D er Junge tat ihm leid, Carl wünschte, es wäre anders gekommen, aber jetzt musste alles seinen vorgeschriebenen Gang nehmen.
Wenigstens kam er gleich nach der obligatorischen erkennungsdienstlichen Behandlung auf die glorreiche Idee, Borjans Fingerabdrücke mit denen auf dem Straßenbahn-Billet abzugleichen, das er am Morgen nach Adelheid Hoffmanns Tod in deren Wohnung sichergestellt hatte, vielleicht führte das ja schon zu einem Ausschluss.
Für die bisherigen Ermittlungen war das Fundstück eine Sackgasse gewesen, weil sie bisher keinen aktenkundigen Verdächtigen gehabt hatten. Carl hatte das Thema bis auf Weiteres abgehakt, aber jetzt lag es mit einem Mal wieder auf dem Tisch. Zusammen mit den frischen Abdrücken von Borjan, die möglicherweise – oder eben auch nicht – zu den Spuren auf dem Fahrschein passten.
Der Beamte, der an diesem Nachmittag im Kriminallabor Dienst hatte, war in wenigen Minuten mit der Begutachtung fertig.
»Fehlanzeige«, sagte er.
»Ganz sicher?«
»Hundertprozentig.«
Carl gestattete sich ein erstes Aufatmen. Blieb natürlich noch Aleksandr, von dem keine Fingerabdrücke verfügbar waren. Auch wenn zwei Menschen einander bis in die Haarspitzen glichen – die Fingerabdrücke waren immer verschieden. Carl hatte sich erkundigt, ob die Zwillinge nach ihrer Verhaftung im März fünfundvierzig erkennungsdienstlich behandelt worden waren, aber in der Endphase des Krieges hatte das anscheinend niemand mehr für nötig gehalten. Erst recht nicht, nachdem das Gefängnis sowieso schon überquoll von willkürlich weggesperrten Menschen, die man baldmöglichst loswerden wollte.
Eine gesetzliche Handhabe, Aleksandr auf die Wache zu beordern und ihm Fingerabdrücke abzunehmen, bestand nicht. Gegen ihn lag nichts vor. Sein Bruder hatte sich durch seinen Fluchtversuch verdächtig gemacht, er selbst nicht. Carl hätte ihn höchstens bitten können, freiwillig zu kommen. Während er darüber nachdachte, wurde ein Besucher auf dem Präsidium vorstellig, der unbedingt mit Carl persönlich sprechen wollte und vom Pförtner zu ihm ins Büro geschickt wurde.
Es war der Cellist Gustav Keitel.
»Ich habe eine Aussage zu machen«, sagte er.
Danach verstummte er und wartete, während ein Stuhl neben Carls Schreibtisch gestellt wurde, auf dem er Platz nehmen konnte. Das Vernehmungszimmer war auf unabsehbare Zeit besetzt, so wie meistens, wenn man in der Abteilung eines brauchte.
»Was haben Sie mir denn mitzuteilen?«, fragte Carl, der vor Neugier brannte. Auch an den umliegenden Schreibtischen wurden die Ohren gespitzt.
Carl spannte einen Vernehmungsvordruck mit Durchschlag in die Schreibmaschine und sah Keitel erwartungsvoll an.
»Es geht um Borjan Drewin. Er ist unschuldig. Falls Sie ihn verdächtigen, Adelheid Hoffmann ermordet zu haben – er hat ein Alibi.«
Das saß. Die Gespräche im Raum waren verstummt, alle Köpfe wandten sich in Richtung von Carls Schreibtisch.
Keitel sprach unaufgefordert weiter. Seine Formulierungen waren präzise und druckreif, Carl konnte nach Aufnahme der Personalien sowie der vorschriftsmäßigen Belehrung Satz für Satz in die Maschine hämmern, ebenso die Antworten auf entsprechende Nachfragen.
