9
Das Wohnhaus des Zachlers war genauso heruntergekommen wie der Rest des Hofes. Niemand hatte in letzter Zeit Hand angelegt. Der Putz bröckelte, die kleinen doppelten Sprossenfenster waren fast alle blind, und die Fensterläden hingen schief und verwittert in den Angeln. Bald schon würde das Holz in seine Bestandteile zerbröseln. Verfall, so weit das Auge reichte.
Ben und Kroner mussten sich durch die Haustür hindurchducken. Wie alt mochte sie wohl sein? Waren die Leute vor zwei-, dreihundert Jahren wirklich so klein gewesen?
In der Küche war alles wie früher: die ausladenden Wellen im Linoleumfußboden, weil sich der gestampfte Lehmuntergrund durchdrückte, die durchhängende, rissige Decke, die uralten bunten Küchenbüfetts, wirr durcheinandergewürfelt an die Wand gestellt. Nichts hatte sich in all den Jahren, die seit Kroners letztem Besuch vergangen waren, verändert. Es gab keinen Elektroherd, keinen Kühlschrank, dafür aber eine Speisekammer, die auch im Sommer kalt genug war, und einen Holzofen, mit dem die Zachlerin briet und heizte. Ziemlich sicher war er die einzige Heizquelle im ganzen Haus. Kroners Blick flog zu einem kleinen Schuber an der Zimmerdecke, durch den die warme Küchenluft in die oberen Räume ziehen konnte. Jetzt war der Schuber zu, schließlich wollte im Sommer niemand die Hitze und Gerüche der Küche in der Schlafkammer haben.
Kurz dachte Kroner an das alte Plumpsklo, das die Zachlers zu Zeiten seiner Reitstunden benutzt hatten. Er konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass sie jetzt eine kleine Nasszelle mit Toilette im Haus hatten und nicht mehr bei Wind und Wetter raus aufs Scheißbrett mussten, wie er es früher genannt hatte. Damals war das für ihn ein Spaß gewesen, doch tagtäglich …
Durch die offene Tür zum Wohnzimmer blitzte den Kommissaren die spiegelnde Oberfläche eines Zweiundvierzig-Zoll-Flachbildfernsehers entgegen. Ben registrierte das blaue Blinken eines PCs in der abgedunkelten Stube. Den Sound und die Grafik des laufenden Computerspiels kannte er: Counterstrike. Er hatte viele Stunden seines Lebens damit vergeudet.
Die Zachlerin zischte ein wenig freundliches »Mach leiser, Franzl!« durch den Türspalt, zog die Stubentür zu und wandte sich langsam um. »Dem Toni sein jüngerer Bruder. Der wohnt jetzt bei uns. Hat keine Arbeit und nix als Schmarrn im Hirn. Als ob wir nicht genug eigene Sorgen hätten.« Sie rückte zwei Stühle vom Küchentisch weg und bot den Kommissaren einen Platz an. Sie hatte sich gut unter Kontrolle, lediglich der schleppende Schritt, mit dem sie zum Herd ging, ließ ahnen, was für eine schreckliche Last ihr auf den Schultern lag. Sie schob den Wasserkessel in die Mitte und legte ein Scheit Holz in den Ofen. Die Handgriffe, tausendmal in ihrem Leben ausgeführt, gaben ihr Halt. Warum ist meine Tochter tot? Diese Frage konnte sie nicht stellen – noch lange nicht.
Erst jetzt fiel Kroner auf, dass sich doch etwas in der Küche verändert hatte. Eine Ecke des großen Raumes war mit einem dicken grauen Vorhang abgetrennt worden. Von dort kam ein Geräusch, das Kroner nicht gleich deuten konnte. Erst als Sabine Rieß den Stoff zurückzog und ein Krankenbett zum Vorschein kam, schwante ihm, wer da zwischen zwei Gittern eingesperrt lag: der alte Zachler. Natürlich! Er hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall gehabt und war seither ein Pflegefall.
