Kapitel 18

D as Wochenende rückte näher, und Carl erging sich in inneren Monologen, mit denen er auszuloten versuchte, wie sehr Anne ihm Borjans Verhaftung übel nahm. Bisher hatte er sich davor gedrückt, es in Erfahrung zu bringen, aber an diesem Tag wollte er es endlich angehen. Er plante, sie abends von der Arbeit abzuholen; seit heute ging sie wieder hin. Inzwischen stand sie, wie auch ihre Schwestern und ihr kleiner Neffe, permanent unter Polizeischutz. Die ganze Familie versuchte, so normal wie möglich weiterzuleben. Anne schob für den Rest der Woche Spätschicht im Krankenhaus, Lotti und Emil gingen zur Schule, und Frieda tat das, was sie immer machte – sich in der Gegend herumtreiben und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Anne hatte gemeint, ihre Schwester wolle sich nach einer Stelle umsehen, aber Carl hatte nicht den Eindruck, dass Frieda es damit besonders eilig hatte.

An diesem Freitag hatte er pünktlich Feierabend machen wollen, doch eine halbe Stunde vor Dienstschluss kam noch eine dringliche Meldung aus Holsterhausen herein. Ein Mann hatte im Suff seine Frau erstochen, vor den Augen der achtjährigen Tochter, auf die er anschließend auch noch losgegangen war. Im letzten Moment hatten zwei Nachbarn eingegriffen und ihn unter Einsatz ihres eigenen Lebens unschädlich gemacht. Im Kampf hatte er beide mit dem Messer verletzt, bevor der eine ihm mit einem Ziegelstein den Schädel eingeschlagen hatte.

Carl und Werner fuhren in einer der besseren Klapperkisten vom Fuhrpark zum Tatort. Dort zog sich die Aufnahme des Falles endlos lange hin; die Zeugen standen Schlange, hauptsächlich Nachbarn, die das Bedürfnis hatten, von den zahlreichen früheren Gewaltausbrüchen des Täters zu berichten.

Ein Leichenwagen kam, um die mit einem Laken abgedeckte Tote abzuholen. Die verletzten Retter waren bereits vor Carls und Werners Eintreffen ins Krankenhaus gebracht worden, ebenso der Messerstecher. Er lebte noch, aber es war fraglich, ob er je wieder aufwachte.

Für das verstörte kleine Mädchen war eine WKP -Beamtin angefordert worden, eine der wenigen weiblichen Einsatzkräfte bei der Kriminalpolizei, die regelmäßig dann hinzugezogen wurden, wenn Kinder von einem Verbrechen betroffen waren, sei es als Opfer, Zeuge oder Täter. Die Beamtin hatte das Mädchen mitgenommen und würde für seine Unterbringung sorgen.

Die Leute standen immer noch grüppchenweise auf der Straße herum und unterhielten sich, manche über das blutige Geschehen in ihrer Nachbarschaft, andere über ein Ereignis, das weltweit für Unruhe sorgte und die Angst vor einem neuen Krieg hochkochen ließ. Auch im Präsidium war es gestern schon Tagesthema gewesen – die Sowjets hatten, offenbar als Reaktion auf die Währungsreform, eine Blockade über Westberlin verhängt und die Stadt von allen Land- und Wasserwegen ins Umland abgeschnitten. Mehr als zwei Millionen Menschen drohten zu verhungern; die dort noch vorhandenen Nahrungsmittel würden nicht lange reichen. Die Befürchtung war groß, dass die Westmächte die Stadt preisgeben und in die Hände der Kommunisten fallen lassen würden. Man wartete stündlich auf neue Nachrichten, und wer kein Radio besaß, ging zu Nachbarn, um sich dort zu informieren.

Carl steckte Notizbuch und Bleistift ein. Sie waren hier fertig. »Von mir aus können wir«, sagte er zu Werner.

»Von mir aus erst recht.« Werner sah müde aus, was ihn aber nicht davon abhielt, sich schon wieder eine Zigarette anzustecken. »Mir reicht’s für heute mit den Überstunden.«

Carl schaute auf seine Armbanduhr. Man konnte in diesen Tagen, an denen es so lange hell blieb, leicht die Zeit vergessen. Tatsächlich war es schon fast acht, und wenn er sich noch umziehen und einen Happen essen wollte, bevor er Anne abholte, wurde es wirklich höchste Eisenbahn.

Gemeinsam mit Werner ging er zum Einsatzfahrzeug zurück, das sie am Ende der Straße abgestellt hatten.

