Kapitel 25

H eute musste Sonntag sein, das hatte er am Läuten der Glocken gemerkt. Viele Kirchen gab es nicht mehr in der Gegend, fast alle waren im Krieg verbrannt oder zusammengebombt worden, und bei manchen hatte man die Glocken für die Waffenproduktion eingeschmolzen. Aber ein paar Kirchtürme standen noch und läuteten sonntags zur Messe. Das war aber schon wieder viele Stunden her, inzwischen war es stockfinster. Eine Zeit lang hatte er geschlafen, oder genauer gesagt: Er war besinnungslos gewesen. Wahrscheinlich wegen des Blutverlusts. Sein ganzes Zeug war nass von Blut. Bei dem Versuch, sich von den Fesseln zu befreien, hatte er sich weitere Verletzungen zugezogen. All das Blut, das aus seinen Wunden rann, schien symbolhaft für sein versiegendes Leben zu stehen. Es war wie bei einer Sanduhr, die fast durchgelaufen war, bis auf einzelne Körnchen, die sich noch hartnäckig oben hielten, aber bei der leisesten Erschütterung ebenfalls wegsacken würden.

Er hatte alles verloren. Seine Träume, sein letztes bisschen Hoffnung. Nach und nach hatte sich der Rest von dem, was einmal sein Leben gewesen war, verflüchtigt. Verschwunden wie das Fahrrad, das auf einmal weg gewesen war. Verschwunden wie schon vor Wochen die Pistole und das Messer, obwohl er beides so gut versteckt hatte. Verschwunden auch die Zugfahrkarten nach Paris, die er für sich und Anne und Emil gekauft hatte. Nichts war mehr da, und bald wäre auch er weg.

Er wusste nicht mal genau, wo er überhaupt war. Irgendwo im Wald, fernab jeder menschlichen Behausung, weit und breit gab es nichts außer Bäumen. Aber selbst wenn jemand in der Nähe gewesen wäre – er konnte nicht um Hilfe rufen, weil er geknebelt war. Und er musste vorsichtig atmen, weil er sonst erstickte. Seine Nase war sowieso schon zugeschwollen, weil er wegen der Schmerzen so viel geweint hatte.

Seine Hände und Füße waren zusammengebunden, er war verschnürt wie eine Weihnachtsgans, bevor sie in den Ofen geschoben wurde. In einer letzten Aufwallung von Verzweiflung zerrte und ruckte er ein weiteres Mal daran. Und dann noch einmal. Und wieder.

Plötzlich gaben sie nach. Einer der Stricke war gerissen. Er konnte sich befreien. Es dauerte eine Weile, bis das Blut in seinen Händen wieder richtig zirkulierte und er den Knebel entfernen konnte. Und danach dauerte es noch einmal endlos lange, bis er in der Lage war, sich hochzustemmen und in Bewegung zu setzen. Sehen konnte er so gut wie nichts. Er tastete sich mit ausgestreckten Händen vorwärts, von einem Baum zum nächsten, nur um jedes Mal aufzuschreien, wenn seine verletzten Finger gegen einen Stamm stießen.

Er konnte an nichts mehr denken. Nur noch daran, nach Hause zu gehen. Wenn er erst wieder zu Hause war, würde alles gut werden.

*

Carl zog sich in rasendem Tempo an und fluchte, weil er sich beim Zuknöpfen des Hemdes vertat. Er ließ es kurzerhand zur Hälfte offen, bevor er das Pistolenholster anlegte und das Jackett drüberzog. Behrends, der ihn aus dem Bett geworfen hatte, wartete im Treppenhaus auf ihn.

»Und es gibt wirklich keinen Zweifel, dass es Arnold Hoffmann ist?«, fragte Carl, obwohl Behrends noch gar nicht am Unfallort gewesen war und es nur aus zweiter Hand wusste.

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Carl im Eiltempo die Treppe runter. Unten stand Frau Schulte im Nachthemd vor ihrer offenen Wohnungstür und verlangte eine Erklärung für den nächtlichen Radau.

»Keine Zeit, bin im Dienst!«, rief er ihr zu, während er aus dem Haus hastete, gefolgt von Behrends, der zu Carls Verdruss nichts Genaueres wusste. Er hatte an diesem Wochenende Bereitschaftsdienst und war im Präsidium gewesen, als die Meldung reingekommen war. Danach hatte er sich sofort auf den Weg zu Carl gemacht, um ihn dazuzuholen.

Nach bisherigen Erkenntnissen war Arnold Hoffmann von einer Straßenbahn überfahren worden und gleich darauf an seinen schweren Verletzungen gestorben.

Der Vorfall hatte sich offenbar schon in Windeseile herumgesprochen. Als Carl und Behrends gemeinsam den Ort des Geschehens erreichten, wimmelte es bereits von Schaulustigen. Carl und Behrends hatten Mühe, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Zwei Streifenpolizisten hatten die Unfallstelle gesichert und hielten die Leute auf Abstand. Nur einer hatte sich nicht fernhalten lassen – Gustav Keitel hockte neben der reglos daliegenden Gestalt zwischen den Straßenbahnschienen und hatte den Kopf des Toten auf seinen Schoß gebettet. Jemand hatte ein Laken über den Leichnam gelegt, er war bis zum Hals zugedeckt. Aber es gab keinen Zweifel – es war Arnold Hoffmann.

»Das ist der Cellist von den Essener Philharmonikern«, hörte Carl einen der Umstehenden mit entsetzter Stimme zu jemand anderem sagen. »Er kommt gerade von einer Aufführung. Wir waren da auch drin, sind mit derselben Straßenbahn gefahren. Der Tote muss jemand sein, den er kennt. Mein Gott, der Ärmste, er hat’s mit ansehen müssen! Beide Beine ab!«

Carl trat zu Keitel und legte ihm die Hand auf die Schulter. Keitel blickte aus trüben Augen zu ihm hoch. Er weinte lautlos.

»Er war Ihr Sohn, oder?«, fragte Carl aus einem Bauchgefühl heraus.

Keitel nickte stumm.

