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»Herrschaftszeiten!« Kroner, der Ben das Steuer überlassen hatte, starrte durch den Regen. Der Dienstwagen rollte behäbig über den ausgewaschenen Kiesweg auf den Hof der Familie Rieß zu. »So ein Scheißdreck!«
Ben sah seinen neuen Chef von der Seite an und überlegte, ob der sich darüber aufregte, dass sie von einer riesigen Pfütze in die nächste rutschten und ihnen das verschlammte Wasser bis an die Scheiben spritzte, oder ob dem Kommissar die Aussicht, alten Bekannten die Nachricht vom Tod der einzigen Tochter zu überbringen, den Tag verdarb. Wahrscheinlich war es eine Kombination aus beidem.
Als sie den Zachler-Hof fast erreicht hatten, löste Kroner den Gurt und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Überlass das Reden mir. Beim alten Zachler hab ich als kleiner Pimpf das Reiten gelernt. Die Eltern von Sara Rieß, das sind Leute vom alten Schlag, und …«, Kroner deutete mit seinem Kinn vielsagend in Richtung Hofstelle, »das da bleibt unter uns. Verstanden?«
Ben nickte. Er hatte nicht vor, sich wichtigzumachen, das war nicht seine Art. Allerdings hatte er keine Ahnung, was mit »altem Schlag« und »das da bleibt unter uns« gemeint sein könnte, und der unbekümmert wechselnde Gebrauch von Hof- und Schreibnamen, wie er hierzulande üblich war, bereitete ihm auch nach acht Jahren Bürgertum in Bayern noch große Probleme. Immerhin wusste Ben, dass der Vater der Toten Toni Rieß hieß, dieser aber gemeinhin als »der junge Zachler« betitelt wurde. Susanne Rieß war die Mutter, alias »die Zachlerin«. Die Beifügung »jung« hatte sich mit dem Tod der alten Zachlerin erledigt. Dementsprechend musste der alte Zachler noch leben. Das alles hatte sich Ben auf der Fahrt hierher zusammengereimt. Als sie ausgestiegen waren, folgte er seinem Chef im Abstand von zwei Schritten. Er ahnte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um sich seine Annahmen verifizieren zu lassen.
Der Zachler-Hof war ein kleines Anwesen, halb im Wald versteckt und idyllisch in der doppelten Mäanderschleife der Ilz gelegen. Als Kind hatte sich Kroner ganze Sommer lang mit seinem besten Freund hier herumgetrieben. Wie Abenteurer hatten sie sich in diesem engen, bewaldeten Tal mit seinen sonnigen Felsköpfen gefühlt, hatten Stunden damit verbracht, Flöße zu bauen, Fische zu fangen und sich als Tom Sawyer und Huck Finn ein Leben als Piraten auf der Jackson-Insel einzurichten. Erst viel später, im Bio-Leistungskurs, hatte Kroner von der erdgeschichtlichen Bruchlinie erfahren, die für das Mäandern der Ilz verantwortlich war: Statt sich durch den harten Gneis zu graben, hatte das Wasser den einfacheren Weg durch den weicheren Pfahlschiefer gewählt. In den Auen, Wäldern und um die alte Halser Burgruine herum gab es seltene Pflanzen und noch seltenere Tiere: Wasseramsel, Flussperlmuschel, Feuersalamander und Fischotter. Kroner hatte diese schulischen Exkursionen beinahe so geliebt wie die wilden, ungezwungenen Streifzüge. Nur eins war in seiner Erinnerung ein riesiges schwarzes Loch voller Angst, Verzweiflung und Scham: der Weg durch den alten Trifttunnel, den Ludwig I. hatte bauen lassen, um den Triftweg des Bayerwaldholzes abzukürzen und Schäden an Mühlen zu vermeiden. Als Kinder hatten sie den Tunnel gemieden wie der Teufel das Weihwasser, doch Kroners Biolehrer fand es eine wunderbare Idee, den Kanal mit seiner Klasse zu begehen. Schon der Einstieg hatte Hannes damals den Rest gegeben: die steile Granittreppe, gefolgt von der undurchdringlichen Schwärze im Innern. Er wusste noch genau, wie er sich an der Bruchfelsenwand und am Geländer hatte entlangtasten müssen, blindlings auf das Licht am Ende des Tunnels zu. Er hörte noch das Wasser direkt neben sich fließen und spürte die Panik von damals in sich aufsteigen, als er der festen Überzeugung gewesen war, alles würde jeden Augenblick über ihm zusammenbrechen. Seinen Klassenkameraden hatte der Ausflug gefallen, nur er hatte sich vor Angst in die Hosen geschissen.