Die Schüsse kamen aus dem Hinterhalt und ohne jede Vorwarnung. Direkt neben Carl durchschlug ein Projektil die Scheibe der Fahrertür, ein weiteres zog einen sengenden Streifen über seinen rechten Oberarm.

Die Leute, die noch auf der Straße standen, flüchteten sich unter entsetzten Schreien in ihre Häuser.

Weitere Kugeln pfiffen Carl um die Ohren, während er geduckt um den Wagen herumhastete, um sich auf der anderen Seite in Deckung zu werfen. Entsetzt sah er, dass Werner getroffen worden war. Auf seiner Hemdbrust breitete sich ein rasch wachsender Blutfleck aus. Fluchend zog Carl den Revolver aus dem Gurt, entsicherte ihn und spähte vorsichtig hinter dem Kotflügel hervor. Auf einem unbewohnten Trümmergrundstück, ungefähr dreißig Meter entfernt, bewegte sich etwas hinter einem Schutthaufen, und im nächsten Moment wurde von dort aus ein weiterer Schuss in seine Richtung abgefeuert, der ihn nur um eine Handbreit verfehlte. Er zog instinktiv den Kopf ein, kam aber sofort wieder hoch und schoss kurz entschlossen auf die Stelle, wo er den Schützen vermutete. Der Rückstoß war hart wie ein Hammerschlag, Carl ging wieder in Deckung und biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Gleich darauf riskierte er einen weiteren Blick, doch es kamen keine Schüsse mehr. Er lauschte angestrengt und hörte das Geräusch von Schritten, die sich rasch in die entgegengesetzte Richtung entfernten.

Dann wandte er sich wieder zu Werner um, den es schlimm erwischt hatte. Die gesamte Vorderseite des Hemdes war mittlerweile blutgetränkt.

Carl schlug sich augenblicklich die Idee aus dem Kopf, den Täter zu verfolgen. Werner musste sofort ins Krankenhaus, und außer ihm selbst war niemand da, der ihn auf schnellstmöglichem Weg hinbringen konnte.

*

»Das hätten wir«, sagte Doktor Emmerich. Die Lampe über dem OP -Tisch spiegelte sich in seinen Brillengläsern, als er einen Schritt zurücktrat, Handschuhe und Kittel voller Blut. Blut lief auch durch den Drainageschlauch, der seitlich aus dem – ebenfalls blutüberströmten – Brustkorb des Patienten ragte. Für den Moment war die größte Gefahr gebannt, aber es hatte Spitz auf Knopf gestanden, und hätte der Zufall nicht mitgeholfen, wäre der Mann jetzt sicher tot.

Die erste glückliche Fügung hatte darin bestanden, dass Doktor Emmerich praktisch sofort vor Ort gewesen war. Eigentlich hatte er mit seiner Frau ins Theater gehen wollen, aber die hatte Migräne, also waren sie zu Hause geblieben, in der Dienstwohnung auf dem Gelände der Polizeiliegenschaft. Ein weiterer Zufall war die Anwesenheit eines Polizisten – es handelte sich um den für Anne abgestellten Personenschützer –, der während des Krieges als Sanitäter an der Front gewesen war. Er hatte Carl geholfen, den verletzten Kollegen vom Wagen in den Röntgenraum zu tragen, wo Anne umgehend alles für die Erstversorgung vorbereitet hatte. Die Symptome hatten zu dem Zeitpunkt bereits auf einen lebensbedrohlichen Pneumothorax sowie eine Verletzung größerer Pulmonalgefäße hingedeutet, was sich kurz darauf bestätigt hatte.

Anne hatte im Krieg viele Menschen mit perforierter Lunge auf dem OP -Tisch sterben sehen. Sie hatte sich schon zu Beginn des Eingriffs darauf eingestellt, Carl hinterher eine schlimme Nachricht überbringen zu müssen.

Aber der Arzt belehrte sie eines Besseren. Noch nie hatte sie bei einer Thorakotomie assistiert, bei der buchstäblich jeder Handgriff saß, und das bei größtmöglichem Tempo.

»Was ist?«, fragte Doktor Emmerich, dem offenbar nicht entging, wie Anne ihn musterte. »Stimmt was nicht?«

»Meine Güte, nein, ganz im Gegenteil!« Verlegen hantierte sie an dem Narkosegerät herum, obwohl sie die Ätherzufuhr bereits abgestellt und die Maske vom Gesicht des Patienten entfernt hatte. Sie suchte nach Worten und platzte dann heraus: »Das war einfach phänomenal! Ich meine, diese Technik … Wie Sie das gemacht haben! So schnell und … sicher!« Beinahe ehrfürchtig sah sie ihn an. »Sie waren Militärarzt, oder?« Nur auf diese Weise hatte er sich eine solche Expertise in der Thoraxchirurgie erarbeiten können.