»Kommen Sie mit mir«, sagte Carl. »Sie können hier nichts mehr tun.«

Keitel ließ sich widerspruchslos hochziehen und zur Seite führen. »Ich will eine Aussage machen«, sagte er dann mit bemerkenswert fester Stimme.

»Natürlich. Wollen wir bei Ihnen zu Hause reden oder auf dem Präsidium?«

»Lieber auf dem Präsidium. Ich will kein Aufsehen.«

Er holte seinen Instrumentenkoffer, der neben den Gleisen stand, dann begleitete er Carl in die Büscherstraße. Behrends notierte derweil die Personalien der Zeugen und sorgte dafür, dass die Leiche vom Bestatter abgeholt wurde.

Carl bemühte sich, gegenüber Keitel so einfühlsam wie möglich aufzutreten und sich seine euphorische Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Wochen und Monate der Angst waren in einem einzigen Augenblick von ihm abgefallen, es war wie die Befreiung aus einem permanenten Würgegriff.

Er spannte ein Vernehmungsformular in die Schreibmaschine und begann routinemäßig mit dem Eintrag der Personalien.

»Name: Gustav Keitel«, murmelte er während des Tippens vor sich hin.

»Nein«, unterbrach Keitel ihn. »Ich heiße nicht Keitel, sondern Rosenblatt.«

*

Seine Aussage brachte einige beklemmende, tragische Einzelheiten ans Licht. Adelheid war seine Frau gewesen, sie hatte sich 1933 von ihm scheiden lassen. Sie und ihr Sohn hatten nicht dem jüdischen Glauben angehört; beide waren Protestanten. Die Familie stammte aus München. Mutter und Sohn hatten sich 1934 unter dem falschen Nachnamen Hoffmann in Essen niedergelassen. Den Erwerb des Hauses mitsamt der darin befindlichen Gaststätte hatte Adelheid mit Geldmitteln finanziert, die ihr geschiedener Mann ihr aus seinem väterlichen Erbe überlassen hatte. Rosenblatt selbst war nach der Scheidung zunächst in München geblieben und erst nach den November-Pogromen im Jahr 1938 ebenfalls nach Essen übergesiedelt.

»Ich wusste nicht mehr, wohin«, sagte er leise. »Ins Ausland wollte ich nicht. Mein Geld hatte ich Adelheid gegeben, vom Rest habe ich mir falsche Papiere besorgt. Ich konnte bei den Essener Philharmonikern spielen, das war eine gewaltige Chance für mich!«

In der Folge hatten seine Chancen gegen die seines Sohnes gestanden. Es war zu Reibereien mit Adelheid gekommen. Ein Jude im Haus, wenn das herausgekommen wäre! Wo es doch gerade so fabelhaft für Arnold lief!

»Der Junge wollte schon immer zur Polizei«, berichtete Rosenblatt mit monotoner, aber gefasster Stimme. »Vor allem aber wollte er ein treuer Gefolgsmann des Führers werden, ein Offizier der SS . Das war sein größter Traum, und Adelheid tat alles, um ihm das zu ermöglichen.«

Carl musste nicht fragen, was das bedeutete. Ein Aufstieg bei der SS war seinerzeit nur mit großem Ariernachweis möglich gewesen, mit reinblütiger Ahnentafel bis ins Jahr 1750 . Ein Nachname wie Rosenblatt durfte da nirgends auftauchen. Adelheid musste Unsummen für die Fälschungen berappt haben; Carl hatte die Papiere gesehen, man hatte sie nicht von echten Dokumenten unterscheiden können.

Rosenblatts Papiere stammten vom selben Fälscher – einem begnadeten Typografen, wie er zu berichten wusste.

»Er war Jude und verhalf manchen von uns auf diese Weise zu einem neuen Leben«, sagte Rosenblatt. »Selber hatte er weniger Glück. Während des Krieges landete er im KZ Sachsenhausen. Um drei Ecken habe ich später gehört, dass die SS da in einer eigens eingerichteten Druckerwerkstatt im großen Stil englisches Geld fälschen ließ. Jeder, der es sah, hielt es für echt.«

Carl dachte daran, was Engelbert ihm darüber erzählt hatte. Kein Wunder, dass die gefälschten Papiere alle Welt hatten täuschen können. Wäre Adelheid Hoffmann nicht auf den Gedanken gekommen, ihre Herkunft ungeachtet ihres Dialekts nach Norddeutschland zu verlegen, wäre auch ihm nichts aufgefallen.

Er fragte Rosenblatt nach dem Grund für diese Entscheidung. »Wieso hat sie für sich und ihren Sohn ausgerechnet einen Geburtsort bei Bremerhaven ausgesucht?«

»Sie hat es mir nie gesagt. Aber ich vermute, sie wollte einfach eine größtmögliche Distanz zu München. Bestimmt glaubte sie, je weiter weg, desto besser.«

Rosenblatt schilderte, wie sehr es Adelheid gegen den Strich gegangen war, ihn im Haus wohnen zu lassen. Zwischen ihnen beiden hatte nur noch Abneigung geherrscht, doch sie hatte sich zusammenreißen müssen, um Arnolds willen.

»Sie hatte keine andere Wahl«, sagte Rosenblatt. »Wenn sie irgendwem gesteckt hätte, dass ich Jude bin, wäre womöglich herausgekommen, dass Arnold mein Sohn ist. Ein SS -Mann in seiner Position mit jüdischem Vater – man hätte ihn an die Wand gestellt und erschossen. Dieses Risiko konnte sie nicht eingehen.«

»Also haben Sie Ihre geschiedene Frau damit erpresst, Arnold mit ins Verderben zu reißen, falls sie Sie denunziert?«, fragte Carl.

»Nein. Das war gar nicht nötig. Sie hat mir einfach stillschweigend unterstellt, ich könne tatsächlich so tief sinken, den Jungen ans Messer zu liefern. Und deshalb hat sie den Mund gehalten.«

Sie hatten einander belauert und gehasst, Rosenblatt und seine geschiedene Frau, und dennoch war er in dem Haus geblieben, auch noch nach dem Ende der Nazidiktatur. Verstrickt in quälende Gefühle von Schuld und Verantwortung, hatte er dort ausgeharrt, weil er wusste, dass sein Sohn noch in der Gegend war. Ab und zu hatte er Arnold was zu essen oder ein bisschen Geld zugesteckt, länger hatten ihre flüchtigen Begegnungen seit Kriegsende nie gedauert.

