Kapitel 23

D en nächsten Samstag nahm er sich frei, zum ersten Mal seit Langem. Mittags war er zum Essen bei Magda und Engelbert eingeladen, abends wollte er mit Anne ausgehen. Sie hatte ihm ins Gewissen geredet; er müsse endlich auf andere Gedanken kommen, den Kopf wieder freikriegen. Er hatte es sich zu Herzen genommen. Und es schien zu wirken. Der Tag hatte schon besser angefangen als alle anderen in der letzten Zeit – Carl hatte lange ausgeschlafen und bei Frau Schulte gefrühstückt, zwei Brötchen, zwei Eier, eine Scheibe Schinken, das reinste Festessen, und sie hatte angekündigt, demnächst auch wieder echten Bohnenkaffee kaufen zu wollen, es gab ja wieder welchen. Nur die horrenden Preise mussten noch sinken, momentan konnten sich bloß die Bonzen welchen leisten.

Während sie sich darüber echauffierte, bereitete sie das wöchentliche Bad für Carl vor, und als er anschließend in der Wanne saß, erklärte sie ihm lang und breit durch den Wandschirm, was sie in der kommenden Woche alles kochen wollte: Bratkartoffeln mit Essiggurken und Spiegeleiern, Wirsing durcheinander, Möhrengemüse und Pannas, Pfannkuchen mit Mettwurst, Heringsstipp mit Roter Bete und Pellkartoffeln. Carl lief schon im Voraus das Wasser im Mund zusammen.

Frisch gebadet, frisch rasiert und frisch angezogen ging er am späten Vormittag runter in den Keller, um nach Bärbel zu sehen. Sie saß allein in einer Ecke des Flurs und spielte mit einer Puppe, die Frau Schulte ihr aus ein paar Stofffetzen genäht hatte. Normalerweise wäre sie um die Tageszeit längst draußen an der frischen Luft gewesen, aber an diesem Samstag herrschte Regenwetter. Kurt Böhm war arbeiten, er konnte sich nicht um das Kind kümmern, ganz abgesehen davon, dass er es sowieso nie tat. Frau Schulte war nicht da, sie wollte in die Stadt.

»Hast du schon was zu Mittag gegessen?«

Bärbel schüttelte stumm den Kopf. Carl streckte ihr kurz entschlossen die Hand hin. »Dann komm mal mit.«

Draußen sicherte er sich routinemäßig mit einem Blick nach allen Seiten ab. Da war niemand. Manchmal war er überzeugt, dass Hoffmann nie wieder auftauchen würde, aber das verleitete ihn nicht dazu, in seiner Wachsamkeit auch nur einen Moment nachzulassen.

Inzwischen hatte er eine andere Waffe – anstelle des unhandlichen Revolvers war ihm eine wesentlich kompaktere Pistole bewilligt worden, die im Holster unauffällig unterm Jackett getragen werden konnte. Er hatte Thomson persönlich darum gebeten, und der hatte es irgendwie möglich gemacht.

Auf dem Weg zur Haltestelle zog er Bärbel an seine Seite, damit sie mit unter seinem Schirm gehen konnte. Im Bus nach Werden zauberte er ihr was vor. Er zog Münzen aus ihren Ohren und ihren Haaren hervor und beeindruckte sie durch seine magische Fähigkeit, ihre Gedanken zu lesen: Sie dachte sich eine Zahl zwischen eins und zehn aus, verdoppelte sie, zählte zehn dazu, teilte das Ergebnis durch zwei, zog die zuerst ausgedachte Zahl ab. Anschließend las Carl das Ergebnis in ihren Gedanken – es war die Zahl fünf.

Und das Beste war: Durch seine Zauberkraft kam diese Zahl immer wieder heraus, ganz egal, welche Ausgangszahl Bärbel sich ausdachte.

»Wie machst du das?«, wollte sie jedes Mal wissen.

Der Schaffner kam näher. »Dat wüsste ich auch gerne.«

Mehrere Fahrgäste hatten sich zu ihnen umgedreht. »Ich auch«, sagte eine ältere Frau aus der Sitzreihe vor ihnen.