»Na, Vadder, wie geht’s da? Hast a bissl schlaffa kinna?« Die Zachlerin fuhr ihrem Schwiegervater resolut über die welke Haut der Unterarme und setzte einen Schnabelbecher an seine Lippen. »Der Hannes ist da. Weißt schon, da Bua vom Herrn Kriminaler.« Sie sah sich nach Kroner um, winkte ihn mit einer Handbewegung näher. »Sagen S’ Grüß Gott zum Vaddern. Er hat so selten Besuch.«
Als ob er deshalb hier wäre! Kroner seufzte, stand aber auf und kam näher. Die rechte Hand des Alten hob sich mühsam zum Gruß vom fleckigen Laken, in seinen Augen zeigte sich milchiges Erkennen. Kroner drückte die gebrechlichen Finger und strich über die alte Wange. Seine krebskranke Frau hatte er bis zum Ende gepflegt. Krankheit und Siechtum schreckten ihn nicht ab. Nicht mehr. Trotzdem. Wieso musste er leben und die Sara sterben?
»Umkehrt wär’s gscheiter gwesen«, sagte die Zachlerin, als könnte sie Gedanken lesen. Aus einer abgegriffenen Schachtel zog sie eine Zigarette hervor, die schon einmal angezündet gewesen war, und schnippte das Feuerzeug an. Nach ein, zwei Zügen steckte sie den Glimmstängel dem alten Zachler in den Mund. »Er kann’s halt ned lassn, und was soll’s jetzt noch schaden?«
Kroner fasste Sabine Rieß am Arm. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich weiß, es ist schwer, aber Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten.«
Die Zachlerin nickte, hielt ihrem Schwiegervater noch zwei Mal die Zigarette an die Lippen, drückte sie dann im Aschenbecher aus und ließ sich zum Tisch führen. Mit den Fingernägeln begann sie, die Blumen des Plastiküberzugs nachzufahren, der an allen vier Seiten des Tisches mit Spangen festgeklippt war.
Ben ging zum Herd, goss mit dem Wasser aus dem Kessel den Kaffee auf, wartete, bis die braune Brühe durch den Filter gelaufen war, und brachte dann alles an den Tisch. Handgebrühter Kaffee! Wo gab es so etwas heute noch? Die Milch stand schon da: nicht aus der Packung, sondern naturbelassen und mit einer dicken gelben Rahmschicht obenauf. Ben trank seinen Kaffee heute ausnahmsweise schwarz.
»Sie wollen sicher wissen, wie das passiert ist«, begann Kroner. Normalerweise war das die erste Frage, die die Angehörigen stellten, doch Sara Rieß’ Mutter brachte die Worte nicht über die Lippen, so als könne sie damit deren Endgültigkeit entkräften.
»Valli und Markus haben mir bestätigt, dass Sara ungefähr bis Mitternacht im ›Schloss Ort‹ beim Klassentreffen war. Wenig später muss sie sich schon im Wasser befunden haben. Sie ist wahrscheinlich ertrunken, allerdings hatte sie eine leichtere Verletzung am …« Kroner bremste sich. Falls Saras Tod kein Unglück und auch kein Suizid gewesen war, durfte er keinesfalls mögliches Täterwissen preisgeben. »Wir müssen alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen.«
Die Zachlerin blickte auf. »Sie meinen –«
Kroner unterbrach sie lieber gleich. »Wir meinen gar nichts, aber es gibt einfach verschiedene Möglichkeiten. Können Sie sich vorstellen, dass sich Sara umgebracht hat, dass sie freiwillig …«
»Selbstmord?« Saras Mutter begann, das getrocknete Blut von ihren Händen zu reiben. Es bröselte braun auf den Tisch – wie Kakaopulver.
Ben verkniff sich seinen üblichen Beitrag, wie falsch der geläufige Ausdruck Selbstmord war. Im Nachhinein schämte er sich sogar, dass er Valli gegenüber jegliches Einfühlungsvermögen hatte vermissen lassen.
