Kapitel 20

Juli 1948

I ch verstehe nicht, warum du schon wieder beichten musst«, sagte Polizeimeister Schubert am darauffolgenden Samstag zu Lotti. Es klang zutiefst verdrossen. »Du warst doch erst letzte Woche.«

»Ich beichte jeden Samstag«, erklärte Lotti mit Bestimmtheit.

Er gab nach, wenn auch widerstrebend. Insgesamt schien er sich jedoch weniger zu ärgern als sonst. Vielleicht, weil er übers Wochenende wieder das Dreirad von seinem Schwager hatte und deshalb nicht so viel zu Fuß gehen musste wie unter der Woche, wenn er sie zur Schule bringen und wieder abholen musste.

Trotzdem hielt ihn wohl nur ein Rest von Höflichkeit davon ab, sich über ihre Frömmigkeit aufzuregen. Gegenüber seinen Kollegen erlegte er sich weniger Zurückhaltung auf; Lotti hatte einmal mitbekommen, wie er sich mit einem der anderen Polizeibeamten über sie unterhalten hatte. Sie hatte nur Fetzen des Gesprächs verstanden, aber es war das Wort Betschwester gefallen, begleitet von ausgiebigem Gelächter.

Lotti hatte es mit derselben stoischen Opferbereitschaft hingenommen wie all die anderen Kränkungen, die sie schon erduldet hatte. Menschen, die stark im Glauben waren, mussten sich solchen Prüfungen stellen. Ihre Hinwendung zu Jesus konnte dadurch nur tiefer werden.

Die wenigsten Leute verstanden das. Schubert gehörte nicht dazu. Ihn interessierte nur eins: Wann er das nächste Mal schlafen konnte. Er war Vater eines drei Wochen alten Babys, das die Nächte durchbrüllte, und weil seine Frau wegen des Kaiserschnitts kaum aufstehen konnte, oblag es ihm, das Kind stundenlang umherzutragen. Manchmal, so hatte er Lotti erzählt, war er drei Tage am Stück wach, auch wegen der vielen Überstunden, die er zurzeit schieben musste. Ihretwegen. Oder genauer: Für ihre Familie. Bei der Polizei herrschte extremer Personalmangel, also mussten sich die wenigen Beamten, die für die Überwachung abgestellt werden konnten, in unmenschlich langen Schichten abwechseln.

An diesem Samstag war Schubert für Lotti und Emil zuständig, mit anderen Worten, sie mussten zusammenbleiben. Emil durfte nicht zum Spielen verschwinden, und Lotti konnte sich nicht wie erhofft mit Jürgen treffen. Er hatte sie gefragt, ob sie mit ins Kino gehen wolle, und wie gern hätte sie Ja gesagt! Sie war enorm aufgeregt gewesen, ihr Herz hatte gerattert wie eine Lokomotive unter Volldampf, und in dem Moment war es ihr sogar ganz egal gewesen, ob diese Gefühle vielleicht sündig waren.

Aber es ging nicht. An diesem Samstagnachmittag konnte sie nirgendwohin, ohne Emil mitzunehmen, nicht mal zur Beichte. Für sie beide stand nur ein Polizist zur Verfügung, und fürs Kino war Emil noch zu klein.

Über eine Woche dauerte die Bewachung nun schon an. Die anfängliche, von größtmöglicher Furcht geprägte Anspannung war nach und nach einer seltsamen, dumpfen Ergebenheit gewichen. Ihren Schwestern erging es ebenso. Anne hatte dafür eine gute Erklärung gehabt: Kein Mensch halte es auf Dauer aus, in einem Zustand von Panik zu leben, also flache die Angst irgendwann ab und verwandle sich in etwas, das sich erträglicher anfühlte und nur in bestimmten Situationen wieder hochkochte. Lotti fand, dass diese Beschreibung es sehr genau traf. Hatte sie zunächst ihren Schwager hinter jedem Gebüsch und jedem Trümmerhaufen gewähnt und sich zu Tode gefürchtet, so konnte sie die Situation mittlerweile mit einer gewissen Gefasstheit ertragen. Im Übrigen hoffte sie aus tiefster Seele, dass er längst auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Sie betete voller Inbrunst dafür. Vielleicht hatte Gott sie schon erhört. Aber ebenso war möglich, dass das erst beim nächsten oder übernächsten Gebet geschah. Sie würde nicht nachlassen.