»Ich habe mich oft gefragt, was mein Anteil daran war, dass er so geworden ist«, sagte Rosenblatt leise. »Ob ich es hätte verhindern können.«

»Manche Menschen werden einfach so«, versetzte Carl lapidar.

»Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen.« Rosenblatt hielt inne und fügte dann abrupt hinzu: »Er war nicht mein leibliches Kind, Herr Inspektor.«

Carl nahm es perplex zur Kenntnis. »Stammte er aus einer früheren Verbindung Ihrer Frau?«

»Nein, nur aus einer anderen.« Der nachfolgende, nun wieder in nüchternem Ton vorgebrachte Teil von Rosenblatts Aussage klang noch erschütternder als der davor. Er war im ersten Weltkrieg Frontsoldat gewesen, Arnold wurde sieben Monate nach seinem letzten Heimaturlaub geboren. Er hatte sich nichts dabei gedacht, es gab ja häufig Fälle verfrühter Geburten. Vor Kriegsende war er in Gefangenschaft geraten, und als er endlich heimkehren konnte, war Arnold schon drei Jahre alt gewesen. Ein schwieriges Kind, das zu ihm, dem fremden Mann, kein Zutrauen fassen wollte. Und Adelheid hatte wenig getan, das zu ändern.

Rosenblatt hielt inne und wartete, bis Carl mit dem Tippen nachgekommen war. »Ich gab mir Mühe, aber er war so … Er tat schon als kleiner Junge Dinge, die mir Angst einflößten.« Erneut musste er sich sammeln. »Ich hatte ihm einen Hamster und einen Wellensittich geschenkt, als Kind hatte ich auch solche Gefährten und liebte sie sehr. Bei ihm hat es wohl andere Gefühle ausgelöst. Er hat sie mit Stricknadeln umgebracht und unter seinem Bett versteckt. Ich schrie ihn furchtbar an, aber er reagierte trotzig und erklärte, es sei doch nicht böse gemeint gewesen.«

Carl erschauderte, doch er hatte vergleichbare Kindheitsepisoden im Zusammenhang mit gemeingefährlichen Gewaltverbrechen schon zu oft gehört, als dass es ihn groß hätte wundern können.

»Ich wollte deswegen mit ihm zum Arzt, aber Adelheid hat es mir ausgeredet, sie meinte, das sei nur eine kindliche Verblendung, ihr Bruder hätte das auch gehabt, das hätte sich bald verwachsen. Und es hörte auch wirklich auf. Wobei ich heute glaube, dass er einfach nur schnell gelernt hat, im Verborgenen weiterzumachen.«

»Wann hat sie Ihnen verraten, dass Sie nicht sein leiblicher Vater waren?«

»Erst hier in Essen. Ich schäme mich heute noch dafür, was ich dabei empfunden habe, Herr Inspektor. Es war Erleichterung. Grenzenlose, pure Erleichterung. Nicht meine Schuld, dass er so ist!, dachte ich nur. Nicht meine!« Rosenblatt brach ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Aber wessen dann? Er hatte ja nie einen anderen Vater als mich.«

»Hat sie ihm auch die Wahrheit gesagt?«

»Nein, nie. Er hätte es ihr nicht verziehen, das wusste sie genau. Der Vater im Schützengraben an der Front, und die Mutter schiebt ihm ein fremdes Kind unter! Solche Dinge waren für ihn der Gipfel der Verworfenheit, einer deutschen Frau und Mutter nicht würdig. Auf seine Weise hat er an mir gehangen, auch nach der Scheidung. Als fanatischer Nazi hätte er auf mich herabsehen müssen, weil ich Jude bin. Aber dem war nicht so. Manchmal kam er zu mir hoch in die Mansardenkammer und hat mir beim Spielen zugehört. Da saß er mit geschlossenen Augen auf dem Bett und war ganz still. Das waren die einzigen Augenblicke, in denen ich das Gefühl hatte, meinen Sohn bei mir zu haben.« Rosenblatt brach ab und blickte ins Leere.

Carl schluckte. Was für eine erbarmungswürdige Geschichte!

»Soll ich das alles noch so aufnehmen?«

»Ich bitte darum«, antwortete Rosenblatt. »Vielleicht hilft es irgendwem zu verstehen, wie sehr es das Dunkle zueinander hinzieht. Wie das Schlechte in den Menschen sie aus ihren Ecken und Winkeln und Nischen lockt und dazu bringt, sich zusammenzuschließen, zur Gesamtheit eines so unvorstellbar gewaltigen Bösen, wie es die Welt nie zuvor gesehen hat. Dass es immer im Kleinen anfängt. Bei einem erwachenden Dämon, der einen anderen findet, und die gemeinsam dann wieder andere, bis sie alle Macht in Händen halten und nach Belieben jeden vom Angesicht der Erde tilgen, der sich ihnen entgegenstellt.«

Er machte Pausen zwischen seinen Sätzen. Carl hatte ausreichend Zeit, auch den Rest zu Papier zu bringen. Am Schluss gab es nur noch einen Punkt, zu dem er noch Fragen hatte.

»Sagen Sie, Herr Keitel … Herr Rosenblatt, hat Ihr Sohn irgendwann mal die Namen Kittler oder Schnabel erwähnt? Oder sprach er davon, dass er mit seinen Kollegen von der SS im Streit lag?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Hat er je über das Massaker gesprochen?«

»Kein einziges Wort. Und ich habe ihn nie danach gefragt.«

Behrends kam ins Büro. Er wirkte übernächtigt und erschöpft. Carl überlegte, ob er mit Rosenblatt für die restliche Unterredung noch ins Vernehmungszimmer umziehen sollte, aber im Grunde waren sie fertig.

»Alles geklärt?«, fragte Behrends. Er stellte sich hinter Carl und blickte ihm über die Schulter, um die Aussage zu lesen.