»Gab es Anzeichen, dass sie ihres Lebens überdrüssig gewesen sein könnte? Warum hat sie so plötzlich mit dem Leistungssport aufgehört?«
Die Zachlerin schüttelte den Kopf, schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Sie war ein gutes Kind. Ist uns von klein auf fleißig zur Hand gegangen, hat immer viel arbeiten müssen. Dem Toni hat des nie gepasst, dass die Sara so viel trainiert hat. Statt dem Training, hat er gsagt, kannst arbeiten auch! Erst als sie einen Titel nach dem andern heimbracht hat, war er stolz auf sie. Nur gsagt hat er’s dem Kind nie. So was bringt der nicht über die Lippen. Des wird ihm jetzt wohl am meisten wehtun, dass er das versäumt hat. Sie war doch unser einziges Kind.«
Kroner atmete tief durch, wiederholte die Frage von vorhin. »Wissen Sie, warum die Sara mit dem Sport aufgehört hat?«
Die Zachlerin überlegte, knetete ihre Finger. »Vielleicht wegen der vielen Arbeit und der Schule? Zuerst hat sie sich im Gymnasium leichtgetan, das war kein Problem. Und wegen uns hätt sie nicht da hingehn müssen, das wollt sie selber. Erst war’s uns ned amal recht, außer ihr niemand da, der den Hof übernimmt. Obwohl, leben kann man davon eh nimmer.«
»Und warum hat sie die Chance auf eine glänzende Karriere weggeworfen?« Kroner erinnerte sich jetzt, dass schon von Olympiateilnahme die Rede gewesen war.
»Mei, wir haben uns den Kopf drüber zerbrochen, des dürfen S’ glauben. Erst war’s dem Toni ja nicht recht, aber dann wollt er sie sogar zwingen, dass s’ wieder hingeht zum Training. Aber da war nichts zu machen. Die Sara konnt richtig stur sein, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte. Der Toni und die Sara …« Sie zögerte, nippte an ihrem Kaffee und sprang plötzlich von der Bank auf. »An Kuchen! Entschuldigen S’, ich hab’s ganz vergessen. Sie mögen bestimmt an Kuchen. Ich hab gestern noch einen gmacht, sonst verfaulen mir die schönen Erdbeeren ja. Wollen S’ ein paar mit heimnehmen vielleicht …«
Kroner drückte die Zachlerin auf die Bank zurück. »Später. Jetzt erzählen Sie erst einmal weiter.«
Gastfreundschaft war Gesetz auf den alten Höfen. Da bekam ein Besuch am Sonn- und Feiertag einen Kuchen, ob er wollte oder nicht. Da war immer etwas Gebackenes im Haus, und das Obst verdarb nicht, das wurde verkocht, verbacken, eingemacht. Darauf war eine Bäuerin stolz, sicher auch die Zachlerin. Vielleicht hätte es ihr ein bisschen Sicherheit zurückgegeben, die Gäste zu bewirten, doch die konnte ihr Kroner jetzt nicht gewähren – noch nicht. »Was war mit Ihrem Mann und der Sara?«
»Der Toni und die Sara sind sich darüber so in die Haar kommen. Rausgschmissn hat er sie sogar, als des mit den Drogen angefangen hat. Das Mädl is ja vollkommen verlottert.« Die Zachlerin barg den Kopf in den Händen. »Fast jede Woche hätt sie ein anders Mannerleid daherbracht. Flitscherl, so hat der Toni die Sara genannt, aber … Ich bin mir sicher, es hat einen Grund gebn dafür. Mir hat s’ nie was gsagt, obwohl … Ich glaub, sie wär froh gwesen, wenn s’ ihren Kummer nur irgendjemand anvertrauen hätt können. Und dann die Schule … Die hat s’ dann auch nimmer gschafft …« Sabine Rieß begann zu weinen, ihr ausgemergelter Körper bebte, ihre mageren Knochen spitzten durch den Kittel. »Wo is sie?«
Kroner wusste nicht gleich, was die Zachlerin meinte.
»Wo ist die Sara jetzt?«
»Wir mussten die Leiche beschlagnahmen. Sie ist auf dem Weg nach München ins Rechtsmedizinische Institut, wo sie untersucht wird. Das ist Routine.«
Die Augen der Mutter weiteten sich vor Schreck. »Die Sara wird aufgschnitten?«
Kroners schlechtes Gewissen ploppte aus großer Tiefe an die Oberfläche seines Bewusstseins. Über den Tisch griff er nach der Hand der Zachlerin. Diese Frau brauchte eine Auszeit, sie hatte gerade vom Tod der einzigen Tochter erfahren. Wie auf ein Stichwort ging die Tür auf, und der Halser Pfarrer eilte mit ausgebreiteten Armen auf die Zachlerin zu und strich ihr übers Haar. Der Fischer war ein guter Notfallseelsorger. Er wusste, dass keine noch so frommen Worte den Schmerz nehmen konnten, dass man zuhören musste, nicht belehren. Kroner war froh, dass er endlich da war.