»Ich warte dann so lange im Wagen«, sagte Schubert, als Lotti vor der Kirche ausstieg. Emil hatte keine Lust, im Auto sitzen zu bleiben, er ging lieber mit in die Kirche.

Dort war im Moment nicht viel los, nur eine schwarz gekleidete alte Frau kniete in der ersten Reihe, den Kopf zum Gebet gesenkt und einen Rosenkranz in den Händen. Der Beichtstuhl war leer, der Pfarrer war nirgends zu sehen, sicher war er nur kurz in der Sakristei und würde gleich wieder auftauchen. Lotti tupfte sich mit Weihwasser ein Kreuzzeichen auf und warf einen Groschen in den Opferstock. Es war altes Kleingeld, aber das galt ja noch. Sie zündete eine Kerze zum Gedenken an ihre Eltern an, dann kniete sie sich mit Emil in eine der Bankreihen und nutzte die Wartezeit bis zur Rückkehr des Geistlichen zur inneren Einkehr.

»Musst du noch lange beten?«, wollte Emil wissen.

»Ich hab doch gerade erst angefangen!«

»Wie lange dauert es denn?«

»Das merkst du dann schon. Jetzt sei still.«

»Betest du mit Jesus oder mit Gott?«

»Ich bete nicht mit ihnen, sondern zu ihnen.«

Er war eine halbe Minute lang still, dann fragte er: »Bist du schon fertig?«

»Nein«, fuhr sie ihn an, mäßigte sich aber sofort. Hatte nicht Jesus gesagt: Lasset die Kindlein zu mir kommen? Sie strich ihm übers Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Halt einfach mal ein bisschen die Klappe, ja?«

Es war leichter gesagt als getan. Ihr kleiner Neffe hampelte neben ihr herum. Kniete sich hin, setzte sich, stand auf, immer wieder, wie aufgezogen. Lotti ermahnte ihn abermals, sich still zu verhalten, doch er ignorierte sie und fing an, in der Kirche herumzustromern. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Gebete. Wie üblich begann sie mit einem Vaterunser, um dann mit einem Ave-Maria weiterzumachen, immer im Wechsel, bis sie in diese entrückte, fast hypnotische Stimmung kam, die sie für ihre persönlichen Fürbitten brauchte.

Das Erscheinen des Heilands traf sie völlig unvorbereitet, sie hatte nicht im Geringsten damit gerechnet. Mehr noch – sie war sicher gewesen, dass das für immer vorbei war, jetzt, da Hunger und Not der Vergangenheit angehörten. Und doch stand er da, vorn beim Altar, leuchtend und gütig lächelnd wie ehedem.

Sie war mit ihm allein in der Kirche. Die alte Frau war nicht mehr da, und auch Emil war rausgegangen, er vertrieb sich wohl doch lieber die Zeit mit Herrn Schubert. Der ließ ihn ab und zu hinterm Lenkrad sitzen und Polizist spielen, natürlich nur im stehenden Auto.

»Du bist wieder da!« Von Glücksgefühlen überwältigt, stand Lotti auf und ging nach vorn, um dem Erlöser näher zu sein. Seine Erscheinung schien zu verblassen, und besorgt hielt sie inne, doch im nächsten Moment wurde das Bild wieder schärfer.

Er sprach zu ihr, wie immer, ohne die Lippen zu bewegen.

»Das Böse ist nah.«

Lotti erschrak. Wie beim letzten Mal konnte das nur eins bedeuten. Sie hielt sich nicht damit auf, Jesus nach Einzelheiten zu fragen. Wie von Furien gehetzt rannte sie aus der Kirche und blickte sich draußen panisch nach allen Seiten um.

Schubert saß in dem Dreirad hinterm Steuer. Allein. Von Emil war weit und breit nichts zu sehen.