Carl musste dem Impuls widerstehen, ihn wegzuschubsen.

»Rosenblatt, soso«, sagte Behrends.

Carl wartete auf eine zynische Bemerkung, aber es kam keine.

»Schade, ich hätte gedacht, dass Sie was zum Mord an Adelheid Hoffmann wüssten«, sagte Behrends stattdessen, nachdem er alles überflogen hatte. Süffisant fügte er hinzu: »Beziehungsweise an Frau Rosenblatt, denn sie war ja einst wohl Ihre werte, wenn auch untreue Gattin.«

»Stimmt, den Hergang ihres Todes hatte ich noch nicht erwähnt«, erwiderte Rosenblatt gelassen. »Weil ich dachte, dass es sowieso klar wäre. Arnold hat’s getan. Er hat Adelheid aus dem Fenster gestoßen. Es geschah im Affekt.«

»Waren Sie etwa dabei?«, wollte Behrends wissen.

»Nein, aber er hat es mir mit seinen letzten Worten gestanden.«

»Hat er sonst noch was gestanden?«

»Nein, nur das.«

Behrends runzelte die Stirn, dann ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder und sortierte den Zettelkram, den er vom Einsatz mitgebracht hatte.

»Sie müssen das Protokoll noch um den letzten Teil meiner Aussage ergänzen, Inspektor Bruns«, sagte Rosenblatt. »Aufschreiben, dass Arnold es getan hat.«

Carl sah ihn lange an. Sie wussten beide, welchem Zweck diese Lüge diente. Eine Familie, die ihnen am Herzen lag, sollte damit vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden. Aber zugleich spürte Carl auch, dass Rosenblatt dafür noch etwas von ihm wollte. Etwas, das nicht für die Ohren Dritter bestimmt war.

Rasch tippte er das Protokoll fertig und ließ es von Rosenblatt unterschreiben. Mit dessen richtigem Namen.

»Ich begleite Sie in die Klarastraße«, sagte er anschließend. »Da will ich sowieso noch hin.«

Er brannte darauf, Anne und Frieda die Nachricht von Arnolds Tod zu überbringen. Auch wenn er sie dafür aus dem Schlaf reißen musste – sie sollten es unbedingt erfahren.

»Haben Sie den Leichnam meines Sohnes gesehen, Herr Inspektor?«, fragte Rosenblatt draußen.

»Sicher«, antwortete Carl irritiert. »Ich war ja dort.«

»Nein, ich meinte, ob Sie ihn ohne diese Decke gesehen haben.«

Carl schüttelte den Kopf. Ein Gefühl von Mitleid erfasste ihn. »Er war es, glauben Sie mir. Daran besteht kein Zweifel.«

»Gewiss. Aber dann haben Sie nicht gesehen, was ich gesehen habe, Herr Inspektor. Arnold wurde vor seinem Tod gefoltert. Ihm wurden Fingerglieder abgeschnitten und tiefe Schnittwunden zugefügt. Um seine Handgelenke hatte er Fesselmale. Er hat sich nicht etwa absichtlich vor die Straßenbahn geworfen. Ich habe im vorderen Waggon gesessen und gesehen, dass er völlig entkräftet war und kaum noch gehen konnte. Er torkelte mit letzter Kraft vorwärts, die Bahn hat er gar nicht kommen sehen. Zunächst dachte ich, es sei ein Betrunkener. Erst in allerletzter Sekunde erkannte ich ihn, im selben Moment, als die Bahn bremste. Aber da war es schon zu spät. Ich bin gleich zu ihm raus, aber er war schon fast verblutet und konnte nichts mehr sagen. Derjenige, der meinem Sohn das angetan hat, läuft frei herum, Herr Inspektor. Egal, wie viel Schuld mein Junge auf sich geladen hat – ich möchte, dass Sie das aufklären.«

Carl hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Seine Gedanken rasten. Was um alles in der Welt hatte er übersehen? Es hatte mit dem Motiv bei den Morden an Kittler und Schnabel zu tun, das war der schwache Punkt! Das brüchige Glied in der Beweiskette. Womöglich war er vorschnell auf Wielspütz’ Rache-These eingeschwenkt, weil sie so verlockend logisch und plausibel geklungen hatte. So bestechend einfach.

Oft war die einfachste Erklärung die richtige, es gab sogar wissenschaftliche Belege dafür. Aber wer sich als Kriminalist darauf versteifte, hatte schlechte Karten. Man musste auch die abseitigen Lösungen ins Auge fassen. Sofern man es schaffte, erst mal drauf zu kommen.

In der Klarastraße schob niemand mehr Wache, für die Nacht war kein Beamter mehr hingeschickt worden – nach Hoffmanns Tod bestand kein Bedarf mehr daran. Im Inneren des Hauses war es dunkel, aber in Annes Wohnung brannte noch Licht, dort war trotz der späten Stunde noch jemand auf.

Rosenblatt schloss die Haustür auf, zusammen gingen sie nach oben. Im ersten Stock verabschiedete Carl sich von ihm.

»Ich gehe der Sache nach«, versprach er. »Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder bei Ihnen.«

Rosenblatt nickte nur müde und stieg die Treppe zu seinem Mansardenzimmer hoch, ein einsamer alter Mann mit seinem Cello.

Immer noch grübelnd, drückte Carl den Klingelknopf. Wenn nicht Rache das Motiv war, was dann?

Die Erleuchtung kam ihm, als Werner ihm mit vorgehaltener Pistole die Tür öffnete.

»Lass es sein, Carl«, sagte er nur, als Carls Hand reflexhaft in Richtung Holster zuckte. Er dirigierte Carl durch den Flur ins Wohnzimmer, wo Schneider stand, ebenfalls bewaffnet. Mit seiner Pistole hielt er die übrigen Anwesenden in Schach, während er mit der freien Hand eine Schublade des Eichenbüfetts durchwühlte.

Die Lindemanns saßen auf ihrem Bett, das sie unter dem Fenster aufgestellt hatten, an der einzigen freien Wand im Raum. Bei näherem Hinsehen erkannte Carl, dass Herr Lindemann tot war. In der Mitte seiner Stirn befand sich ein dunkles Loch. Er wurde nur noch vom Kopfende des Bettes aufrecht gehalten.