»Hat der doch gesacht«, meldete sich ein Kind zwei Reihen hinter ihnen. »Dat is Magie!«

»Ja, der Carl, dat is en echten Zauberer!«, stimmte Bärbel sichtlich stolz zu. »Der kann sogar Geld aus meine Ohren rauszaubern!« Zum Beweis hielt sie den Groschen hoch, den er ihr überlassen hatte.

»Dat kannsse meine Omma erzählen«, sagte der Schaffner nachsichtig.

»Ja, dat kann ich machen, wo is die denn?«, wollte Bärbel wissen.

»Getz ma Butter bei die Fische«, wandte sich der Schaffner an Carl.

»Jau«, sagte die Frau aus der Reihe vor ihnen. »Dat würde ich gerne ma erklärt kriegen!«

Carl schmunzelte. »Dat ist Berufsgeheimnis, dat kann ich leider nich verraten.« Der Bus hielt, sie mussten aussteigen. Den Schirm brauchten sie nicht mehr, es hatte aufgehört zu regnen.

»Du kanns ja auch Platt«, sagte Bärbel. »Dat wusste ich gar nich.«

»Hab ich als Kind gelernt.«

»Und wieso redesse denn dann getz gar nich mehr so?«

»Weil die Leute einen eher für voll nehmen, wenn man Hochdeutsch spricht.«

»Wie meinst du dat?« Sie hielt inne. »Wie meinst du das «, verbesserte sie sich dann unaufgefordert.

Er hätte ihr sagen können, dass es eine Frage von Bildung und Privilegien war. Von Klassenunterschieden, von Aufstieg und Anerkennung. Aber das hätte zu vieles außer Betracht gelassen. Platt, das war auch Heimat. Es war Zuhause, Familie, Geborgenheit. Es war ein Stück von seinem Leben, das er zurückgelassen hatte, weil man es von denen, die weiterkommen wollten, so erwartete.

Auf dem Pütt, da war er wieder eingetaucht in die Sprache seiner Kindheit, hatte sich vom vertrauten Redefluss der Kumpels tragen und mitnehmen lassen, es war wie Schwimmen, das verlernte man nie. Allerdings hatte sich die knochenharte Plackerei im Stollen dadurch kein Stück besser angefühlt.

»Mit Hochdeutsch hat man im Leben mehr Chancen«, beantwortete er Bärbels Frage.

Sie waren vor Engelberts Villa angekommen.

»Ist das ein Schloss?«, fragte Bärbel ehrfürchtig.

Carl drückte die Türklingel. »So was in der Art.«

»In so einem würde ich auch mal gern wohnen!«

Dann lern Hochdeutsch, dachte Carl, aber er sagte es nicht. In feinen Häusern zu wohnen, machte die Menschen nicht zwangsläufig glücklicher.

Magda öffnete ihnen die Haustür. Erstaunen spiegelte sich in ihren Zügen. Doch sie fing sich sofort. »Ist das etwa Bärbel?«, fragte sie lächelnd, während sie der Kleinen die Hand reichte.

Bärbel nickte stumm, sichtlich eingeschüchtert von der herrschaftlichen Umgebung. Und bestimmt auch von Magda, die in ihrem geblümten Seidenkleid eine glänzende Erscheinung bot und in den Augen des Kindes fraglos wie die leibhaftige Königin dieses Schlosses wirken musste.

»Ich hoffe, es geht klar, dass ich sie mitgebracht habe«, sagte Carl leise zu ihr, als sie ihn in eine kurze, kameradschaftliche Umarmung zog.

»Aber sicher. Ich hab mich schon häufiger gefragt, wie sie wohl aussieht, du hast ja schon oft von ihr erzählt.« Strahlend wies sie ins Esszimmer. »Setzt euch direkt an den Tisch, das Essen ist so gut wie fertig! Engelbert kommt auch gleich, er holt mir noch ein paar Rosen aus dem Garten!«

Und da kam er auch schon durch die offene Terrassentür herein, groß und massig und polternd, und Carl entging nicht, wie Bärbel zusammenzuckte beim Anblick dieses Riesen, der in der einen Hand einen mit Zeitungspapier umwickelten Rosenstrauß hielt und in der anderen eine große Gartenschere.