*

Diesmal war es einfacher gewesen, dem Dreirad zu folgen – er hatte ein Fahrrad gestohlen und damit seinen Bewegungsradius enorm erweitert. Dass sich Lotti zur Kirche chauffieren ließ, war ein weiterer glücklicher Zufall. In der Umgebung gab es jede Menge Trümmergrundstücke und damit eine große Auswahl nützlicher Verstecke. Das Fahrrad hatte er in den Überresten eines bis auf die Grundmauern niedergebrannten Hauses deponiert, ehe er in einer anderen Ruine einen geeigneten Beobachtungsposten bezogen hatte.

Eigentlich hatte er sich bloß erhofft, seinen Sohn wieder einmal aus der Nähe sehen zu können. In seinem Versteck hatte er darauf gewartet, dass Lotti und Emil die Kirche wieder verließen.

Aber dann war der Junge allein herausgekommen. Der Bulle im Wagen hatte sich nicht gerührt, auch dann nicht, als sich Emil, einen Stein vor sich herkickend, immer mehr von dem parkenden Dreirad entfernt hatte. Dafür gab es nur eine Erklärung – der Bulle war eingeschlafen.

Sein Herz schlug einen schmerzhaften Trommelwirbel. Er schluckte heftig, als er sah, dass sein Sohn direkt auf ihn zukam, verträumt und ohne sonderlich auf seine Umgebung zu achten. Noch ein Zufall, der ihm in die Karten spielte.

Aber vielleicht war es auch gar kein Zufall. Irgendwer hatte mal zu ihm gesagt, dass alles vorherbestimmt sei. Nicht von Gott, an den glaubte er schon lange nicht mehr. Aber es gab ja noch das Schicksal. Eine mächtige Instanz, die nicht zu unterschätzen war.

In ihm loderte eine Flamme auf, es brannte und tat weh, und plötzlich musste er sich furchtbar anstrengen, um nicht in Tränen auszubrechen. Das Schicksal hatte seinen Sohn zu ihm geführt! Die Botschaft hätte nicht klarer sein können! Nun war es an ihm, sich als Vater würdig zu erweisen. Aber wie, um Himmels willen?

Er begriff, dass er Angst davor hatte, denn Vater zu sein, das war etwas, das er nie gelernt hatte. Frieda hatte es verhindert. Eine jähe Aufwallung von Hass wollte von ihm Besitz ergreifen, doch er kämpfte das Gefühl nieder, weil er seinem Kind nicht mit Hass im Herzen gegenübertreten wollte. Vater zu sein, das bedeutete Verantwortung. Es bedeutete Geduld und Freundlichkeit und Liebe. Er horchte in sich hinein und spürte, dass er diese Fähigkeiten besaß. Dass er es unter Beweis stellen konnte. Man musste ihn nur lassen.

Entschlossen verließ er sein Versteck und ging seinem Sohn entgegen.

*

Carl mobilisierte alle Kollegen, die sich an diesem Nachmittag noch im Präsidium aufhielten. Er klemmte sich ans Telefon und rief bei den umliegenden Revieren an, um zusätzliche Streifen anzufordern. Polizisten schwärmten zu Dutzenden aus, kämmten die gesamte Umgebung der Kirche durch – ohne Ergebnis.

Anne und ihre Schwestern waren nicht davon abzubringen, sich den Suchkommandos anzuschließen. Immer wieder riefen sie verzweifelt den Namen des Jungen, und Carl, der sich die ganze Zeit in ihrer Nähe hielt, war vor Angst um das Kind innerlich wie versteinert. Eine Frau, die zwei Straßen weiter wohnte, hatte gesehen, wie ein Mann, auf den Arnold Hoffmanns Beschreibung passte, mit dem Jungen an der Hand vorbeigegangen war. Nein, Verdacht habe sie nicht geschöpft, warum denn auch, das Kind sei ja brav mitgegangen, außerdem sei sie gerade in Eile gewesen und habe nur flüchtig hingeschaut.

Sie suchten unablässig den ganzen restlichen Nachmittag über bis in den späten Abend hinein.

Bei Einbruch der Dunkelheit war Emil auf einmal wieder da, unverletzt und guter Dinge. Inmitten von Trümmerbergen war er aufgetaucht und nach Hause gelaufen. Ein Streifenpolizist hatte ihn auf dem Heimweg aufgelesen.