An der anderen Wand, auf der Chaiselongue, saßen Lotti und der Kleine. In stummem Schrecken hielten sie einander bei den Händen. Rechts und links neben der Chaiselongue standen Anne und Frieda, die Gesichter schneeweiß vor Angst und Entsetzen. Alle waren sie schon im Nachthemd beziehungsweise Schlafanzug, sie mussten bereits im Bett gewesen sein, als Werner sie unter irgendeinem Vorwand aufgescheucht hatte.

Hier ist die Polizei, dein Freund und Helfer.

Das war Carls letzter Gedanke, bevor ein harter Schlag gegen seinen Hinterkopf alle Wahrnehmungen auslöschte.

*

Lotti schrie auf, als Carl zu Boden stürzte und reglos liegen blieb. Schneider richtete sofort seine Pistole auf sie. »Klappe, oder du bist die Nächste!« Er blickte drohend in die Runde. »Wer hier auch nur den geringsten Laut von sich gibt, ist tot!«

Lotti presste sich die Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Emil drückte sich Schutz suchend an ihre Seite, sie schlang beide Arme um ihn.

Anne sah verzweifelt zu Werner, wie konnte er dabei mitmachen?

Als er ihren Blicken auswich, wusste sie, dass er ihnen nicht helfen würde. Keiner von ihnen sollte hier lebend rauskommen.

Werner und Schneider waren nur wenige Minuten vor Carl eingetroffen. Die Zeit hatte gerade gereicht, sie alle aus dem Bett zu holen und unter Waffengewalt ins Wohnzimmer zu zwingen. Wo sie sich einen Schwall kruder, von krankhaftem Mitteilungsdrang getriebener Erklärungen von Schneider hatten anhören müssen. Dass sie nun keine Angst mehr vor Arnold Hoffmann haben müssten; den habe er sich persönlich vorgeknöpft. Jetzt müsse man bloß noch den beschissenen Bericht finden. Dass ihnen allen nichts passieren würde, wenn sie schön still blieben.

Herr Lindemann hatte aufbegehrt. Wie sich herausstellte, kannte er Schneider von früher, sie hatten zusammen in irgendeinem Parteiausschuss der NSDAP gesessen, und da sei es doch nicht zu viel verlangt, ihn aus dieser Sache herauszulassen.

»Na gut«, hatte Schneider nur gesagt, und dann hatte er einen Schalldämpfer auf seine Pistole geschraubt und Herrn Lindemann vor ihren Augen erschossen. Danach hatte er betont, dass das mit jedem passieren würde, der das Maul zu weit aufriss.

»Verflucht, wo soll denn dieses Geheimfach sein?«, ereiferte er sich, während er Adelheids Servietten und Tischdecken aus dem Büfett zerrte.

»Lass mich mal«, sagte Werner. Er legte die Pistole zur Seite und machte sich an dem Möbelstück zu schaffen.

Anne wechselte einen Blick mit Frieda, die unmerklich den Kopf schüttelte. Noch nicht, sagten ihre Augen. Schneider zielte schon wieder mit der Waffe auf sie. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet, nicht auf Werner.

Der drückte und klopfte konzentriert an allen möglichen Stellen des Büfetts herum und nickte schließlich. »Die Schublade hier hat einen doppelten Boden. Sitzt nur reichlich fest.«

»Da, nimm das.« Schneider zog ein Fahrtenmesser hervor und reichte es Werner. Dabei lachte er. »Ist das Messer von Arnold. So was nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.« Werner riss unter Einsatz des Messers die Abdeckung gewaltsam heraus und brachte ein Blatt Papier zum Vorschein. »Ja«, sagte er. Es klang erleichtert. »Das ist mein Bericht.«

»Zeig mal her.« Schneider streckte die Hand aus, und Werner übergab ihm das Blatt.

Anne sah beschwörend zu Frieda hinüber, aber Werner hatte seine Pistole schon wieder in der Hand und hielt sie damit in Schach, während Schneider den Bericht überflog und dabei grinste.

Als wäre ihm wichtig, auch andere an seinem Amüsement teilhaben zu lassen, las er den Inhalt des Schriftstücks laut vor.

Vollzugsbericht Sonderbehandlung, Polizeipräsidium Essen, März 1945

 

Auf Geheiß von Kriminalkommissar Schneider beförderten die Beamten Kittler und Schnabel die Häftlinge nacheinander mit dem Laster zur Hinrichtungsstätte. Ich sperrte in der Zwischenzeit das Gelände ab. Kriminalkommissar Schneider war bereits vor Ort und führte die Aufsicht. Obersturmführer Hoffmann, der sich vorher freiwillig zur Sonderbehandlung der Häftlinge gemeldet hatte, war bis dahin nicht eingetroffen. Da die Sonderbehandlung zügig durchgeführt werden sollte und nicht verschoben werden konnte, teilten wir uns die Aufgabe. Die Häftlinge wurden einzeln an den Rand des Bombenkraters geführt. Zuerst erschoss Kriminalkommissar Schneider fünf von ihnen, dann erschoss ich die nächsten fünf. Sodann waren Kriminalassistent Kittler und danach Kriminalmeister Schnabel an der Reihe. Jeder der beiden erschoss jeweils fünf. Dann kam Obersturmführer Hoffmann hinzu und erschoss alle übrigen, zuletzt die Frau. Danach schaufelten wir Erde über die Toten und räumten die Absperrung weg. Besondere Vorkommnisse waren nicht zu beobachten.

Die angeordnete Sonderbehandlung wurde, so weit möglich, weisungsgemäß ausgeführt. Ein Teil der Häftlinge konnte nicht mehr sonderbehandelt werden, da ihnen zwischenzeitlich die Flucht aus dem Polizeigefängnis gelungen war.

Starr vor Grauen hatte Anne zugehört. Erneut sah sie Werner an. Diesmal hielt er ihrem Blick stand, in seinem Gesicht spiegelten sich blanke Verzweiflung und unsägliches Leid.