Die Zwillingsbrüder Aleksandr und Borjan Drewin haben in der Nacht von Adelheid Hoffmanns Tod mit mir Karten gespielt. Es war spät, ich konnte mal wieder nicht schlafen. Weil ich wusste, dass die beiden Brüder am nächsten Tag Spätschicht hatten und deshalb länger aufbleiben konnten, ging ich gegen 22 . 30 Uhr zu ihnen runter in die Kneipe. Wir sitzen manchmal abends da zusammen. Auf dem Weg nach unten hörte ich Adelheid in ihrer Wohnung reden. Was sie sagte, verstand ich nicht, aber sie war es. Die Zwillinge und ich saßen stundenlang unten zusammen. Wir spielten Skat. Als ich wieder nach oben ging, war es vier Uhr morgens. Im Treppenhaus kam mir Frau Schwelm entgegen, sie war ganz aufgelöst. Ihr Baby war wach geworden und hat gehustet. Deshalb hatte sie das Fenster aufgemacht, um frische Luft reinzulassen. Dabei hat sie unten im Schutt hinterm Haus einen Körper liegen sehen. Wir sind zusammen runter, um nachzusehen, und da fanden wir Adelheid. Sie war tot. Einer der anderen Mieter aus dem zweiten Stock ging gleich zur Polizei, um es zu melden.
Auf Vorhalt:
Nein, ich weiß nicht, mit wem Adelheid Hoffmann in ihrer Wohnung gesprochen hat. Ich hörte im Vorbeigehen nur ihre Stimme. Es gibt keinen Zweifel, dass es ihre Stimme war.
Auf Vorhalt:
Mit den Uhrzeiten bin ich mir ganz sicher, weil ich auf meine Armbanduhr gesehen habe.
Auf Vorhalt:
Ich komme erst jetzt mit meiner Aussage zur Polizei, weil ja vorher keiner von uns beschuldigt wurde.
Laut diktiert, dem Zeugen nochmals vorgelesen und von ihm genehmigt.
Carl ließ Keitel die Aussage unterschreiben und dankte ihm höflich für seine Mitwirkung. Er musste an sich halten, damit es nicht allzu überschwänglich klang, denn es erschien ihm fast wie ein Geschenk des Himmels. Er hielt damit einen zwingenden Grund in Händen, Borjan wieder nach Hause zu schicken.
Nachdem Keitel gegangen war, fügte Carl noch von Hand die fehlenden Kommata in das Protokoll ein, ein Vorgang, den er sonst immer mit stummen Flüchen begleitete. Diesmal war er einfach bloß erleichtert.
Werner, der jedes Wort von Keitel mitbekommen hatte, machte aus seiner Skepsis keinen Hehl. »Denkst du, er hat die Wahrheit gesagt? Kam mir alles ein bisschen konstruiert vor.«
Carl war derselben Meinung, behielt es aber für sich. »Es passt zu den Aussagen der anderen Hausbewohner. Also dazu, wer um wie viel Uhr da nachts im Haus herumgelaufen ist und wie die Leiche aufgefunden wurde.«
»Und wieso wollte sich dieser Drewin dann mitten in der Befragung vom Acker machen?«
»Weil er Angst hatte. Vergiss nicht, welche Erfahrungen er mit der Essener Polizei gemacht hat.«
Werner nickte nachdenklich.
»Dazu wollte ich dich auch noch was fragen«, fuhr Carl fort. »Sagt dir der Name Kittler was?«
»Allerdings.« Werner sah ihn überrascht an. »Ein früherer Kripo-Kollege. Wurde vor zwei Wochen von seiner Frau als vermisst gemeldet.«
Carl nahm es mit einem unguten Gefühl zur Kenntnis. Um dieselbe Zeit war Schnabel umgebracht worden.
»Wie hast du davon erfahren?«, wollte er von Werner wissen.
»Ich hatte dieser Tage auf der Wache in Steele zu tun, da hat es jemand erzählt. Es hängt auch bei den Suchmeldungen aus. Wieso, was ist denn mit dem?«
»Kennst du den Mann?«, fragte Carl zurück.
»Nur flüchtig. Der war anfangs bei der Sitte und kam dann zum Einbruchsdezernat. Keine Ahnung, was danach aus ihm wurde. Ich selber hatte nie was mit dem zu tun. Bei der Entnazifizierung ist er rausgeflogen, also war er wohl auch bei der SS .« Fragend runzelte Werner die Stirn. »Wie kommst du überhaupt auf den?«
»Der Name kam mir unter, als ich im Fall Schnabel weiterermittelt habe«, sagte Carl ausweichend. Er wollte Werners Aufmerksamkeit nicht schon wieder auf die Drewin-Brüder lenken. »Wer könnte mir denn hier im Haus mehr über Kittler sagen?«
»Hm, ich weiß nicht … Vielleicht Döring. Der hatte häufiger Kontakt zu diesen Konsorten.«
Carl schob es nicht auf die lange Bank, er ging gleich rüber in Dörings Büro, das dieser sich wegen des Platzmangels bei den kommunalen Behörden mit zwei Angestellten der Stadtverwaltung teilte.