Der Arzt nickte, er wirkte eher bedrückt als geschmeichelt. »Zwei große Kriege und Tausende Soldaten, die unter meinen Händen verblutet sind. Mehr, als ich retten konnte.« Er deutete auf den Patienten. »Dafür wird der hier es schaffen, wenn keine Komplikationen dazukommen.« Er räusperte sich. »Wenn wir schon mit Lob um uns werfen – Sie haben Ihre Sache ebenfalls ausgezeichnet gemacht. Sie einzustellen war die beste Entscheidung seit Jahren. Ich muss unbedingt dran denken, mich bei Inspektor Bruns für die Empfehlung zu bedanken.«

Seine Worte riefen Anne ins Gedächtnis, dass Carl schon die ganze Zeit draußen wartete. Als sie auf den Gang hinaustrat, um ihm Bescheid zu sagen, sprang er von einem der dort stehenden Stühle auf und kam ihr entgegengeeilt, in seinen Augen die bange Frage.

»Die Operation ist gut verlaufen«, erklärte Anne sofort. Lieber hätte sie gesagt: Dein Kollege kommt durch. Aber das wäre verfrühter Optimismus gewesen. In der ersten Zeit nach einem so schwerwiegenden Eingriff konnte noch alles Mögliche passieren.

Immerhin hatte ihre Antwort den gewünschten Effekt – Carl entwich ein lang gezogener, erleichterter Atemzug, ihm schien die Last der ganzen Welt von den Schultern gefallen zu sein. Anne unterdrückte den Impuls, ihn zu umarmen und ihm zu sagen, wie froh sie war, dass ihm nichts passiert war. Als er hier eingetroffen war, laut um Hilfe rufend und von oben bis unten blutbesudelt, hatte sie im ersten Moment gedacht, er selbst wäre schwer verletzt. Doch es war nicht sein Blut gewesen; er hatte nur eine Schramme davongetragen, von einem Streifschuss, der seinen Arm getroffen hatte. Der Sanitäter hatte ein Pflaster draufgeklebt.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.

»Jetzt? Deutlich besser als vor einer Minute.« Carl lächelte flüchtig, dann wurde er wieder ernst. »Im Augenblick interessiert mich viel mehr, wie es Werner geht.« Erklärend fügte er hinzu: »Er ist nicht nur mein Kollege, sondern auch ein guter Freund.«

Anne hatte schon so was vermutet. »Momentan ist sein Zustand stabil, doch ich müsste lügen, würde ich sagen, dass er endgültig über den Berg ist. Die erste Nacht ist immer kritisch. Aber er wird durchgehend überwacht, die Nachtschwester ist schon bei ihm, und Doktor Emmerich bleibt in Rufbereitschaft.«

»Ich dachte, er stirbt mir im Wagen weg.« Carl blickte auf seine Hände, die mit gestocktem Blut überzogen waren.

»Er hatte Glück«, sagte Anne. »Doktor Emmerich ist ein großartiger Chirurg.«

»Ich weiß. Deshalb habe ich Werner ja auf direktem Wege hierhergebracht.«

Anne fragte ihn geradeheraus: »Glaubst du, dass es Arnold war?«

Carl zögerte, als wollte er vermeiden, sie mit seiner Antwort über Gebühr zu beunruhigen, doch dann nickte er resigniert. »Wir müssen noch Spuren sichern. Ballistische Untersuchungen anstellen, Geschosshülsen vergleichen und so weiter. Aber ja, ich denke, er war’s.« Er wechselte das Thema, und sein nächster Satz klang, als hätte er Bauchschmerzen. »Anne … Wegen Borjan Drewin … Lass mich dir erklären …«

Sie winkte sofort ab. »Nicht nötig. Er hat uns gestern Abend noch alles erzählt. Dass er sich verdächtig gemacht hat, weil er aus lauter Angst vor der deutschen Polizei weggelaufen ist und dass du wohl nicht anders konntest. Falls du dich fragst, ob er wütend ist – auf dich persönlich eher nicht. Auf andere bei der Essener Polizei – ganz sicher.« Sie hielt inne, denn sie musste daran denken, was Aleksandr und Borjan von ihrer Zeit als Zwangsarbeiter erzählt hatten. Von dem, was man ihnen angetan hatte. Von dem Mord an ihrer Schwester Mariana, die nichts Schlimmeres verbrochen hatte, als zusammen mit ihren Brüdern ein paar Äpfel aufzuheben, die von einem Marktkarren gefallen waren.