Schneider war noch in den Bericht vertieft. War das endlich der richtige Moment? Nur Frieda konnte das entscheiden. Anne widerstand eisern dem Drang, zu ihr hinüberzusehen. Die Handtasche stand auf der Chaiselongue, dicht neben der Lehne und in Friedas unmittelbarer Reichweite. Weder Schneider noch Werner schienen sich darüber gewundert zu haben, dass Frieda die Tasche mit allergrößter Selbstverständlichkeit ins Wohnzimmer mitgenommen hatte; vielleicht hielten sie es aus männlicher Sicht für normal, weil sie häufig Frauen mit Handtaschen sahen.

Werners Blick irrte wieder ab, und Anne entschloss sich zu einem Ablenkungsmanöver.

»Das hätte ich niemals von Ihnen gedacht!«, sagte sie anklagend zu ihm. »Dass Sie wehrlose Menschen erschießen können!«

»Da kennen Sie aber unseren Werner schlecht«, mischte Schneider sich erheitert ein. »Der ist viel abgebrühter, als viele denken! Sie hätten mal sehen sollen, wie er Kittler und Schnabel die Hände abgehackt und die Gesichtshaut runtergerissen hat, nachdem ich die beiden umgelegt hatte! Und er hätte auch Arnold längst kaltgemacht, wenn der nicht diesen Bericht in der Hinterhand gehabt hätte!«

Frieda hatte ihre Handtasche von der Chaiselongue genommen und hielt sie vor sich, eine Hand im Inneren. Im nächsten Augenblick ertönte ein Schuss, der Knall war ohrenbetäubend. Sie hatte durch den Boden der Tasche auf Werner geschossen, der ihr am nächsten stand und seine Waffe auf sie gerichtet hatte. Vorn auf seinem Hemd blühte ein roter Fleck auf. Er ließ die Pistole fallen und taumelte gegen das Büfett, bevor er mit einem erstickten Laut in die Knie brach und vornüberfiel.

Beinahe gleichzeitig hatte Schneider auf Frieda geschossen, nur dass es wegen des Schalldämpfers kaum zu hören gewesen war. Sie war am Oberarm getroffen worden, die Tasche mit der darin befindlichen Pistole zu Boden gefallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sie ihren Arm umklammert. Zwischen ihren Fingern lief Blut hervor.

»Da muss ich mich doch direkt bei Ihnen bedanken«, sagte Schneider sichtlich verblüfft. »Wie praktisch, dass Sie mir die Arbeit abnehmen!« Mit heuchlerischem Bedauern hielt er inne. »Neulich hab ich’s ja schon selbst versucht, ich konnte nicht widerstehen, nachdem ich Arnolds Versteck mit seiner Pistole gefunden hatte. Aber hinterher war ich fast froh, dass ich’s versiebt hatte. Bei einem so treuen und langjährigen Kollegen wie Werner ist es wirklich kein Vergnügen. Na ja, jetzt ist es auch egal. Sicher ist sicher.« Er trat zu Werner und schoss ihm kaltblütig in den Rücken. Dann legte er auf Anne an. »Zeit, es zu Ende zu bringen.«

Ein krachender Schuss ertönte.

Carl lag hinter Schneider auf dem Boden, bäuchlings und mit aufgestützten Ellbogen, seine Pistole in beiden Händen.

Das Projektil aus seiner Waffe war auf Höhe des Genicks eingedrungen und in einer Fontäne aus Blut und Hirnmasse aus dem rechten Auge ausgetreten.

Als Schneider auf dem Boden aufschlug, war er bereits tot.

*

Frieda nahm Emil auf den Arm und rannte mit ihm aus dem Zimmer, eine tröpfelnde Blutspur hinter sich herziehend. Lotti und Frau Lindemann folgten ihr auf dem Fuße. Aus dem Treppenhaus ertönte Tumult, der letzte Schuss hatte die übrigen Bewohner aufgeschreckt. Man hörte Lottis gestammelte Dankgebete, unterbrochen von Frau Lindemanns hysterischen Schluchzern und lautem Stimmengewirr.

Anne und Carl blieben bei Werner. Sie hatten ihn vorsichtig auf den Rücken gedreht. Er lebte noch, aber es ging mit ihm zu Ende. Anne kniete neben ihm und hielt seine Hand.

»Soll ich ein Gebet sprechen?«, fragte sie ihn leise.

Er schüttelte schwach den Kopf. Sein Blick heftete sich auf Carl, während seine Lippen sich in dem vergeblichen Bemühen bewegten, etwas zu sagen. Carl beugte sich über ihn, um es besser verstehen zu können. Er hatte mörderisches Schädelbrummen, ihm war speiübel.

Werners Worte waren kaum mehr als ein Hauch.

»Es tut mir leid.«

Es kostete Carl übermenschliche Beherrschung, den Sterbenden nicht anzubrüllen. Hoffte Werner ernsthaft auf eine Absolution aus seinem Mund? Nach allem, was er verbrochen hatte? Bei dem vielen Blut, das an seinen Händen klebte? Er war drauf und dran gewesen, auch Anne und ihre Familie umzubringen!

Sollte er doch verrecken! Ohne Gnade und ohne letzte Worte! So wie er es verdient hatte!

Da griff Anne nach Carls Hand, die sich, ohne dass er es gemerkt hatte, zu einer wütenden Faust geballt hatte, so fest, als hielte er einen Stein umklammert. Sie strich darüber, bis seine Finger sich lockerten und schließlich öffneten.

Ihre Berührung drückte mehr aus, als Worte es vermocht hätten.

»Ist schon gut«, sagte Carl, und da merkte er, dass er weinte. Er wusste nicht, ob Werner es noch gehört hatte, sein Atem hatte bereits ausgesetzt, das Licht in seinen Augen war erloschen.

Aber Carl hatte es gesagt, das war die Hauptsache.