Döring wirkte bekümmert, als Carl ihn nach Kittler fragte. »Das ist einer der Schandflecke, mit denen wir leben müssen. Zuerst ein braver Kripo-Beamter, dann Aufnahme in die Waffen-SS und Einsatz in den Ostgebieten. Danach wieder hier in Essen und bei der Gestapo. In den letzten Kriegswochen wurden massenweise Zwangsarbeiter verhaftet, Kittler war dabei einer der Eifrigsten. Ebenso bei den Sonderbehandlungen.«
Carl zuckte zusammen. Sonderbehandlungen, das war ein anderes Wort für Exekutionen. Ohne gesetzlichen Richter, ohne Verteidigung. Einfach nur auf Beschluss von Polizeibeamten, die sich dafür zu einem Standgericht zusammentaten. Die Justiz sollte nicht damit behelligt werden. Keiner wusste mehr genau, wie viele auf diese Art umgebracht worden waren – von den Hütern des Gesetzes.
»Sie sollten den Begriff nicht verwenden, Chef.« Carl sagte es mit fester Stimme, obwohl es ihn Überwindung kostete, seinen Vorgesetzten zurechtzuweisen.
Döring wirkte erschrocken, sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, als er mehrmals angestrengt schluckte.
»Sie haben recht. Es tut mir leid.« Er hielt inne. »Verdammt, das war alles so ein Mist! Mensch, Bruns, seien Sie froh, dass Sie damals nicht hier waren! Wir Angestammten hatten alle nur eine Heidenangst, selber abgeknallt zu werden! Sie können sich nicht vorstellen, wie das war – unter Polizeipräsidenten, die mit dem Totenkopfring der SS und Himmlers Ehrendegen rumgelaufen sind!« Er rieb sich die Augen, als könnte er so etwas von dem Unrecht wegwischen, von dem er zu viel gesehen hatte.
»Stimmt es, dass Kittler bei dem Massaker im März fünfundvierzig mitgewirkt hat?«, fragte Carl, der keine Lust hatte, über das Stöckchen zu springen, das Döring ihm da hingehalten hatte.
»Ja, davon gehe ich aus«, sagte Döring, jetzt wieder um Sachlichkeit bemüht. »Zu der Zeit war ich ein paar Wochen krank und kam gerade zurück, als hier im Zuge dieser Gestapo-Aktion das Gefängnis geräumt worden war. Bis auf zwei Haftzellen, in denen zusammengepfercht noch ein gutes Dutzend Leute saß. Ich habe die sofort freigelassen und damit meinen Hals riskiert, aber das war mir egal. Zu der Zeit löste sich bei uns alles im Chaos auf. Kittler und die anderen von der SS hatten sich da schon verdrückt. Der Rest musste mit dem Volkssturm raus und die Rübe hinhalten, als die Amis einmarschierten.« Döring hielt inne und blickte mit steinerner Miene ins Leere. »Nichts war hier mehr wie früher, alles kaputt und ein Sack voller Schuld auf jedem Buckel.«
Das wollte Carl nicht weiter vertiefen. Erwartete Döring etwa Mitleid? Er kehrte zum ursprünglichen Thema zurück. »Haben Sie schon davon gehört, dass Kittler vor zwei Wochen von seiner Frau als vermisst gemeldet wurde?«
Döring sah überrascht hoch. »Nein, das ist mir neu.« Seine Stirn legte sich in Falten. »Dann muss er um dieselbe Zeit verschwunden sein, als Schnabel ermordet wurde.«
Carl nickte. »Möglicherweise ist Kittler ebenfalls tot.«
»Sie meinen, jemand hat alle beide umgebracht?«
»Ja, davon gehe ich momentan aus. Ich bin davon überzeugt, dass es mit dem Massaker zusammenhängt. Beide Männer hatten damit zu tun. Ich werde noch herausfinden, was da genau ablief.«
»Tun Sie das. Und halten Sie mich auf dem Laufenden, es ist ja im Grunde eine interne Angelegenheit. Wir müssen auch aufpassen, was davon an die Öffentlichkeit dringt. Es gibt da draußen genug Leute, denen es gut in den Kram passt, die Polizei mit Schmutz zu bewerfen.«
Carl versagte es sich, mit einer entsprechenden Metapher zu antworten. Etwa mit der Bemerkung, dass bei dem vielen alten Dreck ein bisschen neuer auch nicht viel ausmachte.