»Carl, mein Junge!«, tönte Engelbert in seinem dröhnenden Bass, während er Rosen und Schere achtlos auf die Anrichte legte. Da bemerkte er Bärbel. »Und du hast Verstärkung mitgebracht, das passt prima! Bei den vielen Reibekuchen, die Magda heute wieder gebacken hat!«

Carl drückte ihm die Hand. »Das ist Bärbel, ich hab euch ja schon von ihr erzählt.«

»Klar, das hatte ich mir sofort gedacht. Was für ein hübsches kleines Mädchen! Ich hab gehört, dass du schon sehr gut rechnen kannst!« Engelbert strahlte Bärbel an und zeigte auf den Tisch. »Wenn wir uns jetzt alle hinsetzen – wie viele Stühle wären dann noch frei?«

»Vier«, sagte sie, ohne nachzudenken. Es klang fast, als wäre sie verwundert über so eine dämliche Frage.

Engelbert nickte vergnügt. »Wollen wir mal sehen, ob das stimmt?«

Während des Essens taute Bärbel zusehends auf, und Carl registrierte erleichtert, wie wohl sie sich in Magdas und Engelberts Gegenwart fühlte. Sie lachte häufig, stellte allerlei Fragen und gab sich Mühe, beim Essen nicht zu schmatzen und zu schlingen – Frau Schulte hatte angefangen, ihr Tischmanieren beizubringen.

Magda und Engelbert waren sichtlich entzückt von der Kleinen, und als Carl nach dem Hauptgang half, den Tisch abzuräumen, nahm Magda ihn zur Seite.

»Das Mädchen ist bezaubernd, Carl! So fröhlich und aufgeweckt! Wie ist das möglich, wenn ihr Vater sie ständig vernachlässigt?«

»Keine Ahnung, ehrlich. Sie war von Anfang an so. Ich schätze, es ist ihre Natur.«

Das war nicht nur so dahingesagt. Er glaubte tatsächlich, dass manche Menschen von Geburt an Eigenschaften aufwiesen, die sie befähigten, mehr zu ertragen als andere, ohne dabei ihre Lebensfreude zu verlieren.

Zum Nachtisch gab es Schokoladenpudding, und Bärbel verzehrte ihre Portion mit so andächtiger Begeisterung, dass es eine Freude war, ihr dabei zuzusehen.

Carl wollte sich mit einem Lob an Magda wenden und sah erschrocken, dass ihre Augen in Tränen schwammen.

Sie stand ruckartig auf. »Ich gehe mal Kaffee kochen.«

Er folgte ihr auf dem Fuße. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er sie in der Küche. »Ich meine … mit der Schwangerschaft.«

»Was? Oh ja, sicher, mir geht’s prima. Der Arzt meint, es sieht alles großartig aus. Carl, diesmal glaube ich wirklich, es könnte gut gehen! Ich fühle mich viel besser als damals. Irgendwie … stabiler.«

Carl entwich ein erleichterter Atemzug.

Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen ab. »Denk dir nichts dabei, wenn ich heule. Das sind die Hormone.«

»Hauptsache, es sind Glückstränen«, erwiderte er lahm.

»Na ja, gerade eher nicht. Mir tut die Kleine so leid. Wenn ich mir vorstelle, dass sie in einem kalten, dreckigen Keller …« Sie brach ab und wischte sich erneut die Tränen aus dem Gesicht.

»Magda, Tausende von Kindern leben so. Zehntausende.«

Sie schluckte. »Ich weiß. Das ist ja das Schlimme. Es zu wissen und nichts dagegen machen zu können. Und sich dann vorzustellen, selbst ein Kind zu haben und es in so einer Umgebung aufziehen zu müssen … Ach, Carl, es schneidet mir so sehr ins Herz!«

»Ja«, sagte Carl leise und dachte dabei an Emil. In seinen Sandalen aus Autoreifen, vor diesem eisigen, feuchten, dunklen Kölner Keller. Und er dachte an Anne und Frieda, die alles für das Kind taten, wie zwei Löwinnen, die sich jeder Bedrohung entgegenstellten, koste es, was es wolle.