Schon davor war das Leben der Geschwister die reinste Qual gewesen. In Baracken zusammengepfercht wie Vieh, ernährt mit dünner Steckrübensuppe, waren sie nichts weiter gewesen als jederzeit austauschbares Menschenmaterial, gerade gut genug, um sich in den Kruppschen Rüstungsfabriken und beim Kohleabbau bis auf die Knochen schinden zu lassen.

Anne dachte daran, wie oft sie selbst solche ausgehungerten, heimatlosen Gestalten gesehen hatte. Auch in Köln waren sie zu Tausenden im Einsatz gewesen, die meisten noch blutjung, kaum dem Elternhaus entwachsen. Je nach Herkunft hatten sie aufgenähte Stoffstücke oder Armbinden in unterschiedlichen Farben tragen müssen, so wie die Juden den gelben Stern. Angestrengt versuchte Anne sich zu erinnern, was sie bei dem Anblick dieser jungen Menschen empfunden hatte. Ob sie je den Impuls verspürt hatte, gegen das schreiende Unrecht aufzustehen. Oder ob sie einfach nur stoisch und bestenfalls mit einem Hauch von Mitleid hingenommen hatte, was sie sah.

Vor Kriegsende, als die Versorgungslage der deutschen Bevölkerung noch sehr viel besser gewesen war als alles, was danach kam, hätte jedem auffallen können, wie elend es im Vergleich dazu den Zwangsarbeitern ging. Ihre Sammelunterkünfte standen nicht abseits, sondern kreuz und quer über die Stadt verteilt. Diese Menschen waren nicht unsichtbar gewesen. Jeder war ihnen begegnet, auch Anne.

Carl riss sie aus ihren düsteren Erinnerungen. »Woran denkst du?« Seine Stimme klang besorgt.

»Ach, es ist nichts.« Sie wischte sich über die Augen. Die Erschöpfung kam mit solch unvermittelter Wucht über sie, dass sie sich an die Wand lehnen musste. Es war eine andere Art von Erschöpfung als jene, die sie sonst nach einer anstrengenden, viel zu langen Schicht verspürte. Fast fühlte es sich an wie Trauer. Nicht so schneidend und alles durchdringend wie nach dem Tod der Mutter, eher leise und nagend. Aber trotzdem war es, als hätte sie etwas verloren.

Die Worte, die ihr über die Lippen kamen, brachten es zu ihrer Verwunderung auf den Punkt, ohne dass sie noch länger darüber nachdenken musste.

»Sie waren siebzehn, Carl. Borjan und Aleksandr waren siebzehn Jahre alt, als die Waffen-SS ihre Eltern umgebracht und sie und ihre Schwester nach Essen verschleppt hat.«

»Ich weiß.« Carl schien auf eine verstörend intime Weise zu ahnen, was sie damit ausdrücken wollte. »Ich frage mich oft, ob es irgendeinen Punkt gab, an dem ich irgendwas hätte tun können. Auf Zollverein waren auch Ostarbeiter, jede Menge. Die hatten sogar extra Baracken auf dem Gelände. Das waren so unfassbar arme Schweine, sie starben wie die Fliegen.« Er hielt inne und starrte vor sich hin. »Ich hab’s mitgekriegt und nichts gemacht. Keine Ahnung, warum nicht. Es war nicht mal so, dass ich zu feige war – es kam einem einfach irgendwann normal vor. Vielleicht habe ich mir auch bloß selber zu leidgetan, damals. Wir waren ja alle mehr oder weniger am Arsch.« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Es ist keine Entschuldigung.«

»Gibt es denn überhaupt eine? Egal, was wir sagen – es klingt doch immer danach, als wollten wir uns rausreden.«

Eine Weile schwiegen sie beide, verbunden durch die Erinnerung, die aus der Vergangenheit heraus Anklage erhob.

Ein Mann kam durch den Gang auf sie zu. Anne hatte ihn noch nie gesehen, aber Carl spannte sich bei seinem Anblick sichtlich an. Seine Miene verhärtete sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Offenbar war er nicht gut auf den Besucher zu sprechen.