Döring beugte sich über die Akte, die er gerade bearbeitete, blickte aber noch einmal hoch, als Carl zur Tür ging. »Vorhin habe ich gehört, dass Sie in der Mordsache Adelheid Hoffmann jemanden hochgenommen haben. Ist der Fall damit gelöst?«
»Nein, das war falscher Alarm, können Sie dann morgen in meinem Bericht lesen.«
»Na schön. Klappt es mit dem Personenschutz von Annemarie Wiesner und ihrer Familie?«
»Ja, scheint so, jedenfalls, soweit ich es bisher gesehen habe. Bis sich alles eingependelt hat, sollen Frau Wiesner und ihre Familie heute und morgen noch zu Hause in ihrer Wohnung bleiben, danach sehen wir weiter.«
Döring schien noch etwas sagen zu wollen.
Jetzt haut er mir um die Ohren, dass ich im Lohfeld-Fall getrickst und gemauert habe!, durchfuhr es Carl. Doch es kam nichts mehr, Döring hatte es sich offenbar anders überlegt und senkte wieder den Kopf über die vor ihm liegende Akte.
Direkt im Anschluss an das Gespräch sorgte Carl dafür, dass Borjan Drewin auf freien Fuß kam. Dabei erinnerte er sich zwangsläufig wieder daran, wie zutiefst schockiert Anne bei der Verhaftung des jungen Mannes ausgesehen hatte. In die Klarastraße traute er sich an diesem Tag nicht mehr.
An diesem Abend führte Keitel all die Handgriffe, die vor dem ersten Bogenstrich üblich und ihm seit vielen Jahren vertraut waren, auf andere Weise aus als sonst. Nicht, dass er die Reihenfolge geändert hätte oder die technischen Abläufe als solche – es war einfach nur seine eigene Wahrnehmung, die den Unterschied machte. Bei jeder einzelnen Bewegung stellte er sich vor, dass es das letzte Mal wäre. Das letzte Mal, dass er den Bogen mit Kollophonium bestrich, bis sich genug von der pulvrigen, leicht klebrigen Masse in den winzigen Widerhaken des Rosshaars verteilt hatte. Das letzte Mal, dass er den Bogen spannte, seinen Meisterbogen, gefertigt in Mittenwald, von einem Traditionshersteller, der seinesgleichen suchte. Das letzte Mal, dass er die Wirbel zum Stimmen der Saiten drehte, das letzte Mal, dass er seine Noten auf dem Ständer platzierte.
Er hatte ein Stück gewählt, in das er sich fallen lassen konnte, in ein Meer aus Tönen, die sich unter seinen Händen wie von allein zu Rhythmen, Harmonien und Melodien fügten: das legendäre Cellokonzert h-Moll, Opus 104 , von Antonín Dvořák.
Als er den Bogen aufsetzte, schräg zur Saite und exakt im gewohnten Winkel, gewann die Vorstellung, dass ihm dies in Zukunft vielleicht nie wieder vergönnt sein würde, an erschreckender Tiefe. Vielleicht lag es daran, dass er gegen diese Angst anspielen musste – in seinen eigenen Ohren klangen die Passagen heute makelloser als alles, was er je zustande gebracht hatte.
Wie so oft kam ihm in den Sinn, dass die jüdischen Orchestermitglieder in den Vernichtungslagern um ihr Leben gespielt hatten. Zu viele falsche Töne, und sie gingen ins Gas. Ein wiederholter Missklang beim Einsatz, und es war aus mit ihnen.
Er selbst hätte in einem dieser Orchester sitzen können. Wäre als Berufsmusiker wahrscheinlich sogar in einem gelandet, wenn sie ihn geschnappt hätten.
Weiterzuspielen, während alle anderen um einen herum zu Tausenden, ja Zehntausenden ermordet wurden, Männer, Frauen, Kinder – hätte die Musik da mehr für ihn sein können als eine tiefschwarze Grube voller Todesangst? In was hatte sich die Musik in Auschwitz verwandelt, als sie ihrer universellen Bedeutung, dieser schon fast göttlichen Erhabenheit, entrissen und zur Manövriermasse gnadenloser Massenmörder gemacht worden war?