»Bring sie doch das nächste Mal wieder mit«, bat Magda ihn. »Und komm ruhig öfter her, dann kann sie sich ordentlich satt essen!«

Nach dem Kaffee – es gab natürlich richtigen Bohnenkaffee, für Bärbel Kakao mit Schlagsahne – nahm Magda das Mädchen mit auf einen Rundgang durch Haus und Garten, während Engelbert für sich und Carl Kognak ausschenkte und in geselliger Stimmung von seinen jüngsten Geschäftserfolgen berichtete. Er hatte eine Baufirma aufgekauft und stand in Verhandlungen mit der Stadtverwaltung, wo man begonnen hatte, Aufträge für Großprojekte zu vergeben. Schulen, Verwaltungsgebäude, Krankenhäuser – das müsse ja alles endlich wieder hochgezogen werden, und wenn man mit irgendwas einen Haufen Geld verdienen könne, dann beim Bauen für die öffentliche Hand.

Carl hörte sich alles mehr oder weniger angeödet an. Ohne sonderliches Interesse erkundigte er sich, woher Engelbert denn eigentlich das Kapital für den Erwerb der Baufirma habe, worauf Engelbert mit mildem Sarkasmus meinte: »Natürlich von der Bank.«

»Wie schön, dass du so kreditwürdig bist«, sagte Carl höflich.

Engelbert grinste. »Ich hab auch ordentlich was auf der hohen Kante. So viel Kredit würde mir sonst keine Bank der Welt geben.« Mit vertraulich gesenkter Stimme fuhr er fort: »Willst du wissen, wie ich an den Zaster gekommen bin?«

»Klar«, sagte Carl, der es tatsächlich gern wissen wollte.

»Hast du schon mal was von der Aktion Bernhard gehört?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Eine Operation des SD . Himmler hat während des Krieges im großen Stil englisches Falschgeld drucken lassen, von KZ -Häftlingen, die aus dem Druckerhandwerk kamen. Mit den Blüten wollte er ursprünglich die englische Wirtschaft ruinieren. Es war geplant, riesige Mengen falscher Pfundnoten aus dem Flugzeug abzuwerfen, um damit in England die Währung kaputt zu machen. Aber daraus wurde nichts mehr, weil die Tommys da schon die Oberhand im Luftkrieg hatten. Also haben SS -Funktionäre die Blüten benutzt, um ihren eigenen Arsch zu retten. Beispielsweise, indem sie sich damit Gold oder Devisen beschafften, um es sich am anderen Ende der Welt gemütlich machen zu können. Was wohl erstaunlich gut klappte, denn das Falschgeld war von allerhöchster Qualität, praktisch nicht von echten englischen Pfundnoten zu unterscheiden. Bevor die letzten Ratten das sinkende Schiff verließen, haben sie noch versucht, die Druckplatten und das restliche Geld verschwinden zu lassen. Wie ich hörte, haben sie alles in einem See in Österreich versenkt.«

»Willst du damit sagen, du hast dir was von diesem Falschgeld besorgt, um davon die Baufirma kaufen zu können?«, fragte Carl stirnrunzelnd. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das strafbar wäre.«

Engelbert lachte glucksend. »Mein lieber Junge, was unterstellst du mir?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es war ein bisschen anders. Einer von diesen SS -Heinis, ich habe seinen Namen vergessen, reiste mit einer Fuhre Falschgeld nach Italien, zu unseren treuen faschistischen Verbündeten, und kaufte sich dort von den Blüten eine Menge Goldbarren. Mit denen ging’s direkt weiter in die Schweiz. Bei einer Züricher Bank hat er das Gold in Schweizer Franken umgetauscht. Damit hätte er als Nächstes problemlos nach Südamerika abhauen können, wie so viele andere von seiner Sorte. Aber er kam wieder nach Deutschland zurück und blieb auch nach Kriegsende da, weil er ein wirklich heimatverbundener Mistkerl war. Er fand es einfach hier am schönsten und wollte auch keine fremden Sprachen lernen. Mittlerweile hatte er einen anderen Namen, den ich ebenfalls vergessen habe. Den falschen Pass hatte er sich auch in diesem KZ drucken lassen. Er hat mir mal erzählt, wie die Häftlinge da zur Arbeit angehalten wurden: Sie bekamen regelmäßig Fristen gesetzt. Mit der Drohung, ein paar von ihnen zu erschießen, wenn sie es nicht schafften, bis zum Ende der Frist zu liefern, was die SS bestellte.«