*

Schneider wirkte besorgt, als er vor Carl und Anne stehen blieb. »Guten Abend«, sagte er, während er mit einer kurzen, in Annes Richtung angedeuteten Verbeugung den Hut zog. »Ich habe gehört, dass Werner angeschossen wurde. Wie geht es ihm?« Ehe Carl etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Mir ist schon klar, dass du glaubst, es ginge mich einen feuchten Kehricht an, aber lass dir sagen, dass Werner zu den wenigen Menschen gehört, die mir immer schon am Herzen lagen. Von allen Kollegen aus unserer Abteilung war er mir mit Abstand der liebste. Ich kenne ihn seit über zwanzig Jahren, und wir haben bis zum Schluss eng zusammengearbeitet, mit einer Aufklärungsrate, die immer noch unerreicht ist.«

»Du mit deiner scheiß Aufklärungsrate, die kannst du dir sonst wohin stecken«, fuhr Carl ihn an. Der Zorn war in ihm aufgebrochen wie eine giftige Frucht, am liebsten hätte er Schneider unter irgendeinem Vorwand zusammengeschlagen.

Schneiders Reaktion war kalt wie Eis. »Dass er niedergeschossen wurde, ist allein deine Schuld. Weil du es seit Monaten nicht hinkriegst, Hoffmann zu schnappen. Mach dich mal drauf gefasst, dass ich das für dich erledige, Herr Inspektor

Carl siedete innerlich, doch er zwang sich mit äußerster Anstrengung zu einer gleichmütig klingenden Erwiderung. »Wo wir schon beim Thema sind – offenbar verheimlichst du der Polizei nähere Erkenntnisse über Hoffmanns Schlupfwinkel. Ich fordere dich hiermit auf, mir alle Einzelheiten zu nennen, die zu einer Ergreifung des Gesuchten beitragen können. Solltest du dich weigern, bin ich gezwungen, dich wegen Unterstützung eines Massenmörders festzunehmen.«

»Wie kommst du darauf, dass ich irgendwas über Hoffmanns Verstecke weiß?«, fragte Schneider in zuvorkommendem Ton.

»Du hast es Werner gegenüber erwähnt, und der hat es mir erzählt.«

»Das hat er eindeutig missverstanden, so was habe ich nie gesagt.«

Carl erkannte die Lüge in Schneiders Augen und konnte seine Gefühle nur schwer im Zaum halten. Hätte Anne sich nicht mit hörbarem Unbehagen geräuspert, wäre er wohl im nächsten Moment in Wutgebrüll ausgebrochen. Und hätte damit einen kriminalistischen Kardinalfehler begangen.

Zorn vernebelt das Denken.

Es war Schneider gewesen, der ihm und Werner vor zwei Jahrzehnten in der Ausbildung beigebracht hatte, wie sich ein Kriminalbeamter bei seinen Ermittlungen zu verhalten hatte – rational, überlegen, beherrscht. Carl hatte den Eindruck, von diesem Idealzustand noch nie so weit entfernt gewesen zu sein wie in diesem Augenblick.

»Sie müssen jetzt gehen«, mischte Anne sich in resolutem Tonfall ein. »Besuchern ist das Betreten der Station außerhalb der dafür vorgesehenen Zeiten untersagt. Davon abgesehen sind Besuche auch nur dann gestattet, wenn der Zustand des Patienten es erlaubt. Wovon hier überhaupt keine Rede sein kann. Ich möchte Sie bitten, nicht vor Ende nächster Woche wieder vorzusprechen.«

Carl sah sie bewundernd von der Seite an. Sie hatte mit dieser Art von sachlicher Autorität gesprochen, die nicht den geringsten Widerspruch duldete. Genauso, wie er selbst es gern getan hätte, aber bei diesem verdammten Drecksack einfach nicht hinbekam.

Auch Schneider schien entsprechend beeindruckt. »Natürlich, ich wollte hier nicht gegen die Hausordnung verstoßen. Fürs Erste bin ich sehr glücklich damit, zu wissen, dass Werner noch lebt, glauben Sie mir.« An Carl gewandt, fügte er hinzu: »Wir sehen uns sowieso bald wieder.«

»Was meinst du damit?«, fragte Carl.

»Dass meiner Wiedereinstellung nichts mehr im Wege steht. Ich habe Widerspruch gegen meine Entlassung eingelegt und bin jetzt nur noch als minderbelastet eingestuft. Es sind bloß noch ein paar Formalitäten zu klären. Dann komme ich zurück.« Schneider lächelte siegesgewiss und blickte Carl in die Augen. »Die alten Zeiten sind wohl doch nicht so leicht totzukriegen, was? Guten Abend, die Herrschaften.« Höflich nickte er Carl und Anne noch einmal zu und ging anschließend davon, ohne ein einziges Mal zurückzublicken.