Er wusste es nicht, obwohl er bei seinem Spiel so sehr versuchte, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Dem Schicksal derer nachzuspüren, die auf sich genommen hatten, was ihm erspart geblieben war.
An diesem Abend war es, als spielte er nicht nur um sein Leben, sondern auch um das von anderen. Nicht die namenlosen Toten, sondern die Lebenden waren darauf angewiesen, dass er keine Fehler machte. Dass er im zweiten Satz beim Adagio nicht zu langsam wurde. Im Finale eine Feuer sprühende Vollkommenheit entfachte, so wie es diese Komposition verdiente. Nur wenn er alles richtig machte, konnten andere weiterleben.
Mit kraftvollem Bogenstrich vollendete er den letzten Satz des einzigartigen, wunderbaren Stücks, das sogar Brahms in Verzückung versetzt hatte.
Einige Augenblicke blieb er noch erschöpft sitzen, hielt das Cello umfangen wie einen geliebten Menschen.
Dann stand er auf und stellte das Instrument zurück auf die Halterung.
Fritzi lag in ihrem Hundebettchen und sah mit großen Augen zu ihm auf.
»Gutes Mädchen. Komm, wir gehen noch mal raus.« Er strich ihr über das wollige Köpfchen, ehe er ihr die Hundeleine anlegte. Er hatte eine Verabredung, und es wurde Zeit, sie einzuhalten.
Der Essener Gruga-Park, einst Schauplatz pompös ausgerichteter Feste und Gartenschauen, war durch die Bombenangriffe buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht worden. Auf den brachliegenden Flächen waren Gemüsefelder angelegt worden, um die hungernde Bevölkerung sowie die Not leidenden Krankenanstalten zu versorgen. Mittlerweile hatten die Instandsetzungsarbeiten begonnen; zu Pfingsten war der Botanische Garten wiedereröffnet worden. Bis die letzten Spuren der Verwüstung getilgt waren, würden jedoch noch Jahre vergehen.
Der Ort seiner Verabredung befand sich abseits der Anbauflächen am Rande des Parks, in einem von Schuttbergen gesäumten Areal, das zusätzlich von wildwüchsigem Gestrüpp abgeschirmt war. Man musste sich förmlich hindurchkämpfen, um das Gelände betreten zu können.
Sein Sohn wartete schon auf ihn. Keitel sah seine einsame Gestalt im schwindenden Tageslicht inmitten der Trümmerhaufen auf einem Betonklotz sitzen.
»Da bist du ja!« Arnold sprang auf und wollte Keitel umarmen, doch der wich ihm aus. Fritzi zerrte an der Leine und knurrte verhalten.
»Was hast du nur getan, Junge!«, sagte Keitel aufgewühlt.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du hast diesen Arzt ermordet!«
Arnolds Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. »Er hat versucht, Anne wehzutun. Ich habe sie vor dem Schwein gerettet.«
»Du bist völlig verblendet.« Keitel versuchte, Ruhe zu bewahren und seinen Sohn zur Besinnung zu bringen. »Junge, so kann es nicht mit dir weitergehen! Du musst fort von hier, für immer! Komm mit mir!«
»Wohin denn?«
»Ich will nach Israel auswandern.« Keitels Entschluss war in derselben Sekunde gefallen, als er die Worte aussprach. »Unsere Papiere von früher habe ich noch, deine und meine. Wir können alles hinter uns lassen! Morgen schon! Du musst es nur wollen, dann packe ich mein Zeug zusammen und breche mit dir auf. Du musst keine Angst mehr haben, nie mehr. Ich kümmere mich um dich. Arbeit werde ich da immer finden, und wenn ich wieder als Musiklehrer anfangen muss.«
Er hielt inne und bemerkte bestürzt, dass Arnolds Augen sich mit Tränen füllten.
»Das würdest du für mich tun?«, fragte sein Sohn mit dünner Stimme.