In Erinnerung an die Blamage brannten dem Herrn Kommissar die Wangen bis zu den Ohren hinauf; beinahe konnte er das Spotten der Mitschüler von damals hören. Sie hatten ihm nicht glauben wollen, dass das Malheur passiert war, weil er sich eine Darmgrippe eingefangen hatte. Das gewaltige Schlachtmesser, mit dem der junge Zachler nun im Hier und Jetzt wie ein lediger Jungbulle auf Kroner zulief, hätte er deshalb fast übersehen. Er blieb stehen.
»Schaut’s, dass weidakemmt’s! Heut ist Fronleichnam, das Hochfest des Leibes und Blutes unseres Herrn. Da wenigstens wollen wir vor euch unsere Ruh ham!« An der weißen Plastikschürze mit der Erzeugerring-Aufschrift klebte Blut. »Is denn ein Feiertag heutzutage auch schon nimmer heilig? Aber i woaß scho, was los is. Irgendein Neidhammel hat uns wieda hinghängt. Kimm, Kroner, sag’s halt, um der alten Zeiten willen: Wer war’s?«
Ben legte eine Hand an die Waffe und bereute es im nächsten Augenblick. Anscheinend schätzte sein Chef die Lage als harmlos ein, denn dieser tat nichts – überhaupt nichts –, sah dem Irren mit der Klinge nur traurig entgegen, so als wäre es er selbst, der etwas ausgefressen hätte.
»Bei uns gibt’s nix zum Hoin. An dem Bußgeid vom letzten Moi schluck ma immer noch. Da könnt’s uns bessa gleich einsperrn, dann hamma wenigstens was zum Beißn.«
Kroner brach der Schweiß aus, er hatte ein mieses Gefühl. Das war kein guter Einstieg für das, was vor ihm lag. Aber gab es dafür überhaupt einen gelungenen Einstieg?
Durch das Hoftor kam die Zachlerin herbeigelaufen und legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes, der mit dem Messer nach wie vor auf Kroners Nasenspitze zielte. »Hör auf, des macht’s nur noch schlimmer. Jetzt hilft’s eh nimmer«, sagte sie wie jemand, der es nicht gewohnt war zu sprechen.
Kroner taten die Leute leid – nicht nur wegen ihrer toten Tochter. Er wusste, wie schwer es war, einem kleinen Anwesen, das noch dazu direkt an ein Naturschutzgebiet grenzte, ein Auskommen abzuringen. Eigentlich war es unmöglich, und deshalb nahm er es den Zachlers nicht übel, dass sie ihre Haushaltskasse mit unangemeldeten Schlachtungen aufbesserten. Schließlich hatte er selbst eine Zeit lang sein Fleisch vom Zachler geholt. So lange, bis zum ersten Mal die Polizei dessen Schlachtungen – die weithin bekannt waren – unterbunden hatte. Das war lange her. Eine Nachbarin hatte Saras Eltern angeschwärzt. Die Zachlers wussten nur nicht, welches von den bösartigen Tratschweibern es gewesen war. Kroner hingegen wusste es sehr wohl: Die Frau war im Kommissariat als »Hex von der Ilz« bekannt, wobei der Name eigentlich falsch gewählt war, denn es verhielt sich genau umgekehrt: In Zeiten der Hexenverfolgung hätten einige unbescholtene Bürgersfrauen ihretwegen ihr Leben auf dem Scheiterhaufen gelassen. Die Hex von der Ilz drehte jedem einen Strick, wenn sie nur konnte. Wie war ihr richtiger Name doch gleich? Marianne? Aber wie noch? Kroner wollte es nicht einfallen. Kranz? Nein. Nicht Kranz, auch nicht Marianne. Schatz! Das war es. Genau. Maria Schatz. Kroners Kopf dröhnte, ihm graute davor, das zu tun, wofür er hergekommen war: diesen armen Leuten den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Denn das würde er tun, ob er wollte oder nicht.
»Vielleicht, die Herrn Kommissare, ein schöns Stückerl Fleisch für den Sonntagsbraten? Gellns, des kann doch jeder brauchen.« Die Zachlerin trat aus dem Schatten ihres Mannes und zog sich das Bemtücherl vom Kopf. Durch das lange braune Haar zogen sich dicke graue Strähnen, ihr Gesicht war ausgemergelt, aber trotzdem schön.
Wildromantisch, dachte Kroner, den das Rauschen in seinen Ohren langsam einlullte. Wie aus einer anderen Zeit.
Seit den Reitstunden war er nicht mehr auf dem Zachler-Hof gewesen. Sara hatte oft bei ihnen zu Hause gegessen, hatte bei Markus und Valli vorbeigeschaut. Niemals hätte Kroner sich träumen lassen, dass die Zeit hier anscheinend stehen geblieben war, dass die moderne, weltoffene Sara solche Eltern hatte.
»Ein paar schöne Schnitzel, ein Kotelett? Wie wär’s?« Die Zachlerin schien Mut zu fassen, trat einen Schritt vor.