»Also kam dieser namenlose SS -Funktionär mit seinen Schweizer Franken zu dir«, fasste Carl ungeduldig die bisherige Erklärung zusammen. »Ich schätze, er wollte, dass du ihm irgendwas dafür beschaffst. Was?«

»Betongold«, sagte Engelbert. »Immobilien und Grundstücke«, fügte er erklärend hinzu. »Ich besitze einige, musst du wissen.«

»Und die hast du ihm dann verkauft.«

»Wo denkst du hin?«, gab Engelbert zurück. »Kennst du nicht den Spruch ›Der Hehler ist schlimmer als der Stehler?‹« Er hob mit schwacher Belustigung die Brauen. »Nein, ich habe seine Franken genommen und sie zurück in die Schweiz befördert, wo ich sie auf ein Nummernkonto eingezahlt habe. Inzwischen habe ich einiges davon wieder hier, in D-Mark auf diversen Firmenkonten. Und jetzt baue ich damit als Erstes ein Kinderheim. Das war Magdas Idee, und ich finde sie großartig.« Er hielt inne und bedachte Carl mit amüsierten Blicken. »Gerade zerbrichst du dir den Kopf, weswegen ich mich strafbar gemacht haben könnte, oder? Was wäre deiner Meinung nach denn einschlägig? Unterschlagung? Betrug? Diebstahl? Veruntreuung? Devisenschieberei?«

»Nein, ich frage mich, was aus dem SS -Mann wurde, dessen Namen du vergessen hast«, antwortete Carl wahrheitsgemäß.

»Der ist gestorben. Sonst hätte ich das Geld ja nicht einfach behalten können.« Jeder Anflug von Heiterkeit war mit einem Mal aus Engelberts sonst immer so fröhlichem Gesicht verschwunden. In seinem Blick lag eine kompromisslose Härte, die bei Carl ein leises Unbehagen weckte, und in diesem Moment gewann er einen Eindruck davon, wie Engelbert früher seine Boxkämpfe gewonnen hatte – garantiert nicht mit Samthandschuhen.

»Ich will gar nicht wissen, woran der Kerl gestorben ist«, sagte Carl, obwohl es inzwischen kaum noch eine Rolle spielte. Ob er nun einen oder zwei Morde deckte – er steckte schon so tief im Schlamassel seiner Amtspflichtverletzungen, dass es völlig egal war.

Engelbert schenkte ihm noch einen Kognak ein. »Er hatte einen Herzinfarkt, Carl. Wofür hältst du mich denn?«

Carl kippte den Kognak runter. Ganz gleichgültig, was er von Engelbert und seinen Geschäftsmethoden hielt – für Magda war er der reinste Segen, mehr war in diesem Moment nicht wichtig.

»Ach, ehe ich es vergesse …« Engelbert stand auf und ging zur Anrichte. Er zog eine Schublade auf und holte ein Bündel Geldscheine heraus, das er Carl umstandslos in die Hand drückte. »Da, für dich.«

Carl nahm das Geld entgegen und sah es verständnislos an. »Was ist damit?«

»Na, ich sag doch, es ist für dich! Von mir und Magda!«

»Du meinst, geschenkt?«, vergewisserte sich Carl stirnrunzelnd.

»Sicher. Besorg dir mal was Vernünftiges zum Anziehen. Einen Anzug, ein Hemd. Kauf dem Kind was Nettes. Geh mit deiner Freundin schick aus, gönn dir was!«

Carl fragte sich nur am Rande, woher zum Teufel Engelbert wusste, dass er eine Freundin hatte. Er konnte nicht aufhören, das Geld anzustarren. Es waren mindestens zweitausend Mark. Für diese Summe musste er normalerweise ein halbes Jahr arbeiten, ohne Abzüge und mit Zulagen. Zwischen tiefem Widerwillen und einer unvermittelt aufbrechenden Sehnsucht nach einem besseren Leben hin- und hergerissen, wusste er nicht, was er tun sollte. Er war nicht in amtlicher Eigenschaft hier, sondern privat, doch er hatte seinen Beruf nicht an der Garderobe abgegeben. Als Polizist von einem undurchsichtigen Geschäftsmann wie Engelbert Geld anzunehmen, einfach so – das war wie Seiltanzen über einem Minenfeld.