»Natürlich«, sagte Keitel, mit einem Gefühl, innerlich vollständig ausgehöhlt zu sein. Arnold trug immer noch die Sachen, die er ihm vor ein paar Tagen gegeben hatte, er sah nicht mehr ganz so schlimm aus wie vorher. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er wieder unrettbar verwahrlost wäre. Keitel wusste nicht, woher er die Kraft nahm, weiterzusprechen und Entschlossenheit auszustrahlen. »Ich bin doch dein Vater, ich werde dich nicht im Stich lassen.« Er zog ein mitgebrachtes Butterbrot aus der Tasche, ein Teil seines Abendessens, von dem er etwas für den Jungen aufgehoben hatte. »Da, iss erst mal was!«
Arnold nahm das Brot, riss es aus dem Zeitungspapier, in das es eingewickelt war, und schlang es in wenigen gierigen Bissen herunter. Dabei irrten seine Blicke ab, die Augen wurden leer, und da merkte Keitel, dass er ihn nicht hatte erreichen können. Sein Sohn lebte in seiner eigenen, von verzerrten Wahrnehmungen geprägten Welt.
»Bald habe ich alles in Ordnung gebracht«, sagte Arnold mit vollem Mund. »Ich muss nur noch ein paar Dinge erledigen.«
»Was für Dinge?«, wollte Keitel alarmiert wissen. »Es hat doch nichts mit Anne zu tun, oder? Versuch nicht, ihr noch einmal nahe zu kommen, sie wird rund um die Uhr polizeilich bewacht!«
»Ich weiß. Dieser eine Bulle – der ist scharf auf sie und will sie für sich haben. Aber der Bessere gewinnt, das wird er noch begreifen.«
»Denk nicht mal dran, dich mit ihm anzulegen! Vor allem aber musst du dich von Anne fernhalten, hörst du! Versprich mir, dass du sie in Ruhe lässt!«
»Keine Sorge, Vater, es wird alles gut. Geh du ruhig schon nach Israel, dann komme ich dich bestimmt mal von Südamerika aus besuchen. Da können wir zusammen Apfelsinen essen, die sollen ja in Israel überall wachsen. Ich würde sehr gern mal wieder eine Apfelsine essen, wirklich.«
Keitel schluckte, von plötzlichem Mitgefühl übermannt. Er nestelte einen Zwanzigmarkschein aus der Tasche, die Hälfte seines Kopfgeldes. »Hier, davon kannst du dir was zu essen kaufen. Und vielleicht ein sauberes Hemd.«
»Danke.« Arnold steckte den Schein gleichmütig ein. Dann wandte er lauschend den Kopf. Ganz in der Nähe waren Schritte zu hören. Arnold zögerte keine Sekunde, er drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon. Im Laufschritt steuerte er eine Lücke zwischen den Schuttbergen an und war im nächsten Moment verschwunden.
Frieda hatte den für sie abgestellten Beamten von der Schutzpolizei überredet, sie allein losziehen zu lassen. Er hieß Schubert und war ein sympathisch wirkender junger Mann Ende zwanzig, frisch verheiratet und gerade zum ersten Mal Vater geworden, wie er ihr erzählt hatte. Vielleicht war er deswegen so aufrichtig darum bemüht, alles richtig zu machen. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, ihn davon zu überzeugen, dass sie nur mit einer Freundin ins Kino wollte, und wie unmöglich es aussähe, dabei ständig einen Polizisten im Schlepptau zu haben, noch dazu einen in Uniform.
»Für wen sollen die Leute mich denn halten?«, hatte sie mit unschuldigem Augenaufschlag gefragt.
Peinlich berührt hatte er irgendwas von öffentlicher Sicherheit und Ordnung gestammelt und dass er in Teufels Küche käme, aber sie hatte ihm beteuert, es niemandem zu verraten – verbunden mit dem Versprechen, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, da kannte er kein Pardon.
Frieda sah sich auf ihrem Weg zu Magnus’ Wohnung vorsorglich immer wieder um. Das Heft des Springmessers hielt sie verborgen in der Hand, den Daumen am Knopf. Eines hatte sie inzwischen über ihren Ehemann gelernt – er war zwar dem Wahnsinn anheimgefallen, aber das hinderte ihn nicht daran, mit tückischer Entschlossenheit seine Pläne zu verfolgen. Andere auszukundschaften und ihnen an geeigneter Stelle aufzulauern, schien seine besondere Stärke zu sein. Und wenn er schon mit solchem Eifer plante, Anne zu der Seinen zu machen, lag es durchaus im Rahmen des Möglichen, dass er die Scheidung von seiner lästigen Noch-Ehefrau eigenhändig vollziehen wollte.
