brustton der Überzeugung.
»Er war schon immer wahnsinnig, Borjan«, korrigierte Frieda ihn. »Von Anfang an, seit ich ihn kenne. Ich hab’s bloß zu spät bemerkt.«
Carl betrachtete den Mann unauffällig und prägte sich ein, dass es Borjan war. Die Unterschiede zwischen ihm und seinem Bruder waren kaum zu erkennen, aber wenn man genau hinschaute, bemerkte man sie.
Der andere – demnach Aleksandr – schenkte Weinbrand in zwei Schwenker und reichte Anne und Carl jeweils ein Glas.
»Auf den Schreck«, sagte er.
Die anderen bekamen ebenfalls nachgeschenkt, und reihum prosteten sie einander zu.
Carl hatte das Gefühl, immer noch unter Strom zu stehen. Die Hand, mit der er den Schwenker hielt, zitterte merklich. Erst im Nachhinein war ihm richtig aufgegangen, wie dicht er davorgestanden hatte, den Löffel abzugeben. Was für ein unerhörtes Glück er gehabt hatte, nicht sofort beim ersten Schuss draufzugehen, vom zweiten ganz zu schweigen. Hätte Anne nicht ihr eigenes Leben riskiert, läge er wohl morgen auf einem von Wielspütz’ Tischen.
Der junge Streifenbeamte hatte sie beide noch in die Klarastraße gefahren und Carl zugesichert, anschließend im Präsidium Meldung zu machen. Wenn Döring morgen ins Büro kam, sollte er gleich als Erstes erfahren, wie ernst die Bedrohung war, die von Hoffmann ausging. An diesem Abend war, abgesehen von Carl selbst, in weitem Umkreis keinerlei Polizeipräsenz feststellbar. Bei Tage mochte Hoffmann sich gewiss nicht mehr so schnell aus der Deckung wagen, doch im Dunkeln würde ihn niemand fernhalten können. Die Haustür ließ sich zwar abschließen, aber das Schloss war ein Witz; das galt auch für die Wohnungstüren.
Carl entschied kurzerhand, für den Rest der Nacht hierzubleiben und Wache zu schieben. Als er sein Vorhaben äußerte, erklärten die Zwillinge sich spontan bereit, bis zum Morgen jeweils im Wechsel ebenfalls eine Schicht zu übernehmen.
Und so kam es, dass Carl den größten Teil der restlichen Nacht schlafend im Hinterzimmer zubrachte. Borjan, der ihm sein Feldbett überlassen hatte, übernahm die erste Wache. Sein Bruder Aleksandr war als Nächstes dran, und als er Carl Stunden später weckte und ihm den Knüppel in die Hand drückte, mit dem er und sein Bruder die Nacht über im Hausflur Posten bezogen hatten, graute bereits der Morgen.