*

In derselben Nacht, eigentlich schon im Morgengrauen, saß er mit Anne in der Trümmerwüste hinterm Haus, die früher mal ein Garten gewesen war. Sie wollten für eine Viertelstunde allein sein. Behrends und die anderen Kollegen hatten alle Formalitäten erledigt und waren wieder gegangen. Die Toten waren weggebracht und die Blutspuren beseitigt worden. Anne hatte Friedas Arm verbunden und ihr eine Tablette gegen die Schmerzen gegeben. Die Verletzung war nicht gravierend, bis auf eine Narbe würde nichts zurückbleiben. Sie hatte Glück gehabt. So wie sie alle, die es überlebt hatten.

Inzwischen sah es hinterm Haus schon besser aus als an dem Tag, als Carl das erste Mal hier gewesen war. Jemand hatte einen Teil der größeren Bruchstücke zur Seite geräumt und ein Stück Erde freigelegt, auf dem ein neu angepflanztes Bäumchen stand. Das sei Friedas Idee gewesen, meinte Anne. Weil es gut zum geplanten Namen der Kneipe passte.

Carl wollte nicht über Frieda oder die Kneipe reden, ihm ging zu viel durch den Kopf. Das Entsetzen hallte noch in ihm nach. Alles war so verdammt knapp gewesen!

Er stellte sich bildlich vor, wie es abgelaufen war, es spulte sich wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Vermutlich hatten Schneider und Werner ihr Glück kaum fassen können, dass keine Streife mehr vor Ort war. Trotzdem hatten sie irgendwo in sicherer Deckung gewartet, bis im Haus endlich alles dunkel war, bevor sie die arglose Anne aus dem Bett geklingelt und sich Zutritt zur Wohnung verschafft hatten – unbemerkt von den übrigen Bewohnern, was zweifellos deren Glück war, denn sonst hätten die wohl auch dran glauben müssen.

Es hatte in dieser Nacht sein müssen, sie konnten nicht riskieren, es aufzuschieben. Bestimmt hatte Hoffmann Vorkehrungen getroffen. Jemandem anvertraut, wo der Bericht versteckt war. Nur für den Fall, dass er auf einmal tot war.

Rosenblatt hätte es fraglos erwähnt, wenn er davon gewusst hätte. Also musste es jemand anderes sein. Eine weitere, bisher nicht entdeckte Seilschaft?

Fast hätte Carl zynisch aufgelacht. Von denen gab es einfach zu viele. Man hätte gar nicht gewusst, wo man mit der Suche beginnen sollte.

Aber vielleicht verstieg er sich da auch in nutzlose Theorien. Ebenso gut war denkbar, dass sie es einfach bloß so schnell wie nur irgend möglich hinter sich bringen wollten. Er musste endlich aufhören, sich deswegen den Kopf zu zermartern, es führte zu nichts mehr.

»Wie konnten sie davon ausgehen, dass sie mit einem Mord an uns allen davonkommen?«, unterbrach Anne seine Grübeleien.

»Das wollten sie natürlich ebenfalls Hoffmann in die Schuhe schieben. Dass er sich befreien konnte und vor den Augen der Öffentlichkeit starb, hat den Plan ruiniert. Doch das hatten sie noch nicht mitgekriegt, sonst hätten sie umdisponiert.«

»Warum haben sie ihn denn nicht gleich umgebracht? Er hatte ihnen doch verraten, wo der Bericht versteckt war!«

»Manche Polizisten glauben nicht mal den Geständnissen, die sie jemandem unter der Folter abpressen«, sagte Carl lakonisch. »Also ließen sie ihn fürs Erste am Leben.«

»Denkst du, Werner war dabei?«, fragte Anne leise.

»Bei der Folterung?« Carl zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Gestern hätte ich noch geschworen, dass er zu so was nie fähig wäre. Doch man kann sich wohl in jedem Menschen täuschen.« In bitterer Resignation schüttelte er den Kopf. »Ich hätte schneller erkennen müssen, welches Motiv hinter den Morden an Kittler und Schnabel steckte. Schneider hatte seine Wiedereinstellung in Reichweite, er musste auf Nummer sicher gehen, damit ihm niemand mehr was am Zeug flicken konnte. Deswegen auch die Verstümmelungen, keine Spur sollte zu dem Massaker führen. Und Werner hat mitgemacht, denn es gab ja ein starkes gemeinsames Interesse: Hoffmann loszuwerden und den Bericht zu finden.«

»Aber wie hättest du das denn durchschauen sollen?«, fragte Anne in einem Tonfall, der zugleich ratlos und tröstend klang.

»Die haben ihre Aussagen im Prozess abgestimmt, es ist mir ins Gesicht gesprungen«, sagte Carl müde. »Ich hab’s wohl einfach nicht wahrhaben wollen. Wahrscheinlich, weil ich es nicht glauben konnte. Nicht im Zusammenhang mit Werner.«

An dieser Stelle hielt er inne und fragte sich, warum Werner ihm jene Akte gegeben hatte. Die mit dem verbrannten Einsatzbefehl und der Liste der zu tötenden Häftlinge. Die Akte, in der nur noch sein Vollzugsbericht fehlte.

Hatte Werner ihn damit bloß auf Trab halten und von anderen Ermittlungen ablenken wollen, indem er ihm die Zwillingsbrüder als mögliche Verdächtige für den Mord an Adelheid Hoffmann präsentierte? Oder hatte er es auf eine unbewusste, selbstzerstörerische Weise darauf angelegt, dass Carl ihm über diese Liste am Ende doch noch auf die Schliche kam?

Er würde es wohl nie erfahren.

»Vieles im Leben wird einem erst hinterher richtig klar«, knüpfte Anne an seine letzte Bemerkung an. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. »Das ist doch nicht deine Schuld.«

Er lauschte ihren Worten nach. Schuld, das war ein weiter Begriff, aber egal, aus welchem Blickwinkel man ihn betrachtete: Er beinhaltete nichts Gutes. Schuld, das stand für dunkle Abgründe und Schlechtigkeit. Niemand wollte freiwillig schuldig sein. Auch er nicht, und doch war er es.

Schlimmer noch: Er war derjenige, der im Glashaus saß.

Es wurde allmählich hell. Carl blickte zum Himmel auf. Im Osten waren schon die Vorboten des Sonnenaufgangs zu erkennen. Hinter den Schwaden aus Rauch und Kohlenstaub färbten sich die Säume der Wolken tiefrot.