Vor dem Haus, in dem Magnus seine Wohnung hatte, lungerten zwei Männer in Anzügen herum, qualmende Zigaretten im Mundwinkel und elegante Hüte auf dem Kopf – halbseidene Gestalten aus der Essener Unterwelt, die sich häufiger in Magnus’ Nähe aufhielten. Einmal hatten sie auch Frauen im Arm gehalten, grell geschminkte und maßlos aufgedonnerte Geschöpfe, die den Eindruck machten, als kämen sie direkt aus der Stahlstraße. Frieda hatte Magnus darauf angesprochen, aber er hatte nur lächelnd abgewunken. »Das sind Bekannte von mir, zerbrich dir über die nicht den Kopf. Ich mache mit vielen Leuten Geschäfte, Prinzessin. Und glaub mir, die laufen gut.«
Es musste wohl stimmen, denn seine Laune hätte nicht besser sein können. Die große Zeit des Schwarzmarkthandels war zwar vorbei, man konnte ja wieder fast alles kaufen, aber Magnus hatte gemeint, das Geld liege auf der Straße, man müsse es bloß aufheben.
An diesem Abend standen die Männer allein da, sie machten Frieda unter galantem Lüften ihrer Hüte den Weg frei. Einer der beiden öffnete ihr die Haustür und ließ sie mit einem anzüglichen Lächeln durch. Sie hätte ihm am liebsten eine geklebt, weil er sie auf diese widerlich ölige Weise angrinste.
Als Magnus ihr die Wohnungstür öffnete und sie ohne Umschweife in eine leidenschaftliche Umarmung zog, waren die Männer vorm Haus augenblicklich vergessen.
Sie streiften einander noch im Flur der Wohnung die Kleidung vom Körper. Frieda trug nur ein Höschen drunter, und Magnus’ Hemd war schon aufgeknöpft, das beschleunigte die ganze Sache zusätzlich.
Er fand gerade noch die Zeit, ein Präservativ überzuziehen, dann nahm er sie im Stehen an der Wand, hart und schnell, und sie schrie unter der Wucht seiner Stöße vor Lust auf, bis sie beide gleichzeitig zum Höhepunkt kamen.
Es erstaunte sie immer wieder, wie einfach das mit ihm war, fast so, als wären sie aufeinander geeicht, wie zwei Präzisionsuhrwerke, bei denen alle Rädchen so justiert waren, dass sie exakt im selben Rhythmus liefen.
Immer noch in ihr, trug er sie ins Schlafzimmer. Sie hatte beide Beine um seinen Rücken geschlungen und ließ ihn auch dann nicht los, als sie zusammen aufs Bett sanken.
Himmel, wie sie es liebte, von ihm geliebt zu werden! Es war ein solches Gefühl von Leichtigkeit, ein einziger Genuss, und hätte sie sich dazu ein Bild vorstellen sollen, wäre es das von einem Strauß bunter Luftballons, die in einen strahlend blauen Himmel emporschwebten.
Eine Weile blieben sie so zusammen liegen, schweißnass von dem hitzigen Liebesakt, die Herzen heftig pochend, die Gesichter einander zugewandt.
»Du bist einfach unglaublich«, sagte er nach einer Weile.
»Ich weiß«, sagte sie nur, denn sie wusste, wie sehr es ihm gefiel, wenn sie so schnoddrig auf seine Komplimente reagierte.
Magnus löste sich vorsichtig von ihr. »Ich hab was für dich.«
Er stand vom Bett auf und holte ein Päckchen aus dem Nebenzimmer. Mit großer Gebärde hielt er es ihr hin. Frieda schaute es an und dachte an ein anderes Päckchen. Das, welches Arnold ihrer Schwester vorgestern nach dem Ende ihrer Schicht verehrt hatte. Noch ein Mühlstein um Annes Hals, und an allem war nur sie, Frieda, schuld.
Sie unterdrückte einen Anflug von Selbstekel und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während sie das Päckchen entgegennahm. Es war eine glänzend lackierte Schuhschachtel, und einen Moment lang dachte Frieda, es könnten vielleicht schöne neue Pumps darin sein; Magnus wusste, wie sehr sie welche wollte.
Aber dann hob sie den Deckel an und sah die Pistole. Ungewohnte Empfindungen durchströmten sie bei dem Anblick der Waffe, es war eine Mischung aus freudiger Erregung und einem Hauch von Angst. Und noch etwas spielte mit hinein, sie musste kurz in sich hineinhorchen, um es richtig einordnen zu können.
Es war ein Gefühl von unumschränkter Macht.