Er hätte es ablehnen sollen. Doch er brachte es nicht fertig.

Magda kam zurück ins Esszimmer, sie hatte Bärbel an der Hand und wirkte glücklich. Als sie Carl mit dem Geld dasitzen sah, lächelte sie erfreut. »Oh, wie schön, Engelbert hat dran gedacht!«

Ihr schien daran zu liegen, dass Carl das Geschenk annahm, das gab für ihn den Ausschlag. Das und Engelberts Vorschlag, was für Bärbel zu kaufen. Sie brauchte dringend Schuhe, ständig lief sie in den alten Tretern vom Vorjahr herum, bei denen Kurt Böhm einfach vorn die Kappe abgeschnitten hatte, damit sie noch passten. Und ja, verdammt, er wollte mit Anne schick ausgehen, davon träumte er schon lange!

Er steckte das Geld ein und bedankte sich höflich bei Magda und Engelbert, die dank dessen geschäftlicher Vorausschau offenbar nur so in Reichtum schwammen.

Ich muss ja nichts dafür tun, sagte er sich später auf der Heimfahrt im Bus. Es wurde keine Gegenleistung von ihm erwartet.

Trotzdem fühlte es sich an, als hätte er seine Prinzipien ein weiteres Mal verraten.

*

Carls Plan, Anne zu einem erstklassigen Dinner einzuladen, ließ sich weniger gut umsetzen als gedacht. Richtig vornehme Lokale gab es nicht mehr, und falls doch, wusste er nicht, wo sie zu finden waren. Er landete mit ihr in einer biederen Gastwirtschaft, eine der wenigen, die den Krieg überdauert hatten. Das Essen war gutbürgerlich, aber es war nichts Edles daran, abgesehen von den Preisen.

Trotzdem war die Gaststätte gut besucht, anscheinend gab es genügend Leute, die es sich leisten konnten, für ein Abendessen außer Haus einen Wochenverdienst hinzublättern.

Anne wollte nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte gleich wieder gehen, doch Carl bestand darauf, dass sie sich das beste Essen aussuchte.

»Aber Carl! Hast du gesehen, was das kostet?!«, raunte sie.

»Das spielt keine Rolle.«

»Wirklich?«

Er versuchte es mit Humor. »Ich hab genug Geld. Soll ich’s dir zeigen?«

Sie wurde rot und gab nach.

Sie bestellten Jägerschnitzel mit Bratkartoffeln und Leipziger Allerlei. Die Portionen waren gewaltig, was Carl ein wenig mit den Nepp-Preisen versöhnte. Beide langten sie tüchtig zu, aber Anne schaffte zu ihrem Bedauern nur die Hälfte. Carl aß den Rest ihres Schnitzels auf und ließ dafür einen Teil der Bratkartoffeln liegen. Übermorgen gab es ja wieder welche bei Frau Schulte.

Während des Essens unterhielten sie sich in aufgeräumter Stimmung, unter strikter Vermeidung jener Themen, die ihnen nur die Laune verdorben hätten. Sie sprachen über Filme und Bücher, über Hobbys und über das aktuelle Tagesgeschehen.

Die amerikanischen und britischen Alliierten hatten eine Luftbrücke eingerichtet, um auf diesem Wege die Versorgung der Westberliner Bevölkerung sicherzustellen. Mehrmals täglich landeten Frachtmaschinen mit Hilfsgütern auf dem Tempelhofer Flughafen. Die Abneigung gegen die Besatzer, die sich in den Hungerjahren breitgemacht hatte, war in kollektive Dankbarkeit umgeschlagen.