Vor dem Haus hatte sich bereits der reinste Volksauflauf gebildet, als Carl mit den Schwestern in die Klarastraße zurückkehrte. Nahezu alle Mieter hatten sich versammelt, desgleichen etliche Nachbarn und Polizeibeamte. Reihum blickte man in erleichterte Gesichter. Der Junge, so die einhellige Meinung, hatte einen Schutzengel gehabt.

Lotti sank bei Emils Anblick weinend auf die Knie. Frieda beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und schloss ihn wortlos in die Arme, das Gesicht in seinen hellen Locken vergraben. Anne hielt sich an einem Laternenpfahl fest. Sie zitterte am ganzen Körper, drauf und dran, zusammenzubrechen. Carl eilte an ihre Seite, um sie zu stützen.

Schubert, der sich unmittelbar darauf ebenfalls einfand, bot ein einziges Bild des Jammers. Gebeutelt von Angst, Reue und Erschöpfung konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Als er am Nachmittag vor Carl hingetreten war, hatte er haltlos geweint und unter vier Augen gestanden, dass ihn während des Dienstes der Schlaf übermannt hatte.

Das, was er in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte, reichte als Strafe wahrscheinlich für den Rest seines Lebens. Carl beschloss nach kurzem innerem Ringen, ein Auge zuzudrücken. Im Bericht musste nicht unbedingt stehen, dass Schubert eingeschlafen war. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, das tat es als Formulierung ebenso. Anderenfalls wäre ein Disziplinarverfahren die Folge, womöglich ein Rausschmiss. Keine guten Aussichten für einen Mann, der gerade erst Vater geworden war.

Ungewollt kam Carl in den Sinn, was Behrends zu ihm gesagt hatte. Wir machen alle mal Mist. Solange wir es nicht rumposaunen und schön die Klappe halten, interessiert’s keinen.

Er weigerte sich, genauer darüber nachzudenken. Es gab Wichtigeres zu tun. Emil musste dringend befragt werden. Auch wenn er längst ins Bett gehörte – jede Minute, die er in der Gesellschaft seines Vaters verbracht hatte, konnte unverzichtbare Erkenntnisse für die weitere Fahndung zutage fördern.

Doch bevor er ein Wort zu dem Kind sagen konnte, ging Frieda dazwischen und zog den Kleinen an sich.

»Wir gehen jetzt rauf«, verkündete sie.

»Ich muss ihm ein paar Fragen stellen. Unbedingt. Es lässt sich nicht auf morgen verschieben.«

»Komm meinetwegen mit hoch. Aber wenn ich sage, dass Schluss ist, hörst du auf.«

Er wollte protestieren, nickte dann aber. Stumm folgte er den Schwestern nach oben in ihre Wohnung. Sie setzten sich an den Küchentisch. Anne schmierte Brote, jeder bekam eine Schnitte, auch Carl. Dazu gab es Pfefferminztee.

Die Lindemanns erschienen auf der Bildfläche. Herr Lindemann bestand auf seinem Nutzungsrecht, er wollte für sich und seine Frau einen späten Imbiss zubereiten.

Carl scheuchte die beiden zurück in den Flur und machte ihnen die Tür vor der Nase zu, mit der Begründung, dass hier eine polizeiliche Ermittlung stattfinde und sie deshalb keinen Zutritt hätten. Herr Lindemann protestierte lautstark und kündigte an, sich bei Carls Vorgesetztem zu beschweren.

»Aber bitte mit zwei Durchschlägen«, rief Frieda zornig durch die geschlossene Küchentür in den Flur. »Verfluchter Nazi!«

Dann war sie still, damit Carl seine Fragen stellen konnte.

*

Später, als Carl endlich wieder abgezogen und Emil im Bett war, ging sie noch runter in die Kneipe. Sie war zu aufgekratzt, um zu schlafen. Borjan und Aleksandr waren ebenfalls noch wach, desgleichen Gustav Keitel. Zu dritt standen sie am Tresen und verstummten bei Friedas Auftauchen mitten im Gespräch.

»Stör ich?«, fragte sie.

»Quatsch, du doch nicht«, sagte Borjan. Er schob ihr einen gut gefüllten Kognakschwenker hin, den sie auf einen Zug leer trank und gleich um einen zweiten bat.