»Den Toni hab ich draußen getroffen«, sagte der Pfarrer zur Zachlerin. »Er hat mir versprochen, dass er gleich reinkommt, aber er braucht noch ein paar Minuten für sich.«
»Frau Rieß?« Kroner tippte Saras Mutter leicht mit dem Finger an. »Dürften wir uns in Saras Zimmer umsehen?«
Sie nickte. »Die Stiege hinauf, zweite Tür rechts.«
Saras Zimmer unterschied sich vom Rest des Hauses. Sofort fielen Ben die vielen Accessoires auf, die allesamt von Trödelmärkten zu stammen schienen. Jedes Detail passte, griff in ein großes Ganzes, harmonisierte. Das Zimmer war schön, hatte Stil. War dies das Zimmer einer verzweifelten Frau? Einer Suizidentin?
Eine Wandseite war ganz dem Sport gewidmet: Pokale, Medaillen, laminierte Zeitungsausschnitte, Urkunden und Fotos.
»Sie sah nicht aus wie eine Kugelstoßerin«, sagte Ben, der sich ein Foto genauer ansah.
»Das Bild täuscht. In natura konnte man sich als Mann neben ihr durchaus unzulänglich fühlen«, entgegnete Kroner. »Fast eins achtzig groß, achtzig Kilo schwer, unfassbar muskulös.«
»Aber sie war hübsch.« Ben überflog jeden Zeitungsartikel, obwohl er das meiste bereits kannte. Bevor sie zum Hof gefahren waren, hatte er sich über Sara Rieß schlaugemacht. »Das Mädchen hätte es im Sport weit bringen können. 2003 war sie Fünfte bei den Jugendweltmeisterschaften, 2005 Junioreneuropameisterin in Kaunas, Litauen; wenig später folgte die Einberufung in den Bundeskader. Bevor sie dort zum ersten Training antrat, war die Sache schon gelaufen.«
Kroner, der sich gerade durch Saras Schrank wühlte, hielt inne. »Wann hast du das denn recherchiert?«
Ben grinste, zog sein iPhone aus der Tasche und hielt es Kroner entgegen. »Hab die Zeit in der Küche genutzt, als du unter der Dusche warst. Das Netz bietet viele Möglichkeiten, und vielleicht bin ich ja doch der Streber, für den mich das werte Ziehtöchterchen hält.«
»Valli?«
»Wie es aussieht, findet sie mich unerträglich.« Mit einem anderen neuen Chef hätte Ben nie derart offen gesprochen, aber Markus’ Vater war eine Ausnahme. Er flößte Vertrauen ein, brachte Leute mit seiner ruhigen, ausgeglichenen Art zum Reden. Nicht umsonst wurde Kroner im Kommissariat scherzhaft »der Mann, dem Frauen und Männer vertrauen«, genannt. Doch obwohl Ben Kroner schon länger kannte, hatte er nicht vor, sich auf einem persönlichen Sympathievorsprung, den er womöglich hatte, auszuruhen. Seine Freundschaft mit Markus durfte das dienstliche Verhältnis zu dessen Vater nicht aufweichen, nahm er sich vor. In Zukunft würde er sich solche Kommentare verkneifen.