Jetzt! Er musste es jetzt sagen. Alles Warten, Zögern half doch nichts. Kroner schluckte gegen den Fremdkörper in seinem Hals an. Manchmal fiel ihm das Reden so schwer. Da half auch keine noch so ausgeklügelte Handreichung für das Überbringen von Todesnachrichten.
»Wir sind nicht wegen der Schlachtung hier«, sprang Ben seinem Chef bei. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
»Wer isn er?« Das blutige Schlachtmesser ruckte in Bens Richtung, zielte nun auf dessen Nasenspitze.
»Ben Bruhan, ein neuer Kollege.« Kroner hob endlich den Blick. »Und jetzt nimmst das Messer runter. Es stimmt, was er sagt. Wir sind nicht wegen der Sau hier. Es geht um die Sara.«
Augenblicklich wich der Zachlerin jede Farbe aus dem Gesicht. Kroner hatte das in seiner Laufbahn viele Male beobachtet. Wenn die Väter noch nicht ahnten, welche Katastrophe über sie hereinbrechen würde, spürten die Mütter längst, dass bald nichts mehr so sein würde wie zuvor. Die Zachlerin schlug die Hände vors Gesicht, sackte zusammen. Ben eilte ihr zu Hilfe, versuchte, sie zu stützen.
»Der Rechen in Jochenstein … Sara ist tot. Es tut mir sehr leid.« Kroner wusste nicht, wohin mit seinen Augen. Zu schmerzlich war es, mitansehen zu müssen, wie die Nachricht vom Tod der Tochter nun auch dem Vater in die Glieder kroch wie ein Gift, das langsam und unaufhaltsam ein Menschenleben kaputtmachte. »Ich weiß, es ist schwer, aber ihr müsst uns ein paar Fragen beantworten.« Kroner fluchte innerlich. Eigentlich hätte das Kriseninterventionsteam längst hier sein müssen. Er machte einen Schritt auf den jungen Zachler zu, wollte einen Arm um ihn legen, aber Saras Vater stieß ihn weg, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.
Ben sah ihm hinterher: die hohen Gummistiefel, die Metzgerschürze, der typische Topfdeckelhut, den die Bauern hier trugen. Die Szene hätte durchaus komisch sein können – die halb auseinandergehauene Sau, die an einer schräg an die Wand gelehnten Leiter hing und darauf wartete, dass der Zachler sein Werk endlich vollendete, daneben zwei Kübel voller Blut – nichts wurde verschwendet. In verschiedenen Blechschüsseln glänzten Herz, Leber, Lunge, Nieren. Auch der Sautrog stand da, Ketten und Schepser zum Entfernen der Borsten lagen herum. Alles so, wie Ben es vor gar nicht allzu langer Zeit im Dritten Programm gesehen hatte. Manchmal blieb er beim Zappen dort hängen, fand es amüsant, mehr über das bayerische Brauchtum zu erfahren. Nie hätte er gedacht, dass solche Hausschlachtungen tatsächlich noch stattfanden. Immerhin wusste er durch das Fernsehen, dass das Saukopfessen sich mancherorts noch immer großer Beliebtheit erfreute und die Zunge als Delikatesse galt. Das konnte er gerade noch nachvollziehen, aber dass es Leute gab, die ganz wild darauf waren, das noch warme, wabbelige Hirn der Sau mit Eiern zu verquirlen, um es dann mit Zwiebeln herauszubraten und zu verspeisen, da drehte sich ihm der Magen um, dem haftete nach seinem Dafürhalten eindeutig ein Hauch von Hannibal Lecter an.
Der Zachler nahm die Hacke in die Hand und spaltete die Sau mit zwei wuchtigen Hieben mittendurch. Die s-förmigen Haken, die hinter den Sehnen eingehängt waren, rutschten jetzt auf dem schmierigen Holz der Leitersprosse hin und her, ließen die Schweinehälften tanzen.
Die Zachlerin kam langsam wieder auf die Beine, ihr Blick glitt hinüber zu ihrem Mann, sprang schuldbewusst zurück zu Kroner. »Ich bitt Sie, mein Mann … lassen Sie ihm Zeit. Ich werde alle Fragen beantworten. Der Toni … der kann mit so was ned umgehn.« Flehend sah sie die Kommissare an.
Kroner nickte. Sogar jetzt nimmt sie ihn in Schutz, sorgt sich um sein Wohl, stellt ihren eigenen Kummer hintenan, dachte er. So war das bei den Bäuerinnen vom alten Schlag. Alles war wichtiger als die eigenen Befindlichkeiten. Dass es das heute noch gab, hätte selbst Kroner nicht gedacht.
Tränen standen in den braunen Augen der Zachlerin, doch ihre Stimme klang fest, als sie sagte: »Am besten, wir gehn ins Haus.«