»Was hat dein Junge erzählt?«, erkundigte sich Aleksandr.

Frieda schlang beide Arme um sich. Trotz der schwülen Sommerwärme, die sich bis in die Nacht gehalten hatte, war ihr auf einmal eiskalt. »Arnold ist mit Emil stundenlang durch die Gegend gelaufen. Zuerst in die Stadt, da hat Emil neue Sandalen bekommen.« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »In der Warenburg, inmitten von zig Leuten. Niemand hat gemerkt, dass es das Schwein von dem Steckbrief ist, der überall hängt. Danach spazierten sie runter zum Baldeneysee, zu einer Rundfahrt mit der Weißen Flotte. Hinterher gab’s Limo und Bratwurst in einem Lokal – welches, wusste Emil nicht, er kann ja noch nicht lesen. Anschließend ging’s zurück in die Stadt. Da gab’s zum Abschied noch eine Tüte Bonbons.«

»Anscheinend ist Hoffmann zu Geld gekommen«, meinte Borjan.

Aleksandr nickte nachdenklich. »Vielleicht hat er einen Komplizen, der ihn versorgt.«

Frieda war skeptisch. »Wer würde denn einen gesuchten Massenmörder wie ihn unterstützen?«

»Jemand, der mit ihm unter einer Decke steckt«, sagte Borjan.

»Du meinst, bei der Polizei?«

»Wo sonst?«, kam es lakonisch zurück.

»Möglich wär’s«, stimmte Keitel zu. »Die Essener Polizei ist ein Sumpf, da sitzen immer noch alte Nazi-Seilschaften. Von dem ganzen Dreck, den die am Stecken haben, ist vieles garantiert noch gar nicht rausgekommen.« Fragend blickte er Frieda an. »Was hat Emil denn sonst noch erzählt? Irgendwas darüber, wo sein Vater sich versteckt hält?«

Frieda schüttelte den Kopf. »Darüber wurde kein Wort gesprochen. Wie gesagt, der ganze Tag stand im Zeichen fröhlicher Freizeit.« Ihre letzte Bemerkung triefte vor beißendem Sarkasmus.

»Was ihn wohl dazu gebracht hat, Emil freiwillig wieder gehen zu lassen?«, sinnierte Aleksandr, während er Frieda nachschenkte.

Sie nahm das Glas und trank, diesmal in winzigen Schlucken. »Er sagte zu Emil, dass es bald dunkel wird und dass Kinder im Dunkeln zu Hause sein müssen.« Düster fuhr sie fort: »Und er sagte auch, dass sie demnächst zusammen verreisen. In ein wunderbares Land, wo es immer warm ist und jeder satt zu essen hat.«

Keitel nahm es mit beklommenem Stirnrunzeln zur Kenntnis. »Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen machen, Frieda. Ich hörte die Polizisten darüber reden, dass die Bewachung verstärkt wird.«

»Das glaub ich erst, wenn ich es sehe.«

»Ich muss ins Bett, bin hundemüde«, sagte Keitel. Er trank sein Glas aus und wandte sich zum Gehen. Über die Schulter meinte er: »Gute Nacht allerseits!«

»Gute Nacht«, sagten die Zwillingsbrüder unisono.

»Gute Nacht«, fiel Frieda ein, die ebenfalls müde war, aber noch mit Borjan und Aleksandr einen trinken wollte. Morgen war Sonntag, da konnten sie alle ausschlafen.

Borjan wartete, bis Keitel gegangen war, dann sagte er voller Mitgefühl: »Schlimmer Tag, oder?«

Sie konnte nur stumm nicken und brach im nächsten Moment in Tränen aus.

Borjan kam um den Tresen herum und nahm sie tröstend in den Arm. Sie weinte an seiner Schulter und fühlte sich nach und nach besser.