Kroner lachte. »Ja, das Mädl kann ganz schön kratzbürstig sein, aber sie hat’s auch nicht gerade leicht im Leben.«
»Na ja, sicher nicht schwerer als Sara Rieß.«
»Das stimmt allerdings.« Kroner suchte in einer anderen Schublade weiter. Er hoffte, dass Sara irgendwo ein Tagebuch versteckt hatte, dessen Einträge aktuell waren. Bei jungen Frauen standen die Chancen dafür nicht einmal schlecht. Vielleicht fanden sie aber auch Medikamente, Rauschgift oder Hinweise auf einen bisher unbekannten Freund – eine Cyber-Bekanntschaft beispielsweise. »Und noch was«, sagte er, ohne aufzublicken. »Ich wusste, dass du ein Streber bist. Hab in München bei den Kollegen nachgefragt. Die haben mir gesagt, in Sachen Recherche, Wühlen und Ans-Tageslicht-Zerren wärst du unschlagbar. Genau so jemanden brauchen wir hier.«
Ben war baff. Kroner hatte sich über ihn erkundigt? Das war interessant und peinlich zugleich. Er wechselte lieber das Thema. »Doping?«
Falls Kroner Bens promptes Umschwenken überraschte, ließ er sich dies nicht anmerken. »Gibt es dafür Anhaltspunkte?«
Ben lachte auf. »Dafür braucht es keine Anhaltspunkte. Doping ist im Leistungssport allgegenwärtig – viel präsenter, als jeder naive Fernsehzuschauer ahnt«, sagte er verächtlich. »Ein Kumpel von mir war Hammerwerfer. Ähnliche Geschichte wie bei Sara Rieß: Deutscher Meister, Dritter bei der Jugendweltmeisterschaft, ein paar Jahre davor Vize-Junioreneuropameister. Er sollte in den Bundeskader berufen werden, doch bevor das offiziell wurde, hat sich der Bundestrainer höchstpersönlich bei ihm gemeldet und nachgehakt, ob er bereit wäre, auch wirklich alles für seine Karriere zu tun. Hat ihm klipp und klar gesagt, dass er den Bundeskader vergessen kann, wenn er nicht die Mittelchen nimmt, die ihm empfohlen werden.«
»Und?« Kroner saß mittlerweile auf dem Bett und durchsuchte das Nachtkästchen.
»Tom hat ihm eine Abfuhr erteilt, er wollte kein gesundheitliches Risiko eingehen.«
»Vernünftiger Bursche, dieser Tom. Und was ist dann passiert?«
»Der Herr Bundestrainer hat es sich anders überlegt und einen willigeren Schützling ins Nest geholt. Und Tom hat nicht nur seinen Platz im Kader verloren, ihm wurde auch noch die Sportförderung durch die Bundeswehr gestrichen. Damit war er erledigt – sportlich jedenfalls.«
»Was für eine Sauerei! Und da wollen uns die Medien weismachen, Sport wäre sauber. Hat dein Freund den Bundestrainer wenigstens auffliegen lassen?«
Ben schüttelte den Kopf. »Niemand will ein Nestbeschmutzer sein, auch nicht Tom. Der Bundestrainer ist nach wie vor in Amt und Würden.«
Kroner überlegte. »Angenommen, es war bei Sara ähnlich. Vielleicht hat das ja zum Ausstieg aus dem Sport geführt?«
»Ich weiß nicht. Saras Berufung war doch bereits offiziell.«
»Ihre Eltern sollen morgen aufs Kommissariat kommen, vielleicht wissen sie ja mehr darüber. Die Fragerei kann ich ihnen leider nicht ersparen.«
»Hier.« Ben tippte mit dem Zeigefinger auf eines der Fotos. »Siegerehrung nach dem Junioreneuropameistertitel. Sie sieht überglücklich aus.«
»Kein Wunder, oder? Dafür hat sie schließlich trainiert.«
»Ja, aber sieh dir das hier mal an.« Ben zeigte auf ein anderes Foto. »Das kann nicht lange nach dem Titelgewinn gewesen sein.«
Kroner nahm seine Brille aus der Hemdtasche und setzte sie auf. Normalerweise benutzte er sie lediglich zu Hause und im Büro, wenn eine Schrift zu klein war. Ein Wunder, dass er sie überhaupt dabeihatte. »Die Sara neben dem Zankl und der Plenk. Das muss bei der Eintragung ins Ehrenbuch der Stadt gewesen sein. Nur der dritte Bürgermeister fehlt.« Kroner erinnerte sich, dass sogar in ihm so etwas wie Stolz aufgeflammt war, als der Klassenkameradin seines Sohnes diese hohe Ehre zuteilgeworden war. »Aber was soll mir daran auffallen? Sie posiert mit dem Buch vor der Kamera. Na und?« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich finde den Unterschied zwischen den beiden Bildern einfach nur krass«, sagte Ben, auch wenn er sich plötzlich nicht mehr ganz so sicher war. »Sara sieht regelrecht eingefallen aus, lächelt gequält. Von der sprühenden Lebensfreude auf dem anderen Foto keine Spur mehr.«
Kroner kniff die Augen zusammen. »Vielleicht waren die Lichtverhältnisse schlecht, vielleicht hatte sie einen miesen Tag, vielleicht mochte sie den Medienrummel einfach nicht. Ihr Ausdruck könnte viele Ursachen haben, nichts davon muss mit ihrem Tod zusammenhängen.«
»Das stimmt natürlich.« Ben nahm das gerahmte Bild von der Wand. »Irgendetwas ist trotzdem komisch an dieser Aufnahme. Sicher war doch ein professioneller Fotograf dabei. Wieso ist das Bild dann so schief? Es wirkt, als hinge alles auf einer Seite.« Ben drehte den Rahmen um, bog die Halterungen nach außen und nahm das Foto heraus. Das Bild war an einer Seite abgeschnitten worden, die Kante war ungerade.