Dieses Gefühl hatte Anfang der Woche zusätzlichen Auftrieb erfahren – die britische Regierung hatte die letzten deutschen Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. An allen größeren Bahnhöfen zeigte sich in diesen Tagen das gleiche Bild – von Heimkehrern überquellende Züge, und an den Bahnsteigen die Menschen, die sie voller Sehnsucht erwarteten, mit Namensschildern, Fotografien, wehenden Taschentüchern, Blumen. Darunter auch immer wieder welche, die vergeblich dort standen und nach vermissten Vätern, Söhnen, Ehemännern oder Brüdern Ausschau hielten, verzweifelt darauf hoffend, dass vielleicht einer der Rückkehrer wenigstens Informationen mitbrachte.

Carl überlegte flüchtig, ob Anne womöglich auch schon einmal daran gedacht hatte, am Essener Hauptbahnhof auf einen dieser Züge zu warten. Ihr Mann war zwar im Osten verschollen, aber es gab ja auch Soldaten, die von dort an eine andere Front abkommandiert worden waren, insofern existierte vielleicht eine winzige Chance, auf einen Heimkehrer zu treffen, der ihren Heinz gekannt oder etwas über ihn gehört hatte.

Doch diesen Gedanken verdrängte Carl rasch wieder, und erst recht kam ihm nicht in den Sinn, Anne danach zu fragen.

Nach dem Essen bummelten sie durch die Stadt. Der Himmel war immer noch verhangen, aber wenigstens regnete es nicht. Gegen die Abendkühle trug Carl sein besseres Sakko, und Anne hatte eine Strickjacke an. Mittlerweile war es dunkel geworden, und sie waren nicht das einzige verliebte Paar, das durch die von Trümmergrundstücken gesäumten Straßen flanierte.

Sie fanden ein Tanzlokal, das bei Deutschen und Briten gleichermaßen beliebt war. Die alkoholischen Getränke, die dort serviert wurden, waren ähnlich überteuert wie die Mahlzeit im Restaurant, aber an diesem Abend war Carl alles egal. Er bestellte für Anne einen Sektcocktail und für sich einen Whisky.

Es war rappelvoll in dem Laden, sie fanden gerade noch einen Stehplatz an der Bar. Wolken von Zigarettenrauch standen in der Luft, es schien keinen zu stören. Eine Combo spielte Swing-Musik, und Carl sah, wie Anne mit dem Fuß wippte. In einer Aufwallung von Tollkühnheit fragte er: »Wollen wir tanzen?«

Sie nickte mit leuchtenden Augen, und er konnte nur darauf vertrauen, dass er sich nicht allzu sehr blamierte. Zum Glück herrschte auf der Tanzfläche ziemliches Gedränge, der Platz reichte gerade für einen unkomplizierten Schieber.

Sie tanzten Wange an Wange. Carl sog Annes Duft ein und verging fast vor Sehnsucht.

Die Combo machte eine Pause, und sie tranken noch was an der Bar. Zum Reden war es zu laut, das Lokal vibrierte nur so von englischem und deutschem Stimmengewirr, gemischt mit Gelächter und fröhlichen Ausrufen. Die Zeiten, in denen es den britischen Soldaten verboten war, mit Deutschen zu reden, geschweige denn mit ihnen zu trinken oder zu tanzen, lagen noch nicht so lange zurück, um in Vergessenheit geraten zu sein. Aber sie waren überwunden.

Erneut setzte Musik ein, sie gingen wieder zurück auf die Tanzfläche. Carl hielt Anne in seinen Armen, und selbstvergessen tanzten sie zu einem Blues. Irgendwann nahm er seinen ganzen Mut zusammen.

»Gehen wir noch zu mir?«, murmelte er an ihrem Ohr.

Er spürte ihr Nicken.

Der Tanz war zu Ende. Carl nahm ihre Hand, und gemeinsam gingen sie hinaus. Auf dem Weg zur Rosastraße steigerte sich Carls Nervosität mit jedem Schritt. Er hatte seine Bude geputzt und aufgeräumt. Das Bett frisch bezogen. Die als Zudecke fungierende Übergardine von Frau Schulte waschen und bügeln lassen. Er hatte sogar Präservative besorgt, um auf der sicheren Seite zu sein. Aber all das änderte nichts daran, dass er in einer schäbigen kleinen Mansardenkammer in einem nach Kohl und Klosett miefenden Mietshaus wohnte.