Ein neuer Tag.

*
Mitte September 1948

»Etwas mehr nach links«, kommandierte Frieda.

Carl, der Borjan und Aleksandr beim Anbringen des neuen Schilds half, blickte über die Schulter nach unten.

»Hier oben ist die Luft so trocken«, beschwerte er sich.

Sie verdrehte grinsend die Augen und ging hinein, um noch eine Runde Bier zu zapfen, während die Männer auf dem wackligen Leitergerüst standen und mit Wasserwaage und Hammer hantierten.

Aleksandr schlug den letzten Nagel ein. »Fertig«, sagte er, und nacheinander stiegen sie vom Gerüst, um ihr Werk aus ein paar Schritten Entfernung zu begutachten.

Hinterm krausen Bäumchen stand auf dem frisch emaillierten Schild. Frieda hatte es so besser gefunden als mit dem Zusatz Zum oder Am; sie war der Ansicht, damit komme genauer zum Ausdruck, welcher Sinn dahinterstehe. Nämlich dass man das Ärgste hinter sich gelassen hatte. Genau das sollte sich in dem neuen Namen der Kneipe wiederfinden: Wer hier einkehrte, konnte alle Sorgen zurücklassen.

Die anderen Bewohner versammelten sich nach und nach vorm Haus, um das Schild zu betrachten. Und um anschließend an der Theke ein Freibier abzustauben.

Frieda glühte vor Stolz und kam mit dem Ausschenken kaum nach. Sie reichte auch Carl ein frisch gefülltes Glas. Ihre Blicke trafen sich kurz, und in ihren Augen las er ihre tiefe Dankbarkeit. Ganz ohne Vorbehalte konnte Carl ihr immer noch nicht gegenübertreten. Sie hatte einen Totschlag begangen und war damit durchgekommen. Wobei das längst nicht so sehr in ihm rumorte wie die Tatsache, dass es auf seine Strafvereitelung zurückging.

Die eigentliche Neueröffnung der Kneipe sollte erst am kommenden Samstag stattfinden; die heutige Feier war nur für die Bewohner des Hauses gedacht. Brunhilde König hatte einen Riesentopf Erbsensuppe gekocht. Jeder hatte sich einen eigenen Teller nebst Löffel mitgebracht und bekam eine Kelle voll. Hedwig Schwelm half beim Austeilen; um ihr Baby kümmerte sich so lange Frau Lindemann, die seit dem Tod ihres Mannes Schwarz trug. Dafür, dass sie in Trauer war, lachte sie jedoch erstaunlich oft.

Carl stieß mit Justus Schwelm und Gustav Rosenblatt an, der für die Hausbewohner immer noch Keitel hieß. Allerdings nicht mehr lange – seine Ausreise nach Israel war für den kommenden Monat geplant, wie er Carl anvertraut hatte. Inzwischen hatte er schon begonnen, seinen Hausstand aufzulösen. Er wollte nur sein Hündchen und sein Cello mitnehmen.

Die Kinder, darunter auch Emil und Bärbel, tobten in den benachbarten Ruinen herum, ihr Lachen und Rufen schallte als beständige Geräuschkulisse herüber.

Die Hausbewohner kamen mit ihren Gläsern ins Freie und prosteten einander zu. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, da musste das schöne Wetter noch ausgenutzt werden.

Carls Blick fiel auf Lotti, die mit dem Zahnarztsohn aus der Nachbarschaft beisammenstand. Die beiden waren eindeutig verknallt, da gab es kein Vertun. Ein bisschen wehmütig dachte er an seine eigene erste Liebe. Die, wenn es nach ihm ging, auch seine letzte war.

Als hätte er sie durch seine Gedanken herbeigezaubert, kam Anne genau in diesem Augenblick angeradelt; sie hatte heute früher Feierabend gemacht. Das Fahrrad hatte sie sich von ihrem ersten Gehalt in D-Mark zugelegt. Es war ein uraltes Ding und fiel fast auseinander, aber es fuhr noch.

Carl hätte ihr gern ein neues Rad gekauft, Geld genug hatte er ja, doch das hatte sie ihm rigoros verboten. Sie war der Meinung, es könnten auch wieder schlechtere Zeiten anbrechen, für die man Rücklagen brauchte.

Sie stieg vom Rad und kam auf ihn zu. Carl wurde bei ihrem Anblick von einer Woge reinsten Glücks erfasst. Egal, was er ihretwegen auf dem Kerbholz hatte – sie war es wert. Sie war alles wert! Die scheelen Blicke der Kollegen im Präsidium. Das plötzliche Schweigen, wenn er ins Büro kam. Dörings Herumdrucksen, als er Carl vorgeschlagen hatte, sich versetzen zu lassen. Damit, so hatte er es ausgedrückt, wieder Frieden im Präsidium einkehrte. Carl hatte erklärt, es sich überlegen zu wollen. Im Moment konnte er noch einigermaßen damit leben, der Nestbeschmutzer vom Dienst zu sein. Derjenige, der es zu verantworten hatte, dass die Essener Kripo als eine von Nazi-Mördern durchseuchte Truppe in Verruf geraten war.

Seit jener Nacht hatten Anne und er oft über das Geschehene geredet, nur sie beide, in dem Bemühen, irgendwie damit fertigzuwerden. Gemeinsam. Denn wenn sie eine Lehre aus alldem gezogen hatten, so war es die banale, sprichwörtliche Erkenntnis, dass geteiltes Leid halbes Leid war.

Das Gute dabei war aus Carls Sicht, dass in diesem Fall auch der Rest des Sprichworts zutraf.

Er zog sie an sich und küsste sie. Das durften sie jetzt, schließlich waren sie ganz offiziell verlobt. Heiraten wollten sie irgendwann im nächsten Frühling. Spätestens. Diesmal würde er nicht denselben Fehler begehen wie vor zwanzig Jahren.

Darum ging es doch letztlich, dachte er. Aus der Vergangenheit zu lernen und es dann besser zu machen.

***