Kroner sah seinem jungen Mitarbeiter neugierig über die Schulter.
»Wenn ein Bild nicht in den Rahmen passt, schneidet man normalerweise von beiden Seiten den Rand weg, damit die Harmonie der Aufnahme nicht zerstört wird. Hier hat Sara absichtlich jemanden weggeschnitten.«
Kroner rieb sich das Kinn. »Deine Vermutungen sind ein bisschen arg weit hergeholt, aber es braucht nur einen kurzen Besuch im Rathaus, dann wissen wir, wer noch auf dem Foto war. Das kannst du gleich morgen erledigen, deine Wohnung liegt ja quasi direkt um die Ecke.«
Ben nickte und steckte schweigend das Foto in seine Tasche. Wahrscheinlich würde ein Blick in die Weiten des Webs genügen, um zu wissen, wer ursprünglich noch auf dem Foto gewesen war.
Gut eine halbe Stunde später stiegen die Herren Kommissare die hölzerne Treppe wieder hinunter. Jede der ausgetretenen Stufen quietschte in einer anderen Tonart. Die Steinfliesen unten in der Fletz, wie der gepflasterte Flur genannt wurde, waren von Feuchtigkeit überzogen. Kroner wollte gerade seine Hand auf die gusseiserne Klinke zur Küche legen, als ihm die Tür förmlich ins Gesicht flog. Doch es war nicht die Zachlerin, die überrascht den Kopf durch den Spalt hervorschob. Kroner kannte den Mann nicht, und die Fahne, die dieser ihm ins Gesicht blies, ließ ihn für einen Moment die Luft anhalten. Er drehte den Kopf weg, gab den Weg frei, der Mann krachte gegen den Türrahmen, stolperte die drei, vier Schritte zur Haustür und rülpste befreiend, als er sie aufriss. War das der Bruder vom Zachler? Stockbesoffen mitten am Tag?
Die Zachlerin kam aus der Küche und sah die Kommissare kurz an, bevor sie ihrem Schwager nacheilte. »Franzl, jetzt wart halt! Ich hab’s nicht so gemeint. Die Sara ist tot, da kannst nicht auch noch …« Doch weiter kam sie nicht.
Auf einmal stand sie da, die Hex von der Ilz, riss ihre Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. »Was sagst du, Sabine, die Sara is tot? Ich hab mir schon gedacht, warum der Herr Kroner da ist. Wegen der Schlachtung, hätt ich gmeint … Aber freilich, der Herr Hauptkommissar kommt doch nicht wegen einer Schwarzschlachtung, nicht er.« Die Worte quollen aus dem Mund der Frau wie Gehacktes aus einem Fleischwolf.
Kroner schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch, um diesem falschen Fuffziger von Weiberleit nicht an die Gurgel zu gehen. Saras Mutter wollte die neugierige Nachbarin aus der Tür schieben, doch die Schatz gab keinen Zentimeter nach. Solch eine Sensation konnte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Erst als Ben ihr seinen Ausweis unter die Nase hielt und sie höflich darum bat, sofort das Anwesen zu verlassen, zog sie ab. Doch ihre schrille Stimme dröhnte Kroner sogar noch bei geschlossener Tür in den Ohren, als sie dem Franzl hinterherschrie, er solle doch auf sie warten und erzählen, was passiert sei.