Anne und Lotti hatten schon vorher geflennt wie die Schlosshunde. Zuerst Lotti, im Beisein aller, und später, als Emil und Lotti im Bett waren, auch Anne. Sie hatte sich unter die Bettdecke verkrochen und sich schlafend gestellt, aber Frieda hatte gemerkt, dass sie weinte. Lautlos und für sich allein. So wie es ihre Art war. Wenn sie überhaupt jemanden an ihrem Kummer teilhaben ließ, dann Carl. Aber nicht ihre Familie, die musste geschont werden, für die wahrte sie jederzeit Haltung. Einen Moment lang hatte Frieda den Impuls verspürt, Anne die Decke wegzuziehen und sie anzuschreien. Ihr zu erklären, dass sie verdammt noch mal das Recht hatte, so laut und so lange zu weinen, wie sie es brauchte. Und dass sie, Frieda, stark genug war, es auszuhalten. Die Zeiten, in denen sie daran zerbrochen wäre – sofern es die überhaupt je gegeben hatte –, waren lange vorbei. Sie hätte Anne gern ihre Pistole gezeigt, die sie ständig in der Handtasche mit sich trug, egal wohin sie ging. Sie war willens und in der Lage, ihre Familie zu beschützen, sobald sich ihr mordlüsterner Ehemann das nächste Mal blicken ließ. Unwillkürlich berührte sie ihre Tasche. Täte er es doch nur!

»Noch einen?«, fragte Aleksandr.

Sie nickte, und er schenkte ihr nach.

Sie sollte aufhören zu trinken, es war schlecht für den Teint und die Leber. Aber es kostete keinen Pfennig. Magnus hatte einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Spirituosen, alles noch aus Schwarzmarktbeständen, die er, so seine Formulierung, aus dem Angebot nehmen wollte. Also gab er Frieda regelmäßig eine Flasche mit. Er war freigiebig bis zum Übermut, und allmählich fühlte sie sich wirklich wie eine Prinzessin. Gern wäre sie in dieser Nacht noch zu ihm gegangen, um in seinen Armen den ganzen Mist zu vergessen. Guter Sex, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Es half fast immer. Aber draußen vorm Haus stand immer noch eine halbe Hundertschaft Polizisten, anscheinend glaubten die ernsthaft, Arnold würde noch mal aufkreuzen. Frieda wusste es besser, sie kannte ihn, er war zu raffiniert. Er würde auf eine bessere Gelegenheit warten. Auf das Nachlassen der Wachsamkeit, auf die Fehler, die sich bei zunehmender Unaufmerksamkeit einschlichen. Erst dann würde er erneut auf den Plan treten.

»Wisst ihr, er hat Emil noch was geschenkt«, murmelte sie, während sie an ihrem Glas nippte.

»Was denn?«, fragte Borjan.

Sie zog das Foto aus ihrer Handtasche. Es war eine zerknitterte Aufnahme, übersät von Schmutzflecken und an den Rändern teilweise eingerissen.

Das Bild zeigte sie und Arnold als frisch verliebtes Hochzeitspaar. Jedenfalls sahen sie verliebt darauf aus. Der Fotograf hatte sie vor einer malerischen, in Frühlingsfarben gehaltenen Kulisse posieren lassen und ihnen befohlen, freudig in die Kamera zu lächeln, also hatten sie es getan. Frieda hatte den Blumenstrauß vor ihren Siebenmonatsbauch gehalten und sich nichts weiter gewünscht, als endlich ihre Brautschuhe von den Füßen zu kriegen; die Dinger hatten höllisch gedrückt und jeden Schritt zur Qual gemacht.

Die Zwillinge betrachteten das Foto. »Ihr habt da ziemlich glücklich ausgesehen«, sagte Aleksandr sachlich.

»Das ist eine optische Täuschung«, gab sie erschöpft zurück. Sie fragte sich immer noch, warum Arnold ihrem Sohn das Hochzeitsbild geschenkt hatte. Welche Botschaft er ihr damit übermitteln wollte. Oder hatte er Emil damit einfach nur Sand in die Augen streuen wollen? Indem er ihm suggerierte, welch hoffnungsfroher und liebevoller Verbindung er entstammte? Sie würde es wohl nie herausfinden. Bevor Arnold es ihr hätte erklären können, hätte sie ihn schon erschossen.

Sie hielt Aleksandr ihr Glas hin. »Ich nehme noch einen.«

Er musterte sie bedenkenvoll. »Sicher?«

»Na gut, einen halben. Ich sollte mir wirklich das Trinken abgewöhnen. Aber nicht heute Nacht.«