Und dass er seit ewigen Jahren mit keiner Frau im Bett gewesen war.

Als hätte Anne seine Gedanken gelesen, drückte sie seine Hand. »Bei mir ist es sehr lange her, Carl.«

Perplex sah er sie an. »Dasselbe hab ich eben auch gedacht!«

Sie kicherte. »Ob wir es noch können?«

Er grinste, mit einem Mal war alle Verlegenheit verflogen. »Lass es uns einfach versuchen.«

*

Anne rekelte sich schläfrig in Carls Armen. Sie hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Ob es wohl schon bald hell wurde?

»Wie spät ist es?«, murmelte sie.

»Keine Ahnung.« Seine Fingerspitzen strichen über ihren nackten Arm, erforschten die Textur ihrer Haut und erzeugten ein wohliges Kribbeln.

»Ich kann nicht hierbleiben, Carl.«

»Ich weiß.« Sein Seufzen war nur ein Hauch an ihrer Schläfe, aber sie spürte sein Bedauern so wie ihr eigenes. »Noch fünf Minuten!«, bat er.

Sie blieben noch eine Weile zusammen liegen. Anne kostete die Wärme seines Körpers aus und schmiegte sich an ihn. Ihm so nah zu sein erschien ihr in diesem Augenblick so beseligend wie kaum etwas anderes, das sie in den vergangenen Jahren erlebt hatte. Es war, als hätte sie in der Asche ihres Lebens einen Diamanten entdeckt, der all das Dunkle und Traurige überstrahlte.

»Woran denkst du?«, fragte er leise.

»Ich bin glücklich, Carl. Einfach nur glücklich.« Es war diese simple Wahrheit, die sie dazu brachte, die Sprache noch einmal auf Werner zu bringen. Auf seine Einsamkeit, seine Verlorenheit. Er hatte keine Ahnung, warum Carl ihn nicht mehr besuchte.

»Außer dir hat er niemanden, Carl. Er ist so ein Häuflein Elend! Vielleicht kannst du mit ihm über alles reden. Ihn fragen, warum er dir seine Rolle bei diesem Massaker verschwiegen hat. Womöglich hatte er Angst, dass du ihn fallen lässt, wenn du es erfährst. Was du ja dann auch getan hast.« Sie atmete durch. »Weißt du, manchmal frage ich mich, wie Heinz sich wohl gefühlt hat, da an der Front. Mit dem Gewehr in der Hand, gezwungen, auf andere Menschen zu schießen und sie zu töten. Wie viel von diesem Grauen er mitansehen musste, von all den schrecklichen Verbrechen, die von der Wehrmacht und der Waffen-SS an der wehrlosen Bevölkerung begangen wurden. Welche Möglichkeiten er hatte, es zu verhindern. Oder einfach wegzugehen.«

Erst nach einigen Augenblicken des Schweigens kam eine Antwort von Carl. »Er hatte viel weniger Möglichkeiten als ich damals auf Zollverein. Ich hätte einfach die Schippe hinschmeißen und in den Sack hauen können. Dein Mann hingegen wäre standrechtlich erschossen worden, wenn er sein Gewehr weggeworfen hätte.« Er unterbrach sich, ehe er mit schleppender Stimme weitersprach. »Manchmal, wenn ich Nachtschicht hatte, hab ich sie da auf dem Zechengelände gesehen, wie sie früh um halb sechs aus ihren Baracken zur Arbeit getrieben wurden. Man hörte die Schritte schon von Weitem, sie trugen Holzschuhe, auch bei klirrender Kälte.« Erneut hielt er inne. »Das war es, was du meintest, oder? Dass wir alle unseren Teil an der Schuld haben. Dass wir mitverantwortlich sind.«

»Ja.« Anne suchte unter der Decke nach seiner Hand.

»Ich besuche Werner«, versprach er. Widerstreben klang aus seiner Stimme, und sie wusste, dass er es in erster Linie für sie tat. Mit einem Seufzen schlug er die Decke zurück. »Komm, ich bring dich nach Hause.«